Erstes Buch

Abends bewahrt der Sand lange die Wärme. Es ist schon längst dunkel, doch meine nackten Fußsohlen berühren noch immer die Sonne. Ich gehe gern über den dunklen körnigen Sand. Meine Fußabdrücke sind nicht mehr zu sehen. Vielleicht sind hier niemals Menschenmassen entlanggetrampelt, vielleicht sind über diesen Strand nur wilde Mustangs getrabt oder ein Riesenkrake ist aus dem Meer gekrochen, um seine Fangarme auszustrecken. Jetzt schläft der Krake noch, hier in der Untiefe, sein Atem ist es, der die Wellen hebt. Wenn ich jetzt ins Wasser hineinwate, wird er meine Beine für Fische halten. Das Wasser ist noch dunkler als dunkel, sicher hat der Krake dort seine Tinte verspritzt. Unterwegs nach Hause werde ich bemerken, daß meine Beine schwarz sind bis zu den Knien. Ich habe Angst, tiefer hineinzuwaten. Sonst merke ich auf dem Nachhauseweg, daß ich am ganzen Körper schwarz bin. Ob sich auch das Weiße im Auge verfärbt? Ich mag es, durch die Wellen hindurchzutauchen. Wieder habe ich vergessen, den Zopf am Ende zuzubinden. Jetzt löst er sich auf, und die Haare wallen um meinen Kopf. Ich liege auf dem Rücken im Wasser. Manchmal rollen Wellen über mein Gesicht, und die Haare versuchen, mit ihnen davonzuschwimmen. Vielleicht nimmt jede Welle ein Stückchen von mir mit sich fort. Vom Körper oder von der Seele? Was schmeckt dem Meer besser?
Sterne sind nicht zu sehen, nur weiter weg das rhythmische Aufblinken von Baken und ein paar reglose Lichtpunkte - da muß das Ufer sein. Die Fenster der Sommerhäuser in den Dünen sind schon dunkel. Von meinem Bett im Wasser aus betrachtet, sind das Ufer und die Tiefen des Meeres kaum voneinander zu unterscheiden. Was wäre dann mit mir? Würde ich mich in den Wellen verirren wie in einem dunklen Wald?

Ich schwimme auf die Lichter zu, bis ich mit den Knien gegen den Sand stoße. Am Ufer ist es ein wenig heller; vielleicht, daß der Sand den tagsüber eingesaugten Sonnenglanz abstrahlt. Ich gehe am Saum des Meeres entlang und suche meine Sachen. Ein hellgelbes Kleid und weiße Sandalen - irgendwo hier müssen sie sein, gegenüber den Lichtern. Diese Fenster, in denen immer noch Licht ist, gehören zu einem vielstöckigen Hochhaus, das unnatürlich nahe ans Meer gebaut ist. Sicher unterspült das Wasser heimlich die Fundamente. Den Leuten, die dort wohnen, sind Tag und Nacht durcheinandergeraten. In allen zehn Stockwerken brennt nachts das Licht. Es ist jedoch nicht zu erraten, ob sie dort wahrhaftig bis in den frühen Morgen durcharbeiten oder nur bei Licht besser einschlafen können. Vielleicht sind sie auch bloß zu faul, es zu löschen.

Nein, das ist kein Stern, was da zum Greifen nahe aufflackert. Das ist die Flamme eines Feuerzeugs. Ein Mann sitzt neben meinem Kleid im Sand. Er hat keine Zigarette im Mund, also wollte er wohl nur sein Gesicht beleuchten, damit ich nicht erschrecke. Ich habe ihn in diesem Sommer schon mehrere Male gesehen, hier bei den Hochhäusern. Er ist einer von denen, die gewöhnlich dasitzen und aufs Meer hinausschauen, statt mit einem weißen Stück Plastik auf der Nase am Strand herumzuliegen. Nun ist die Flamme erloschen, doch ich erinnere mich: er hat dunkle Haare und eine breite Stirn. Ich weiß nicht, ob man ein Gesicht wie das seine schön nennen kann. Schön ist Prinz Siegfried in "Schwanensee", zumindestens sollte er das sein, wenn man der Musik Glauben schenkt, doch der Ballettänzer in den Großaufnahmen gestern im Fernsehen hat in Wirklichkeit eine Stupsnase und kleine Augen mit tuscheverschmierten Wimpern. Können Männer überhaupt schöne Gesichter haben? Auch bei diesem hier - jetzt läßt er sein Feuerzeug wieder brennen - ist die Nase ein wenig schief und ebenso sein Lächeln.

