Riga - eine Heimstatt für Ideen? Eine historische Etüde
"In den vergangenen zweihundert Jahren ist der Einfluss der Intellektuellen kontinuierlich gewachsen. [..] Erstmals in der Geschichte der Menschheit, und dabei mit steigendem Selbstvertrauen und zunehmender Unverfrorenheit, wollten die Menschen beweisen, dass sie es sind, die fähig sind, gesellschaftliche Missstände zu diagnostizieren und zu kurieren, und dafür lediglich ihres Intellekts bedürfen. Und mehr noch – sie hielten sich für fähig, Formeln zu entwickeln, nach denen nicht nur die Struktur der Gesellschaft, sondern sogar die fundamentalsten Gewohnheiten menschlicher Wesen zum Besseren verändert werden können. Im Unterschied zu ihren klerikalen Vorgängern waren sie (die Intellektuellen) keine Diener und Übersetzer der Götter, sondern deren Stellvertreter. Ihr Held war Prometheus, der den Göttern das Feuer stahl und es auf die Erde brachte."i Soweit Paul Johnson. In der renommierten Routledge Encyclopedia of Philosophy findet sich folgende "Definition" des Intellektuellen, des Überbringers des prometheischen Feuers der Wahrheit: "(Das ist) jeder, der ein ernsthaftes Interesse an der Glaubwürdigkeit und Wahrhaftigkeit von Ideen um dieser Ideen willen hat, unabhängig von deren kausalen Beziehungen zu irgendetwas anderem."ii Über den Platz und die Rolle von Intellektuellen, über das Wesen und die Mission des Intellektualismus lässt sich lang und breit diskutieren (die Intellektuellen tun das selbst auch mit Vergnügen). In der sogenannten entwickelten Welt ist schon seit geraumer Zeit auch vom Postintellektualismus die Rede, wobei hervorgehoben wird, dass das für den Intellektualismus charakteristische persönliche Interesse, die forscherische Gelehrsamkeit, die Suche nach Sinn (Wahrheit) und der soziale Kritizismus mittlerweile abgelöst wurden von Spezialisierung, Ignoranz (durch Informationsüberfluss entstandener Mangel an wahrem Wissen) und Dummheit (angelehnt an Steve Allens Begriff dumbth, der die zunehmende Unfähigkeit der Menschen bezeichnet, sinnvoll zu denken und zu handeln) sowie von einer durch den technologischen Determinismus hervorgerufenen massenhaften Unterordnung unter "offizielle" Werte und einem Mangel an Individualismus. Darüber schreibt zum Beispiel Donald Wood im Buch Post-Intellectualism and the Decline of Democracyiii.
Ich habe hier jedoch nicht die Absicht, dem Druck der Globalisierung nachzugeben und zu verallgemeinern, zu theoretisieren oder zu klassifizieren. Meine Absicht ist weitaus bescheidener: ganz subjektiv zu betrachten, inwiefern es Intellektualismus und Intellektuelle in Riga gibt, einer mittelgroßen Stadt an der Ostseeküste, der Hauptstadt der Republik Lettland. Mir scheint, dass es keinen Grund gibt, von so einem "Konstrukt" wie dem intellektuellen Leben zu sprechen – diese Wortverbindung bedeutet nichts. Einzig von einer "Atmosphäre des Intellektualismus" und ihren Elementen kann die Rede sein. Zunächst lohnt sich jedoch ein Blick in die Wörterbücher. In englischsprachigen Ländern wird in Wörterbüchern oft auch die erste nachgewiesene Verwendung des betreffenden Wortes angeführt. Das Adjektiv "intellektuell", heißt es etwa im Merriam-Webster, wurde bereits im 14. Jahrhundert verwendet und bezeichnete etwas, das mit dem Intellekt oder dessen Gebrauch verbunden ist, etwas, das auf intellektueller Betätigung anstatt auf Emotionen oder Erfahrung beruht. Das gleiche Wörterbuch verortet erstmals 1615 das Substantiv "Intellektueller" als Bezeichnung für eine Person, die die Welt interpretiert und sich dabei auf Studium, Reflexion und gedankliche Spekulation stützt. So seltsam es erscheinen mag, aber im wichtigsten Wörterbuch der lettischen Spracheiv wird auch in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts das Substantiv "Intellektueller" noch nicht aufgeführt. Allerdings schreibt der Sprachwissenschaftler Jānis Endzelīns im Vorwort auch, er habe wenig gebräuchliche Entlehnungen und Fremdwörter aus dem Manuskript gestrichen, da diese nur in ein für bestimmte praktische Bedürfnisse vorgesehenes (? – P.B.) Wörterbuch gehörten. Insgesamt ein sonderbarer Ansatz. In das monumentale achtbändige Wörterbuch der lettischen Literatursprache, mit dessen Herausgabe noch zu tiefsten Zeiten der sowjetischen Okkupation begonnen worden war, wurden dann aber auch "Fremdwörter" aufgenommen. In diesem Wörterbuch ist "Intellekt" die Fähigkeit, Eigenschaften und Zusammenhänge von Objekten und Phänomenen aufzuzeigen und zu untersuchen; die Fähigkeit, unter Einbeziehung der Ergebnisse dieser Untersuchung in einer neuen Situation tätig zu werden.v Gar nicht so schlecht. Ein "Intelektueller" ist hier eine intellektuell tätige Person (z.B. Wissenschaftler, Konstrukteur). Hm… Für "Intellektualismus" wiederum werden zwei Bedeutungen angeboten. Erstens: das Überwiegen rationaler Erkenntnis und theoretischer Ideen, deren Ausdruck (in der Regel in einem künstlerischen Werk). Zweitens: Strömung der idealistischen Philosophie, in der dem Intellekt bei der Erkenntnis der Welt die Hauptbedeutung zukommt, während die Praxis metaphysisch ignoriert wird. Lässt man "Strömung der Philosophie" als Kuriosum außer Acht, dann hängt die Einseitigkeit der übrigen Interpretationen und Erklärungen augenscheinlich damit zusammen, dass in der lettischen Sprache mindestens einhundert Jahre lang unter dem Einfluss des Russischen das Substantiv "inteliģents" (Angehöriger der Intelligenz) gebraucht wurde, das semantisch zum Teil dem im Westen verbreiteten Begriff "Intellektueller" entspricht. Allerdings nur in Teilen. Es ist schon schade, dass die Beispiele in diesem großen Wörterbuch hauptsächlich aus der Literatur der Sowjetzeit stammen, wobei es für den Gebrauch des mich interessierenden Wortes "Intellektueller" überhaupt kein Beispiel gibt. Auf jeden Fall ist klar, dass das Wort und der Begriff "Intellektueller" als Person, die über Wirklichkeit und Wahrheit reflektiert, Schlussfolgerungen zieht und zumindest formal Verantwortung übernimmt, bis in die achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts nur gelegentlich in der lettischen Sprache anzutreffen ist. Und das nicht nur in der Sprache, sondern auch im Bewusstsein und in der individuellen und sozialen Praxis.