- Habe ich Ihnen Angst gemacht? - Er spricht russisch. Was auch sonst - denn von hier ist er nicht, das sieht man sogar von weitem und in der Dunkelheit. Mir ist es egal.
- Nein, ich habe keine Angst.
- Sie sind ein sehr mutiges Mädchen. So weit hinauszuschwimmen und ganz allein.
Jetzt hätte ich gern mein Kleid. Dort liegt es neben seinen bloßen Füßen. Das Kleid wird mir freundlich überreicht, und ich zerre es über meinen nassen Körper und den Badeanzug. Der Mann wendet den Blick nicht ab. Die Dunkelheit ist jetzt seltsam durchsichtig.

- Schwimmen Sie oft nachts?
- Ja.
- Sie wohnen sicher hier in der Nähe.
- Ja.
- Dürfte ich Sie wohl nach Hause begleiten?
- Nicht nötig.
- Haben Sie etwa doch Angst vor mir?
- Nein.
Nein, ich habe wirklich keine Angst. Der Wind ist warm, und der Sand unter meinen Füßen auch. Ich bin kalt und ruhig, weil ich so lange im Wasser war.
- Sie rauchen nicht?
- Nein.
- Stört es Sie, wenn ich rauche?
- Nein.
- Möchten Sie sich nicht mit mir bekanntmachen?
- Nein.

Er geht ruhig neben mir her. Ich könnte jetzt loslaufen, und er würde mich bestimmt nicht einholen, aber das wäre kindisch. Außerdem bin ich müde; vielleicht war ich doch zu lange im Wasser. Seine Zigarette riecht nach Menthol.
Irgendwann muß es ihm doch leid werden, neben mir durch den Sand zu stapfen. Es sind noch etwa zwei Kilometer. Und besonders inspirierend ist unsere Unterhaltung auch nicht gerade.
- Machen Sie jede Nacht so lange Spaziergänge?
- Ziemlich oft.
- Sind Sie sicher, daß Sie sich nicht verlaufen haben?
- Natürlich. Hier kann man sich gar nicht verlaufen.
Immer geradeaus den Strand entlang bis zu der krummen Kiefer - da kann man sich wahrhaftig nicht verlaufen. Die krumme Kiefer wächst mitten in den Dünen, näher am Meer als alle übrigen Kiefern, ihr dicker Stamm ist schon von weitem zu sehen, ein schräger schwarzer Strich gegen den fahlen Sand. Dort muß ich die Düne hinaufsteigen. Danach noch ein paar hundert Meter den schmalen Asphaltweg entlang bis zur Chaussee. Gleich auf der anderen Seite liegt dann schon unser Haus. Doch an der Chaussee bleiben wir stehen.

- Trügen mich meine Ohren oder spielt dort wirklich ein Orchester?
Er ist geduldig die zwei Kilometer neben mir her gestapft, ohne sich weiter mit Reden aufzudrängen, hat also wenigstens eine höfliche Antwort verdient.
- Ja, hier ist ein Restaurant.
- Unglaublich. Und da ist auch Tanz?
- Ja.
- Haben Sie es sehr eilig nach Hause?
- Ja.
- Solch eine schöne Nacht. Und ich habe überhaupt keine Lust, allein zu bleiben. Gerade eben dachte ich: wie schade, daß es hier in der Nähe kein nettes Plätzchen gibt, wohin man ein Mädchen wie Sie ausführen kann. Und plötzlich stellt sich heraus, daß es doch so etwas gibt. Gehen wir einen Kaffee trinken und ein wenig tanzen. Nur auf ein halbes Stündchen. Ich bitte Sie.
Ich könnte jetzt natürlich einen Schlußstrich ziehen und nach Hause gehen. Aber warum eigentlich? Wir stehen gerade unter einer Straßenlaterne. Ich schaue hoch. Die Haare fallen ihm in die Stirn und überschatten die Augen, doch sein Lächeln kommt mir ein wenig schüchtern vor. Würde er jetzt selbstbewußt grinsen und mir den Arm um die Schultern legen, würde ich ihn einfach stehenlassen.