Riga wird in schriftlichen Quellen erstmals 1198 erwähnt, als, wie in Heinrichs Livländischer Chronik zu lesen ist, der Bischof von Uexküll, Berthold (Schulte), mit seinen Truppen vor der erwarteten Schlacht gegen den lokalen Stamm, die Liven, an einen Ort bei Riga zurückkehrt.vi Die Schlacht erwies sich für den Bischof als schicksalhaft. Der Bischof, wie es weiter heißt, "war nicht gewandt genug, um sein schnelles Pferd zu zügeln, und geriet in die Menge der Flüchtenden. Zwei von denen (den Liven – P.B.) packten ihn, ein dritter, Imauts mit Namen, durchbohrte ihn von hinten mit einem Speer, und andere rissen ihn in Stücke."vii Wie man sieht, beginnt die Geschichte von Riga mit einem blutigen Konflikt, einem in Wahrheit bestialischen Mord.
Natürlich ist die Vorstellung, dass die Geschichte damit "beginnt", nur eine Fiktion, denn sowohl Imauts der Mörder als auch dessen Sippe und Stamm lebten dort bereits vor dem beschriebenen Ereignis, wie überhaupt vor allen aufgezeichneten Ereignissen im Zusammenhang mit dem Ort Riga, also in der vorgeschichtlichen Zeit. Freilich lassen sich anhand ausgegrabener Pfeilspitzen und Topfscherben über die vorgeschichtliche Zeit Aussagen treffen, aber das ist alles. Scherben zeugen von zerschlagenen Gefäßen, Pfeile und Speere von durchbohrten Leibern. Nicht bezeugt sind in der vorgeschichtlichen Zeit jedoch mögliche Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Denkweisen und weltanschauliche Konflikte.
Die Geschichte von Riga beginnt also im Jahr 1198, und seitdem wurde vieles aufgezeichnet; Texte, diese Erzieher und Nährer des Intellekts, sammeln sich auf Schriftrollen, in Manuskripten, Inkunabeln, Büchern. Rigaer Texte sind überwiegend praktisch-juristische, praktisch-dogmatische oder einfach praktische Texte. An dieser Stelle sollte man an die oft zitierten Zeilen aus der Cosmographia (1544) des Reisenden Sebastian Münster erinnern; es geht um Livland insgesamt und offensichtlich auch um Riga: "Es seind allein die kaufleut und reichen bey jnen in grossen achtung aber die gelerten do nihtsz."viii
Das Verfassen und Verlegen von Büchern (Texten) in der lokalen – lettischen – Sprache begann (wie in vielen anderen europäischen Sprachen) nach der Reformation, wobei es sich gut zwei Jahrhunderte lang hauptsächlich um Texte für den liturgischen Gebrauch handelte, deren Krönung natürlich die um 1690 erschienene Bibel in der Übersetzung von Ernst Glück darstellte. Vor der Reformation waren auf dem Territorium Lettlands für das geschriebene Wort das internationale Latein und ein lokal ausgeprägter mittelniederdeutscher Dialekt in Gebrauch. Die Reformation kann auch als intellektuelle Antwort auf den Traditionalismus und die Emotionalität des Katholizismus betrachtet werden. Natürlich ist in Riga, ebenso wie anderswo in Europa, die Reformation mit dem Bildersturm verbunden, in dem unschätzbare Werte unwiederbringlich zerstört wurden, die sonst den Korpus der mittelalterlichen Kunst Livlands (und des späteren Lettlands) gebildet hätten. In Riga hat es in dieser Umbruchzeit nicht an scharfen verbalen Auseinandersetzungen und an physischer Gewalt gemangelt. Was aber fehlte, war Intellektualismus. Den Vätern der Reformation, Martin Luther und Philipp Melanchthon, war die Bedeutung Rigas und des östlichen Ostseeraums wohl bewusst (offenkundig als Grenzzone des westlichen christlichen Europas – ihre "frontier"). Erhalten sind Luthers Briefwechsel mit Andreas Knöpken, einem der vergleichsweise gemäßigten Epigonen und Anführer der Reformation in Riga, und mit dem Rigaer Ratssekretär Johann Lohmüller sowie Luthers Botschaft an die Stadträte von Riga, Tallinn und Dorpat (Tartu) und andere Dokumente. Dennoch hat diese Korrespondenz offenbar keine ernsthafteren theoretisch-theologischen, moralethischen oder sonstigen Debatten ausgelöst. Diese und andere Zeugnisse bedeuten lediglich, dass die Personen, um die sich damals die Zentren intellektueller Energie bildeten, über eine klare Vorstellung vom Gefüge geopolitischer Einflüsse und von der bedeutenden Position Rigas darin verfügten.
Allerdings war diese Position nicht intellektuell bedeutsam. Davon kann man sich im 16. Jahrhundert genauso wie in den folgenden Jahrhunderten wieder und wieder überzeugen. Riga war und blieb ein vorteilhafter Handelsplatz, eine Zwischenstation im Transit. Darüber ist bereits in dem 1595 in Leipzig erschienenen Ruhmgesang auf Riga des Rigaer Dichters Basilius Plinius zu lesen:
Aber es wäre Sünde, den Markt nicht
lobpreisen zu wollen,
Denn dieser zeichnet Riga vor allen anderen aus.
Temesos, Korinth konnten sich in alten Zeiten ihrer Märkte rühmen,
so nun Lissabon stolz und Kalkutta fern,
das alte Nürnberg wie das mächtige hanseatische Lübeck,
Europas erhabener Mittelpunkt, baltische Perle.