Der Saal des Restaurants ist brechend voll und die Luft ist dick, schichtenweise überlagern sich feines Parfüm und billiges Eau de Cologne, Duft von teurem Tabak und der Gestank billiger filterloser Zigaretten, dazu Schweißgeruch und die diversen Aromas, die von den Gläsern aufsteigen. Der Nebentisch ist ganz mit Sekt übergössen, und ein Mädchen zieht unablässig den Finger durch die Pfütze und leckt ihn ab. Ein verfetteter Solist singt irgendetwas vom entflogenen Vogel des Glücks, ein Gitarrist klimpert dazu apathisch und der Schlagzeuger sieht aus wie schon halb eingenickt, aber auch die Tänzer sind nicht mehr die Allerfrischsten. Es ist wie in einem Unterwasserreich. Auch das Licht schimmert grünlich und die Wände sind mit Fischernetzen dekoriert.
- Ein merkwürdiger Ort, nicht?
- Eine ganz gewöhnliche Kneipe.
- Das würde ich nicht sagen. Zumindestens die Leute hier sind ausgesprochen ungewöhnlich. Und am allerungewöhnlichsten sind Sie. Vielleicht könnten wir uns trotzdem miteinander bekanntmachen?
Die Bedienung bringt Kaffeetassen, eine Karaffe und kleine Gläser an unseren Tisch.
- Ich habe Mokkalikör bestellt. Mir schien, Sie könnten nach ihrem langen Bad eine kleine Aufwärmung gebrauchen. Sie haben wahrscheinlich schon gemerkt, daß ich kein Hiesiger bin.
Mir gefällt es hier sehr. Ich heiße Vlad.
- Vita.
- Komm tanzen, Puppe!
Irgendein Typ im geblümten Hemd steht an unserem Tisch. Er hat ziemliche Mühe, das Gleichgewicht zu halten.
- Na komm schon, wenn ichs sage. Wozu hier langweilig rumhängen!
Ich trinke mein Glas auf einen Zug aus. Der Typ läßt nicht locker. Er versucht, mich unter den Achseln zu fassen und hochzuzerren. Dann bugsiert ihn Vlad auch schon fort. Das dauert nur wenige Augenblicke, und gleich darauf sitzt Vlad wieder mir gegenüber.
- Vita, hätten Sie nicht Lust, ein wenig zu tanzen?
Lust habe ich eigentlich gar keine, aber es ihm abzuschlagen würde alles nur komplizierter machen. Die Tanzfläche vibriert unter meinen Füßen. Zum richtigen Tanzen ist nicht genug Platz, die Paare treten einfach nur von einem Bein auf das andere. Die Kapelle spielt einen italienischen Schlager. Alles geschieht wie von selbst, meine Hände finden ihren Platz irgendwo an Vlads Brust, seine Hände liegen so ruhig, beruhigend auf meinem Rücken. Über seine Schultern hinweg kann ich in die Runde schauen. Hier paßt nichts zusammen. Eine ältere Dame im Glitzerkleid tanzt mit einem pickligen Jungen im Sporthemd. Ein kleiner Dicker im grauen Anzug hält ein schlankes Mädchen in Jeans umfaßt. Der aufdringliche Typ mit dem geblümten Hemd hat doch noch eine Dame ergattert, die allerdings mehr an ein Straßenmädchen erinnert - aber was solls. Ich mit meinem zerknitterten Kleid und meinen wirren Haaren sehe bestimmt aus wie eine Vogelscheuche. Eines der Tanzpaare prallt heftig mit uns zusammen. Vlad zieht mich näher an sich. Mir schwindelt ein wenig, ich möchte die Augen schließen und mein Gesicht an sein schwarzes Hemd drücken. Ein heißer Schauer läuft mir über Hals und Schultern, und ich spüre Vlads Lippen an meinem Haar. Die Kapelle macht eine Pause.