Wenn viele Städte ihrer Märkte wegen gepriesen sind,
so hat der erste und der verdiente Ruhm
Riga zu gelten!ix
In den zitierten Zeilen findet sich vielleicht die Erklärung für den so oft erwähnten Antiintellektualismus Rigas, und zwar im Verweis auf die norddeutsche Stadt Lübeck als "Europas erhabenen Mittelpunkt". Ohne Lübeck herabwürdigen zu wollen, möchte ich dennoch erwähnen, dass diese Stadt zusammen mit Hamburg zu den allerersten Mitgliedern der Hanse gehörte. Aber die Hanse war nichts anderes als nur ein politisches Gebilde zum Schutz der Interessen und Rechte von Kaufleuten. Vielleicht war das ein Zufall, vielleicht auch nicht, aber die Städte der Hanse waren niemals bedeutende Zentren von Bildung, Wissenschaft und Universitäten. Und "Riga war ein getreues Mitglied der Hanse von 1282 bis zum Untergang des Bundes im 17. Jahrhundert"x. Merkantilismus auf der einen Seite, und unzählige Kriege und Epidemien auf der anderen. Hier, ein Auszug aus dem am 1. Januar 1610 in Riga verfassten Brief des katholischen Bischofs Schenking an den Papst: "Die Lage in Livland ist so erbärmlich, dass das Ausmaß des Elends über alle Tränen hinausgeht, eine traurige Überraschung, die bei den Beobachtern und mehr noch bei den Bewertern tiefes Befremden auslöst. Ganze Schlösser und einstmals große Güter (possessiones) sind jetzt verwüstet und mit dichtem Gestrüpp zugewachsen, haben sich in Behausungen für die Tiere des Waldes verwandelt. Von den vielen Bewohnern sind nur wenige am Leben geblieben, und die sind noch bemitleidenswerter als die Toten, denn letztere sind bereits befreit von allen Kümmernissen und Ängsten, während die Lebenden bei jedem leichten Rascheln des Laubes wie Hasen in den Wald flüchten und zitternd die Begegnung mit menschlichen Wesen meiden, voller Angst von Freunden wie von Feinden nichts anderes als ihr Ende erwartend."xi So setzt sich das immer weiter fort. Die nächste Pestepidemie brach 1657 in Riga aus, als "die Hälfte der Ratsherren und alle Priester, drei Lehrer, 53 Zöglinge der Domschule und 18 Gymnasiasten starben"xii. Jedenfalls haben diese Umstände in der Summe dazu geführt, dass 1632 eine Universität in Dorpat (Tartu im heutigen Estland) gegründet wurde und nicht, was logischer gewesen wäre, im größeren Riga, dem damaligen Zentrum der schwedischen Überseeprovinzen. Obwohl die Leitung der Universität Dorpat und Superintendent J. Fischer sogar mehrfach um eine Verlegung der Universität nach Riga ansuchten, lehnte der Rat unserer Stadt dieses Angebot jedes Mal ab (1687, 1693 und 1703). Und so wurde Riga erst nach der Ausrufung der Unabhängigkeit Lettlands 1918 zu einer Universitätsstadt.xiii Es überrascht also nicht, wenn der Physiker G. F. Parrot, der Ende des 18. Jahrhunderts nach Riga gekommen war, das "akademische Klima" der Stadt noch so charakterisierte: "Man kann sich für die Arbeit eines Physikers keine ungünstigeren Bedingungen vorstellen. Abgeschnitten vom gelehrten Europa, lebte ich damals in einer Handelsstadt mit den Tugenden aller bedeutenden, wohlhabenden und komfortablen Städte, jedoch ohne jegliche Liebe zur Physik."xiv Und nicht nur zur Physik. Bezeichnenderweise mangelte es in Riga gleichermaßen am Interesse und an den Voraussetzungen für geisteswissenschaftliche Studien, darunter Philosophie, wie auch für die exakten Wissenschaften. Wie kann es da verwundern, dass noch 1784 – drei Jahre nachdem in Riga (nicht aus besonderem Interesse, sondern aufgrund persönlicher Verbindungen des Autors und des Verlegers) die Erstausgabe von Immanuel Kants Kritik der reinen Vernunft erschienen war – der Rigaer Zolldirektor (sic!) Benken ein Buch publizierte, in dem es hieß, dass die unbewegliche Erde der Mittelpunkt des Universums sei. Bemerkenswerterweise erschien in Lettland die erste ernstzunehmende Abhandlung darüber, dass sich die Erde doch um die Sonne dreht, nicht in der die Kultur dominierenden deutschen Sprache, sondern in der damals noch weitgehend marginalen lettischen Sprache – im 1774 herausgegebenen Buch Augstas gudrības grāmata [dt. Das Buch der hohen Weisheit] von J. G. Stender (der Alte Stender).xv
Unter dem Einfluss der Aufklärung zeigten sich auch auf dem Territorium Lettlands einige für diese Epoche typische Elemente. Als ein solches Element verdient sicherlich der sogenannte Berenssche Kreis Beachtung. Zu diesem gehörten außer dem Ratsherrn J. Ch. Berens und dessen Bruder G. Berens auch J. G. Herder, der Rechtsgelehrte J. Ch. Schwartz, der Domschulrektor J. G. Lindner, J. G. Hamann, der Verleger J. F. Hartknoch, der Arzt N. v. Himsel sowie der wichtigste Vertreter der Aufklärung in der Geschichte Lettlands, Christoph Harder.xvi Unter den "Aufklärern", die einige Zeit später wirkten, ist Garlieb Merkel zu erwähnen, dessen Schaffen und Lebensführung sicherlich der Vorstellung von einem Intellektuellen entspricht. Wahr ist allerdings, dass sein Schaffen, obwohl größtenteils verbunden mit der Enthüllung des Elends der Ständeordnung in Lettland sowie mit einem rousseauschen Drang, das Ideal des natürlichen Menschen im Altertum zu suchen, dennoch die meiste Resonanz in den deutschen Ländern gefunden hat. Wie sich später nicht nur einmal zeigte, war die Atmosphäre in Riga für Merkel und seine Bestrebungen zu dünn – das Verständnis gering, Unterstützung so gut wie nicht vorhanden. Natürlich bildeten sich im 19. Jahrhundert in Riga mehr oder weniger seriöse Gesellschaften von Wissenschaftlern, Apothekern, Ärzten, Juristen usw., auf deren Zusammenkünften es sicherlich auch nicht an intellektuellen Bemühungen mangelte, bis schließlich 1862 das Polytechnikum zu Riga gegründet wurde, eine im Großen und Ganzen solide, naturwissenschaftlich ausgerichtete Bildungseinrichtung, aus der später – im 20. Jahrhundert – die Universität Lettlands hervorging. Mit dem Polytechnikum sind viele anerkannte Wissenschaftler verbunden, darunter auch der spätere Nobelpreisträger Wilhelm Ostwald.
Das Vorhandensein von Bildungseinrichtungen und eines akademischen Milieus ist natürlich eine Voraussetzung für ein ernstzunehmendes intellektuelles Klima. Jedoch bei Weitem nicht die einzige. Zweifellos wirkt sich die Präsenz einer Universität stimulierend auf eine Stadt aus; eine alte und von allerlei, mitunter sogar merkwürdigen Traditionen überquellende Universität beeinflusst die Verhaltensweisen und Denkgewohnheiten von Teilen der Einwohner der entsprechenden Stadt. Deshalb hat allein schon die Tatsache, dass in Riga die Universität (zunächst als Latvijas Augstskola [dt. Hochschule Lettlands]) erst am 28. September 1919 gegründet wurde, eine "negative Tragweite" – es gibt keine durch Traditionen und Gewohnheiten gefestigten Einflüsse. Allerdings erstreckt sich die Geschichte der Universität Lettlands ihrem früherem Rektor Juris Zaķis zufolge "über recht widersprüchliche Zeitepochen hinweg. Erkennbar war dabei immer das mehr oder weniger offene, mehr oder weniger bewusste Wirken für Lettland und sein Volk, denn ihr wurde der Auftrag in die Wiege gelegt, die erste lettischsprachige Universität klassischen Typs zu sein. Und das war sie die ganze Zeit und ist es noch heute als einzige Universität dieser Art weltweit."xvii Diese hier zitierte Behauptung ist ideologisch, aber das ist die Universität Lettlands seit ihrer Gründung auch. Und dieser Umstand muss auch kein Hindernis für die Herausbildung des Intellektualismus sein. Nach Beispielen muss man nicht lange suchen: Die meisten diskursiven Klischees und Themen der Intellektuellen im heutigen Europa stammen aus dem radikal ideologisierten Hochschulmilieu der sechziger Jahre mit all seinem Pseudorevolutionarismus. Es spielt keine Rolle, dass es dabei um völlig unterschiedliche "Ideologien" aus verschiedenen Schubladen geht. Die Grundlage des Intellektualismus bleibt die geistige Tätigkeit in bestimmten Kontexten. Dafür braucht es erstens Texte. Zweitens ist die Reflexion über diese Texte wesentlich. Drittens und vornehmlich ist der Intellektuelle, ist intellektuelles Tun nicht möglich ohne Ideen, die sowohl spontan sein und neue Texte hervorbringen, als auch im Ergebnis einer Reflexion über bereits vorhandene Texte formuliert sein (und die nächsten Texte hervorbringen) können (und so ist es!). Hier ergibt sich für mich eine Übereinstimmung mit einem Gedanken des in London tätigen Philosophen Alexander Piatigorsky, den er vor ein paar Jahren in Riga bei einer Vorlesung über Buddhismus äußerte. Demnach ist die "Einheit" (das Grundelement) des europäischen Philosophierens die Idee: "Ideen sind in der (europäischen) Philosophie nicht nur zu beschreibende Bestandteile eines philosophischen Systems, Ziegelsteine, aus denen das Gebäude der philosophischen Lehre errichtet wird, sondern – und das ist viel wichtiger – sie bilden den eigentlichen Raum des Philosophierens."xviii Setzt man diesen Gedanken fort und kehrt dabei zurück zu der am Anfang dieses Textes angeführten "Definition" des Intellektuellen – jeder, der ein ernsthaftes Interesse an der Glaubwürdigkeit und Wahrhaftigkeit von Ideen um dieser Ideen willen hat, unabhängig von deren kausalen Beziehungen zu irgendetwas anderem – dann muss man zwangsläufig erkennen, dass die Existenz eines Intellektuellen dort möglich ist, wo es Ideen respektive einen Raum des Philosophierens gibt. Deshalb ist es wichtig zu fragen, ob es im geometrischen, geografischen und sozialen Raum einer konkreten Stadt auch den philosophischen Raum, ob es Ideen gibt.
So gesehen ist der bedeutendste mit Riga verbundene Intellektuelle wahrscheinlich der von mir bereits erwähnte Johann Georg Hamann (1730-1788), der von den gebildeten Rigaer Kaufmannsbrüdern Berens gefördert wurde und auch als "Magus des Nordens" bekannt war. In Isaiah Berlins bekanntem Essayxix findet sich eine detaillierte Beschreibung von Hamanns Leben und Wirken, deshalb werde ich mich damit nicht aufhalten. Berlin schreibt: "Hamann ist der Pionier des Antirationalismus auf jedwedem Gebiet. … Wo immer die Hydra von Vernunft, Theorie, Verallgemeinerung einen ihrer vielen abscheulichen Köpfe hebt, da schlägt er zu. Er verfügte über ein Arsenal, aus dem gemäßigtere Romantiker – Herder etwa, ja ein so kühler Kopf wie der junge Goethe oder Hegel, der eine lange, nicht allzu freundliche Besprechung über Hamanns Werke schrieb, auch der bedachtsame Humboldt und seine liberalen Gesinnungsgenossen – einige ihrer wirkungsvollsten Waffen bezogen. Hamann ist der vergessene Ursprung einer Bewegung, die schließlich die ganze europäische Kultur überschwemmte."xx Dank Berlin wurde Hamann dem Vergessen entrissen und präzise als einer der Grundpfeiler des intellektuellen europäischen Diskurses "positioniert", und das ungeachtet der Tatsache, dass sein Pathos eher auf Irrationalismus beruhte, auf der Ablehnung vernunftgeleiteter intellektueller Schlussfolgerungen. Dieser sonderbare Mann, der während einer erfolglosen "Dienstreise" in London zur Erleuchtung gelangte, las Seite für Seite die gesamte Bibel durch und dokumentierte dabei in Anmerkungen seine spirituelle Reise. Und der dann meisterhaft und mit großer Überzeugung gegen eines der Paradigmen der europäischen Kultur ankämpfte und dadurch für ein anderes die Voraussetzungen schuf. Leider wurde Riga – die für Hamanns physisches Leben wichtigste Stadt – weder zu seinen Lebzeiten noch später zu einem bedeutsamen Ort der Auseinandersetzung zwischen Aufklärung und Romantik; diese Auseinandersetzung spielte sich ganz woanders ab.