- Ist dieses Restaurant die ganze Nacht geöffnet?
- Nur noch etwa eine Stunde. Dann machen sie zu.
- Ihre Stadt ist sehr ruhig.
- Das gefällt Ihnen nicht?
- Doch. Aber ich mag auch die Abwechslung. Sie nicht?
Ich weiß nicht, was ich darauf erwidern soll, deshalb trinke ich meinen kaltgewordenen Kaffee. Das Schweigen scheint ihn nicht nervös zu machen. Wieder spüre ich seinen Blick. Gerade so, als richtete sich im Dunkeln der Lichtkegel einer Taschenlampe auf mich.
- Vita, möchten Sie, daß ich Ihnen von mir erzähle?
- Wenn Sie wollen.
- Ich habe das Gefühl, von sich aus werden Sie mir keine Fragen stellen. Das ist nicht ihr Stil.
Aber ich möchte Ihnen lediglich zeigen, daß Sie ihre Zeit mit einem ehrlichen und anständigen Menschen zubringen.
- Sie sind mir keine Rechenschaft schuldig.
Er wirft den Kopf zurück und lacht. Der oberste Knopf seines Hemdes steht offen. Um den Hals trägt er ein dünnes Kettchen, das jetzt im Rhythmus seines Gelächters mitschaukelt.
- Uns bleibt nur ein Ausweg, Vita: schleunigst Brüderschaft zu trinken und zu einem menschlicheren Ton überzugehen.
- Es gibt noch einen anderen Ausweg. Nämlich, uns jetzt voneinander zu verabschieden.
- Das wäre zu traurig. Zumal das Restaurant noch eine ganze Stunde geöffnet hat.
Er schenkt uns Likör ein und wir stoßen an.
- Schau mir in die Augen, sonst wird es keine richtige Brüderschaft.
Es ist mir immer schwergefallen, anderen in die Augen zu sehen. Ich will niemandem erlauben, tiefer in mich hineinzublicken. Manchmal scheint mir, mein Anblick verdirbt den Leuten die gute Laune. Nicht weil ich ihnen unfreundlich begegne, sondern weil es mir auf eine geradezu ungehörige Art an Freude und Optimismus mangelt.
- Du hast wunderschöne Augen.
- Und du kannst wunderschöne Komplimente machen.
- Das gehört zu meinem Beruf.
- Ich weiß - du bist Schriftsteller. Du wohnst im Erholungsheim für Schriftsteller. Ich habe dich dort gesehen.
- Gibt es irgendetwas, das du nicht weißt?
- Ich weiß nicht, was passieren wird, wenn du mich mit deinem Likör abgefüllt hast.
- Dann werde ich dich vergewaltigen und im Meer ertränken.
- Das wird dir nicht gelingen. Ich kann schwimmen.
- Aber warum siehst du dann so erschrocken aus? Man könnte meinen, daß du mir eine solche Tat wirklich zutraust.
- Erschrocken? Ich? Lächerlich!

Die Kapelle ist zurückgekehrt. Ein Teil des Publikums ist schon gegangen, und es gibt mehr Platz. Jetzt kann man im Rhythmus des Rock herumtoben, wenn auch in dieser Kneipe sogar die Rockmusik irgendwie lahm klingt. Aber damit kann ich mich abfinden. Dieser Rhythmus liegt mir einfach mehr, und ich mag die Tänze, wo man einander nicht zu berühren braucht. Jetzt kann ich den Kopf zurückwerfen und lachen, denn so bin ich nicht mehr ganz ich selbst. Jetzt kann ich sogar Vlad in die Augen schauen, ohne mich dabei unbehaglich zu fühlen. Dieser Rhythmus verwandelt mich in eine Welle oder einen Baum, der Rhythmus ist der Wind, und ich bin eine Welle oder ein Baum, die keine Wahl haben und nichts ändern können.