Hamanns Schüler an der Königsberger Universität war ein anderer, eng mit Riga verbundener Schöpfer europäischer Ideen: Johann Gottfried Herder (1744-1803). Über ihn heißt es mitunter, er sei die zentrale Figur der intellektuellen Renaissance in Deutschland Ende des 18. Jahrhunderts gewesen. Und Herders Einfluss war tatsächlich immens. In Lettland wird er traditionellerweise für seine Wertschätzung der lettischen Volkslieder und in gewissem Sinne als Fürsprecher des in die Leibeigenschaft gezwungenen lettischen Volkes gerühmt. Breiter betrachtet, gehen überhaupt die Vorstellungen von einem modernen Nationalismus auf Herder zurück, und mit seinen ernstzunehmenden philosophischen Arbeiten hat er einen wesentlichen Einfluss auf Goethe, Schelling und Hegel ausgeübt. In Bezug auf den Nationalismus ist jedoch zu sagen, dass linksgerichtete westliche Intellektuelle in Herders Erbe heute etwas ganz anderes sehen: "Herder, dieser europäische Geist, sorgte sich um nationale Kulturen mit dem Wunsch, deren Eigentümlichkeiten zu erkennen, und ohne Nationalismus zu beabsichtigen."xxi Wie dem auch sei, von den für die europäische philosophische Tradition bedeutenden Denkern hat es Herder am längsten in Riga ausgehalten – die ersten fünf Arbeitsjahre nach dem Abschluss der Universität. Neun Jahre nachdem er Riga verlassen hatte, schrieb Herder über diese Zeit an seinen Studienfreund, den Verleger Hartknoch: "Das waren Deine und meine besten Jahre. [..] In Livland lebte, studierte, handelte ich so frei und ungebunden, wie ich kaum jemals wieder werde leben, studieren, handeln können."xxii Dennoch schwand die anfängliche Begeisterung, wie in dem während der Abreise aus Riga entstandenen Journal meiner Reise im Jahr 1769 zu lesen ist: "So kam ich nach Riga, so in mein geistliches Amt und so ward ich deßelben los; so ging ich auf Reisen. Ich gefiel mir nicht, als Gesellschafter weder, in dem Kraise, da ich war; noch in der Ausschließung, die ich mir gegeben hatte. Ich gefiel mir nicht als Schullehrer [..]. Ich gefiel mir nicht, als Bürger [..]. Am wenigsten endlich als Autor [..]. Alles also war mir zuwider. Muth und Kräfte gnug hatte ich nicht, alle diese Mißsituationen zu zerstören, und mich ganz in eine andre Laufbahn hineinzuschwingen. Ich muste also reisen."xxiii Im gewissen Sinne kann Herder sogar als Denker des 21. Jahrhunderts gesehen werden. In seinen Briefen zu Beförderung der Humanität gibt es die nahezu prophetischen Zeilen: "Alle Ihre Fragen uͤber den Fortgang unſres Geſchlechts, die eigentlich ein Buch erforderten, beantwortet, wie mich duͤnkt, ein einziges Wort, Humanitaͤt, Menſchheit. Waͤre die Frage: ob der Menſch mehr als Menſch, ein Ueber- ein Außermenſch werden koͤnne und ſolle? ſo waͤre jede Zeile zu viel, die man deßhalb ſchriebe."xxiv Tatsächlich gibt es zahlreiche Äußerungen darüber, dass nach dem 20. Jahrhundert, das durch den von Nietzsche postulierten Tod Gottes geprägt war, das 21. Jahrhundert eine Art Renaissance des "Geistes", eine Zeit des Steinesammelns erleben wird. Deshalb ist es umso trauriger, dass Herder, der in diesem Jahrhundert wahrscheinlich ziemlich nützlich sein wird, der auf Lettisch lesenden Gesellschaft bis 1995 (sic!) unbekannt war, sie ihn seltsamerweise gar nicht nötig hatte. Und abermals müssen wir wieder auf das antiintellektuelle Klima Rigas zurückkommen, das nicht nur die Denker des 18. Jahrhunderts, sondern auch die nachfolgenden Generationen erfahren haben. Richard Wagner, der nicht nur ein herausragender Musiker, Komponist und Dirigent, sondern auch ein tiefsinniger Denker war, lebte und arbeitete von 1837 bis 1839 in Riga und schrieb nach seiner Abreise: "Riga verließ ich gleichgültig und still, also mit den gleichen Gefühlen, die auch Riga mir gegenüber gezeigt hatte."xxv Eine bezeichnende Charakterisierung Rigas findet sich in den 1894 erschienenen Memoiren von Sergej Filippow Unter sommerlichem Himmel: "…diese ewige Ernsthaftigkeit, die sich in jeder Kleinigkeit des Alltags offenbart, schafft in Riga wie überall in dieser Provinz eine Langeweile, die Sie ziemlich schnell verspüren werden, sobald Sie eine Weile in dieser Stadt verbringen und sich umschauen. Riga versteht es nicht, sich zu freuen, und kennt scheinbar weder ein Lächeln noch ein Lachen. Wie in Parks und Theatern, so sind auch auf Straßen und in Wohnungen alle ernst, alle sind beflissen. Alles wird geruhsam und würdevoll erledigt, in der Menge wie in den Einzelnen ist das Fehlen jeglichen Temperaments zu spüren. Verständlich, weshalb es hier kein gesellschaftliches Leben gibt, noch nicht einmal ein Straßenleben, obwohl die Stadt an sich wie dafür geschaffen ist. In Riga gibt es nur das Geschäftsleben. Es ist eine Handelsstadt, in der die Intelligenz so gut wie nicht präsent ist, und das örtliche Polytechnikum macht lediglich durch die unterschiedlichen Studentenkorporationen auf sich aufmerksam und durch nichts sonst. Als Einrichtung für höhere Bildung hat es keinerlei Einfluss auf die Stadt, auch wenn dessen Studenten mit ihren bunten Kappen ins Auge fallen. Übrigens, auch am Polytechnikum herrscht eine nationale Abgrenzung und verhindert die Herausbildung eines gemeinschaftlichen Lebens, genauso wie in der Stadt aus diesem Grund die Entwicklung des gesellschaftlichen Lebens gehemmt wird."xxvi
Die komplizierten Beziehungen zwischen den Nationalitäten sind auf dem Territorium des heutigen Lettlands im Allgemeinen und in Riga im Besonderen seit Anfang des 13. Jahrhunderts ein wesentlicher gesellschaftlicher Faktor. Und möglicherweise haben sie tatsächlich im großen Maße (zusammen mit den von den geopolitischen Bedingungen diktierten Geschäftspraktiken) als Katalysator für die allgemein unbestrittene Verdichtung der antiintellektuellen Atmosphäre gedient. Andrejs Johansons schreibt in seiner monumentalen Forschungsarbeit: "Während unter den Deutschen des Baltikums im 18. Jahrhundert, obgleich nur in vergleichsweise engen Kreisen, unbestreitbar ein wissenschaftliches Interesse zu konstatieren ist, konnten sich Letten wissenschaftlicher Tätigkeit nur zuwenden, indem sie sich germanisierten – anders war das unter den damaligen Verhältnissen überhaupt nicht denkbar. Und auch das galt nur für einzelne, besonders fähige Personen unter günstigen Umständen."xxvii Hier ist kein Platz, um die Dynamik der Beziehungen zwischen Letten und Deutschen in Riga im Laufe der Jahrhunderte detailliert zu betrachten. Anzumerken ist lediglich, dass in jenem 18. Jahrhundert – gleich nach dem Großen Nordischen Krieg, in dem Schweden eine Niederlage erlitt – noch ein dritter Spieler das "Spielfeld" betrat: Russland. Riga wurde zur Gouvernementsstadt und erlebte im 19. Jahrhundert eine umfassende Russifizierungspolitik, der es, zumindest anfangs, nicht an Zustimmung auch unter den gebildeteren oder nach Bildung dürstenden Letten mangelte, die damit offensichtlich ihren Protest gegen die bisherige Germanisierung ausdrückten. Denn wie selbst in russischen Quellen zu lesen ist, "erst viel später, etwa zehn Jahre nach Beginn der Russifizierung, hatte der fortschrittlichere Teil der lettischen Intelligenz verstanden, dass eine Russifizierung der Ostseeprovinzen ihren ureigensten vitalen Interessen widerspricht, weil sich dadurch unüberwindbare Hürden für die nationale und politische Entwicklung [der lettischen Nation] herausbilden."xxviii
Es ist kein Wunder, dass die Frage der nationalen Beziehungen in der Republik Lettland heute nicht nur ein Objekt theoretischer, intellektueller Diskussionen, sondern auch in der Tagespolitik ein heißes Thema ist. Der Historiker Aivars Stranga geht sogar so weit zu sagen, dass "diese Frage noch nie so brennend und schicksalhaft war"xxix, und weist darauf hin, dass die sogenannten Minderheiten (ausgenommen die Juden) in Lettland stets als herrschende Nationen (Deutsche, Russen) lebten, mit den "Müttern" ihrer Nationen gleich nebenan. Die unmittelbare ethnische Bedrohung, in deren Schatten die Letten faktisch jahrhundertelang gelebt haben, hat einerseits zu Eskapismus geführt und andererseits möglicherweise auch den Antiintellektualismus als Reaktion auf den Intellektualismus stimuliert, der insgesamt für kosmopolitisch gehalten wurde. So schrieb Raitis Vilciņš, ein Intellektueller des ausgehenden 20. Jahrhunderts und zu früh verstorbener origineller Denker: "In vielerlei Hinsicht ist der Lette einsamer als der Insel-Engländer und stärker von äußeren Einflüssen abgeschlossen als der Mauer-Chinese. Trotzdem strebt er über Grenzen hinweg, will am Leben in der Gemeinschaft der gesamten Menschheit teilhaben. Schwer traumatisiert von den westeuropäischen Aggressoren und Kolonisatoren des Mittelalters, wählt der Lette im Wesentlichen bereits während des Ersten Erwachens (Mitte des 19. Jahrhunderts, als die erste Handvoll lettisch denkender Intellektueller in Erscheinung trat – P.B.) dennoch eine europazentrierte Orientierung innerhalb des Russischen Imperiums, das wiederum weder richtig Europa noch ganz Asien war, sondern eher die Grundzüge eines vieldeutigen Aziopa verkörperte. Der Lette muss lernen, die menschlichen Mechanismen der Wahrnehmung und Bewertung von Kontakten zwischen Kulturen und Völkern kritisch und unmittelbar zu regulieren und zu korrigieren."xxx Menschliche Mechanismen regulieren und korrigieren – eine sonderbare Aussage, die Vilciņš möglicherweise gar nicht beabsichtigt hatte. Diese Aussage lässt sich vielleicht aber auch so lesen, dass der Lette im intellektuellen Diskurs mit der Rolle eines Türstehers (Portier) nicht nur zufrieden ist, sondern diese Rolle sogar bewusst anstrebt. Als würde er darauf anspielen, dass die Ideen, aus denen sich die diskursiven Praktiken speisen, irgendwo außerhalb entstehen, vor der Tür, die der Lette, nun zum Objekt dieser Praxis geworden, auf- und zumacht. Natürlich kann man beim Öffnen und Schließen der Tür allerhand mitbekommen; verfällt man aber in eine Routine, bleibt vieles auch unbemerkt. Vermutlich ist genau das der Grund, weshalb nichtlettische Denker, die in Riga mit ihren recht originellen philosophischen Systemen an die Öffentlichkeit traten, in der breiteren lettischen Gesellschaft keinerlei Eindruck hinterließen. Zu erwähnen wäre hier Kallistrat Žakov, dessen postulierte Philosophie des Limitismus nahezu alles in einer einheitlichen Theorie zusammenzufassen versuchte, angefangen von der Erkenntnistheorie und der Methodologie der philosophischen Unterweisung bis hin zur ethischen Problematik der Weltbetrachtung sowie zu soziologischen und wirtschaftlichen Fragen. Natürlich kann man Žakov als marginalen Sonderling betrachten, dessen Postulate keinen Eingang in die theoretisch ausgearbeitete Metawissenschaft gefunden haben, aber in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts, als er in Riga wirkte, hätten die Ideen dieses Denkers hinreichend interessante und vielleicht auch produktive Diskussionen hervorrufen können, wenn es hier ein Bedürfnis nach solchen Diskussionen gegeben hätte. Das gleiche lässt sich von einem anderen originellen Denker sagen – Aleksandr Veideman, dessen Untersuchungen im Bereich des Panentheismus ebenso ohne jegliche wissenschaftliche Resonanz in der Rigaer Gesellschaft blieben und später völlig in Vergessenheit gerieten. Heute sind die Namen und Werke dieser und anderer russischsprachiger Intellektueller dank den Bemühungen der zeitgenössischen Philosophin Svetlana Kovaļčuka immerhin als Erscheinungen einer wichtigen Zeitepoche festgehaltenxxxi, wenngleich sie im intellektuellen Leben Rigas keine Rolle spielen und sicher auch niemals spielen werden, denn das haben sie bereits zu ihrer Zeit nicht getan. Genauso ist es nur noch für die Kunstgeschichte von Belang, dass es vor dem 2. Weltkrieg in Riga (in der russischsprachigen Gemeinschaft, fast ohne Berührung zum lettischsprachigen Geistesleben) einen lebhaften Diskurs zur Psychoanalyse gab, worüber der zeitgenössische lettische Philosoph Igors Šuvajevs eine Studie angefertigt hat, die zur Veröffentlichung vorliegt. Sicherlich waren für den Einen (und Anderen) auch die Momente von Bedeutung, als in Riga wiederholt die herausragenden russischen Philosophen N. Berdjaev, S. Frank, S. Bulgakov, V. Zen'kovskij und G. Florovskij – die gesamte in der Emigration lebende Elite der russischen Religionsphilosophie – zu Gast waren und O. Spengler, M. Heidegger und andere europäische Größen Vorlesungen hielten. Leider hatte dies alles keinerlei wahrnehmbaren Einfluss auf das lettischsprachige Geistesleben, dessen Glanzpunkt das Schaffen des Phänomenologen Teodors Celms gewesen zu sein scheint (der sehr wohl in der zweiten oder dritten Reihe der Husserl-Schüler eingeordnet werden kann, was natürlich aller Ehren wert ist).