Dann ist es auch schon vorbei. Die Kapelle intoniert einen normalen Schlager; es ist der letzte Tanz. An meinem Hals unter den Haaren spüre ich Vlads Hand. Wie ein sonnenwarmes Ahornblatt. Oder nein, wie die Sonne selbst. Ich möchte wieder die Augen schließen.
- Gehst du jeden Tag schwimmen?
- Mindestens zweimal.
- Auch wenn es regnet?
- Ja, ich schwimme gern im Regen.
- Hast du gerade Ferien?
- Ja.
- Vielleicht könnten wir morgen zusammen schwimmen gehen.
- Hast du keine Angst zu ertrinken? Wenn nun plötzlich eine große Welle kommt...
- Du wirst mich doch retten...
Seine Hand hat die meine ergriffen. Die Finger spielen miteinander, seine mit meinen, meine mit seinen, gleiten aneinander entlang, fliehen und kehren wieder zueinander zurück.

2

Heute will der Schlaf einfach nicht kommen. Ich probiere es mit einem langweiligen Buch nach dem anderen, mit dem steif erhabenen Paradies von Dantes "Göttlicher Komödie" und den endlosen Schlachtszenen von "Krieg und Frieden" - nichts hilft. Ich gehe in die Küche, um mir einen Tee zu kochen. Dik hat einmal gesagt, daß Schlaflosigkeit und Tee gut zusammenpassen. Ja, Dik war es, als er im vergangenen Sommer unter Schlaflosigkeit litt, und ich stand dann schlaftrunken auf und schlich in die Küche, um Wasser aufzusetzen. Ein paarmal kam auch Mutter aus ihrem Bett herbei, um nachzusehen, was da vorgeht. Sie hat einen leichten Schlaf. Vater dagegen gar nicht, er schläft wie ein Toter. Zur Zeit ist Mutter fort, auf Dienstreise, und ich kann klappern so laut ich will.
Im Spiegel im Badezimmer schaue ich mir in die Augen. Was ist los, junge Frau? Warum kommt der Schlaf nicht?

Wunderschön - meine Augen? Sie haben ja nicht einmal eine beständige Farbe. Als Kind rannte ich jeden Morgen zum Spiegel, der mir jeden Morgen dieselbe Enttäuschung bereitete, denn ich hatte mir irgendwie in den Kopf gesetzt, ich würde über Nacht leuchtend blaue Augen bekommen wie die Prinzessinnen im Märchen und wie Dace, mein Lieblingspuppe, die ebensolche Haare wie ich hatte, von demselben nichtssagenden Nußbraun, aber dafür Augen so blau wie Leberblümchen. In meinen Augen ist kein Fünkchen Blau, nur Braun und Grün. Und Gelb, wenn ich Angst habe. Und Schwarz, wenn ich wütend bin. Ich weiß noch, wie Mutter einmal zu Vater sagte: "Siehst du nicht, daß es keinen Zweck hat, mit ihr zu reden? Ihre Augen sind doch ganz schwarz vor Wut."

Wieder sehe ich im Spiegel denselben Schatten hinter mir. In einem Raum, wo sich keine Menschenseele befindet.
-Dik?
Das ist Blödsinn. Blödsinnig, ihn zu rufen. Blödsinnig, an ihn zu denken. An allem ist nur diese Schlaflosigkeit schuld.

In meinem Schrank im obersten Fach liegen immer noch zwei Hemden von Dik, ein grünkariertes und ein graues. Und in der Schreibtischschublade sein Skizzenblock und seine Bleistifte. In dem Block sind noch viele leere Blätter, aber ich hatte bisher noch nicht den Wunsch, etwas zu zeichnen. Ich mag Bilder, auf denen die Welt anders erscheint, als ich sie sehe. Wo die Gegenstände Leidenschaften empfinden, wo die Landschaften etwas von einem fremden Planeten an sich haben und alle Menschen geheimnisvoll aussehen. Ich beneidete Dik geradezu um das, was manchmal in seinen Skizzen aufscheint. Er erfand ja nichts, sondern zeichnete wahrheitsgetreu das, was er sah. Und ich hatte an demselben Fleck gestanden und nichts dergleichen bemerkt.

- Warum bin ich so blind, Dik?
- Ganz im Gegenteil, du bist zu klarsichtig.