Mit der Wiederherstellung der Unabhängigkeit der Republik Lettland 1991 übernahmen die lettische Gesellschaft insgesamt und ihre latent schlummernden Intellektuellen das denkbar Schlechteste aus der Hinterlassenschaft des Sowjetregimes: den unter sowjetischen Verhältnissen über ein halbes Jahrhundert (somit in mehrere Generationen) eingepflanzten Traum von der "Zukunftssicherheit" – die ruhige, träge Überzeugung, dass der morgige Tag ungeachtet aller Stumpfsinnigkeit, aller Armseligkeit und aller Unterordnung unter die Zensur genauso anbrechen wird wie der heutige: mit einem erbärmlichen, vielleicht sogar absurden Job, einem erbärmlichen Gehalt, erbärmlichen Vergnügungen und einem erbärmlichen Abglanz der weitgehend mythologisierten "freien Welt" auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs. Mit dem Zusammenbruch des totalitären Regimes, als sich der Einzelne plötzlich in einer Situation der Verantwortung wiederfand und zum Subjekt seiner eigenen Zukunft wurde, entstand ein für ganz Mittel- und Osteuropa charakteristischer Sog zwischen der nun bereits zur Vergangenheit gehörenden "Zukunftssicherheit" und der in Echtzeit ablaufenden Gegenwart. Und das lässt sehr viele Menschen sich an ihrem Land festhalten, um ihre Identität (ihr "Ich") zu bewahren. Dadurch werden die gängigen Voraussetzungen für nationalistische und in mancher Hinsicht sogar faschistische Diskurse in den sogenannten Transformationsgesellschaften geschaffen. Das Verschwinden von Grenzen und Vorurteilen schafft wiederum in den aktiveren und besser gestellten Milieus die ebenso gängigen Voraussetzungen für verschiedene, nicht selten epigonenhafte oder sogar plagiatorische Diskurse über Multikulturalismus, Globalismus (Antiglobalismus) und ähnliches. Begünstigt wird Letzteres durch eine Flut bislang unbekannter theoretischer Texte der Moderne und der Postmoderne im lokalsprachigen (in diesem Falle lettischsprachigen) Umfeld und deren hastiges, chaotisches und oberflächliches Eindringen in das Denken.
Die radikale Existenz der neuen Staaten und deren deklarativer Drang in die Europäische Union sind unbestreitbar eine Herausforderung für den bisherigen Europäismus und den beschränkten, snobistischen und verdeckt nationalistischen Eurozentrismus der "alten" Staaten. Genauso ist das aber auch eine Herausforderung für die illusorischen Vorstellungen dieser neuen Staaten und ihre traditionell möglichen Denk- und Wertemodelle.
Riga, diese von kleinbürgerlichem deutschen Geist und provinziellem russischen Imperialismus durchtränkte Stadt, nach einem halben Jahrhundert Lethargie nun wieder die Hauptstadt eines deklariert lettischen und international anerkannten Staates, ist geopolitisch das dynamische Zentrum einer größeren Region an der Ostseeküste. In gewisser Weise ist Riga genauso wie Anfang des 19. Jahrhunderts (vor der industriellen Revolution) eine Stadt der "Köchinnen und Krämer" – ein Zentrum des Handels, des Transits und dergleichen. Allerdings sind wir nun am Beginn des 21. Jahrhunderts, und die Köchinnen und Krämer haben sich in die internationale Arbeitsteilung integriert. Ob aus politischen oder aus anderen Gründen – die Plätze für den Handel sind ebenso wie Sitzplätze und Schlafplätze in Riga teuer. Das schafft interessanten Stoff für Betrachtungen, Überlegungen und Unterhaltungen. Anfangs natürlich auf ganz primitivem Niveau. Aber man sollte sich noch einmal an Raitis Vilciņš erinnern: "Der Lette muss lernen, die menschlichen Mechanismen der Wahrnehmung und Bewertung von Kontakten zwischen Kulturen und Völkern kritisch und unmittelbar zu regulieren und zu korrigieren". Der Imperativ dieser Aussage ist entscheidend, ist für sich genommen eine Herausforderung: eine Einladung zu einem möglichen Intellektualismus mit allen sich daraus ergebenden negativen Folgen.
1 Johnson, P. Intellectuals. – New York, Harper Perennial, 1990. – S. 1-2.
2 Montefiore, A. Responsibilities of Scientists an Intellectuals // Routledge Encyclopedia of Philosophy. General Editor
E. Craig. – London and New York: Routledge, 1998. – Vol. 8. – S. 288
3 Wood, D. N., Postman, N. (preface). Post-Intellectualism and the Decline of Democracy. – New York. Praeger
Publishing, 1997.
4 K. Milenbacha Latviešu valodas vārdnīca / Rediģējis, papildinājis, turpinājis J. Endzelīns. – Riga: Izglītības ministrija.
1923-1925. [K. Mühlenbachs lettisch-deutsches Wörterbuch. Redigiert, ergänzt und fortgesetzt von J. Endzelīns.]
5 Latviešu literārās valodas vārdnīca 8 sēj. – Riga: Zinātne, 1975. – Bd. 3. – S. 466. [Lettisches literarisches
Wörterbuch in 8 Bd.]
6 "Ergo cum exercitu ad locum Rige revertitur et cum suis quid agat consiliatur". – Indriķa hronika. Tulk. Ā. Feldhūns,
Ē. Mugurēviča priekšv. un koment. – Riga: Zinātne, 1993. – II, 4. – S. 54. [Heinrichs Livländische Chronik]
7 ebenda – S.55.
8 Zitiert nach: Stradiņš, J. Etīdes par Latvijas zinātņu pagātni. – Riga: Zinātne, 1982. – S. 16-17. [Etüden zur
Wissenschaftsgeschichte Lettlands]
9 Bazilija Plinija Slavas dziesma Rigai. – Riga: Latvijas kulturas fonds; Jumava, 1997. – S. 137 [Basilius Plinius. Der
Ruhmgesang auf Riga]
10 Zanders, O. Senās Rīgas grāmatniecība un kultūra Hanzas pilsētu kopsakarā (13.-17. gs). – Riga: Zinātne, 2000. – S.
89. [Buchwesen und Kultur des alten Riga im Kontext der Hansestädte (13.-17. Jhd.)]
11 Zitiert nach: Spekke, A. Latvieši un Livonija 16. gs. – Riga: Zinātne, 1995. – S. 137. [Die Letten und Livland im 16. Jhd.]
12 Staris, A. Skolas un izglītība Rīgā: no sendienām līdz 1944. Gadam. – Lielvārde: Lielvārds, 2000. – S. 19. [Schulen und Bildung in Riga: von den Anfängen bis 1944]
13 Stradinnš, J. Etīdes par Latvijas zinātnnu pagātni. – Riga: Zinātne, 1982. – S. 17. [Etüden zur Wissenschaftsgeschichte
Lettlands]
14 ebenda
15 Stradinnš, J. Lielā zinātnes pasaule un mēs. – Riga: Zinātne, 1980. – S. 36. [Die große Welt der Wissenschaft und wir]
16 Apīnis, A. Soļi senākās latviešu grāmatniecības un kultūras takās. – Riga: Preses nams, 2000. – S. 76. [Schritte auf den ältesten Pfaden des lettischen Buchwesens und der lettischen Kultur]
17 Latvijas Universitātei – 80. – Latvijas Universitāte, 1999. – S. 9. [80 Jahre Universität Lettlands]
18 Piatigorsky, A. Lekcii po budisstskoj filosofii // Filosofija na troih: Rižskije čtenija 1. – Riga: RaKa, 2000.- S. 314-315. [Lektionen über buddhistische Philosophie]
19 Berlin, I. The Magus of the North: J. G. Hamann and the Origins of Modern Irrationalism. – London: Fontana Press,
1994
20 ebenda S. 4. [i. d. Übers. zitiert nach Berlin, Isaiah: Der Magus in Norden. Johann Georg Hamann und der Ursprung
des modernen Irrationalismus. Berlin, 1995. S. 26.]
21 Šmids, V. Dzīves māksla - izaicinājums tagadnei. – Aizkraukle : Krauklītis, 1996. – S. 19. [Schmid, Wilhelm: Die Kunst des Lebens - eine Herausforderung an die Gegenwart]
22 Herders, J. G. Darbu izlase. – Riga: Zvaigzne ABC, 1955. – S. 15. [Herder, Johann Gottfried: Ausgewählte Werke]
23 ebenda S. 51. [i. d. Übers. zitiert nach Herder, Johann Gottfried von: Journal meiner Reise im Jahr 1769. In Projekt
Gutenberg-DE <https://www.projekt-gutenberg.org/herder/jour1769/jour1769.html>, abgerufen am 10.06.2021]
24 ebenda S. 131. [i. d. Übers. zitiert nach Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 2.
Riga, 1793, S. 106. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet02_1793/111>,
abgerufen am 10.06.2021]
25 zitiert nach: Ot Liflandii - k Latvii. Pribaltika russkimi glazami / Sostavil J. Abizov. – Moskau: Arkajur, 1993. – S. 258. [Von Livland bis Lettland. Das Baltikum aus russischer Sicht]
26 ebenda S. 131. [Original: Filipov, Sergej: Pod letnim nebom. Vstre i i vpe atlenija. Moskau, 1894]
27 Johansons, A. Latvijas kultūras vēsture 1710-1800. – Stockholm: Daugava, 1975. – S. 234-235. [Kulturgeschichte
Lettlands 1710-1800]
28 Ern, F. A. 40 let žizni russkogo intelligenta // Ot Liflandii - k Latvii. Pribaltika russkimi glazami. – S. 223. [40 Lebensjahre eines russischen Intellektuellen]
29 Stranga, A. Latvija 20. gadsimtā // Sarunas: Lekcijas un diskusijas Sabiedriskā izglītības fonda Jaunā akadēmija vasaras nometnē Gaujienā 1999. gadā / Sast. H. Demakova. – Riga: Jaunā akadēmija, 2000. – S. 23. [Lettland im 20. Jahrhundert]
30 Vilciņš, R. Uzņēmīgā latviešu cilvēka kultūrantropoloģiskais veidols // Acta Universitatis Latviensis. Rīgas kultūrvide 19. Gadsimtā. A. Deglava romāns "Rīga". Sast. I. Kalniņa. – Rīga: Pētergailis, 1999. – S. 138. [Die kulturanthropologische Gestalt des unternehmerischen Letten]
31 Koval'čuk, S. "Vziskuja istinu…" (Iz istorii russkoj religioznoj, filosofskoj i obšestvenno-politieskoj mysli v Latvii: Ju. F. Samarin, E. V. Češihin, K. F. Žakov, A. V. Vejdeman. Seredina XIX v. – seredina XX v.) – Riga: Institut filosofii i sociologii Latvijskogo Universiteta, 1998. [Aus der Geschichte der russischen religiösen, philosophischen und gesellschaftspolitischen Ideen in Lettland: Samarin, Češihin, Žakov, Vejdeman. Mitte d. XIX. – Mitte d. XX Jhd.]