Wann wird es mir endlich gelingen, unsere Gespräche zu vergessen? Wann werde ich mir ein Herz fassen und seine verdammten Hemden in den Mülleimer stecken?

Der Teekessel beginnt zu summen. Wunderbar, jetzt werde ich um drei Uhr nachts einen starken bitteren Tee trinken. Während er zieht, stehe ich vor dem Spiegel im Bad und kämme mich. Mindestens hundertmal täglich den Kamm durch die Haare ziehen, so hat es mir Oma irgendwann beigebracht. Vielleicht sollte ich sie besser abschneiden, um mir die unnötige Mühe zu sparen. Ich versuche, mich mir mit einem Bubikopf vorzustellen. Aber was mache ich dann mit meinen Händen? Wo ich es so gewohnt bin, an meinem Zopf herumzunesteln.
Ich bringe die Teetasse auf mein Zimmer. Die dunkle Nacht draußen riecht nach Jasmin. Wie immer im Juli. Die Gärten ringsum sind voll von Jasminbüschen. Am stärksten duften sie, wenn sie ihre Blüten abwerfen. Dik bestreute einmal den ganzen Fußboden mit Jasminblüten. Am Abend schimmerten sie noch weiß wie ein Schneefeld in der Sonne, doch am nächsten Morgen waren sie an den Rändern schon braun und verschrumpelt.

Ich warte so sehr auf einen Brief von ihm. Zumindestens jetzt, im Dunkel der Nacht, darf ich das gestehen. Gewiß, er hatte schon gewarnt, daß er nicht schreiben wird. Aber wir haben uns ja gar nicht mehr voneinander verabschieden können. Am Morgen ging ich in die Schule und schloß mein Zimmer ab. Nachmittags war die Tür auf. Mutter sah mich an, als hätte ich eine schwere Krankheit, und Vater sagte: "Du bist doch kein kleines Dummerchen mehr. Begreifst du nicht, daß du dir mit sowas die Zukunft ruinieren kannst?" Ich weiß nicht, ob ich eine Zukunft habe. Dafür weiß ich, daß irgendwo in der Ferne ein Krieg stattfindet, mit einer breiten Auswahl von Todesarten - Kugeln und vergiftete Brunnen, Minen und Bajonette. Und weit und breit kein Mensch dort, der Bilder malt. Ich weiß, daß Dik das gebraucht hätte, hierbleiben und malen zu können. "Hast du gar keine Gewissensbisse?" fragte ich meinen Vater, und Mutter sagte: "Was redest du da, Mädchen. Es ist doch nicht unsere Schuld. Die Miliz ist gekommen, und dieser junge Mann hat ihnen selbst geöffnet." Warum hätte er das tun sollen? Die Miliz hatte doch gar kein Recht, die Wohnung zu betreten. Ich weiß das, wir alle haben diese Weisheiten ja gelernt. Ich weiß, wie naiv es war anzunehmen, mein Zimmer wäre sicher genug als Zufluchtsort für jemanden, hinter dem sie mit einem Gestellungsbefehl her sind. Seit diesem Tag kommt es mir so vor, als hätte man auch mich in den Krieg geschickt.

- Während du weg warst, habe ich ein Porträt von dir gezeichnet. Ist es getroffen?
Ein Geschlinge von Linien. Unentwirrbare Knoten. Und mittendrin ein Gesicht wie in einem bösen Traum. In der Luft flatternde Haare, als bliese von hinten ein Sturm. Der Mund leicht geöffnet, wie um etwas zu sagen - etwas Böses? Mit einem so angespannten Gesicht sagt man keine sanften Worte. Die Augen vom Wahrnehmen müde. Ich möchte vor den Spiegel treten und mich davon überzeugen, daß das nicht meine Augen sind.
- Bin ich wirklich so zornig?
- Noch nicht. Du bist ein ganz liebes Schnurrekätzchen.
- Ist das was Schlechtes?
- Das währt nicht ewig.
- Bist du nicht hungrig?
- Nein. Du hast auch noch gar nicht gesagt, wie dir das Bild gefällt.
- Ich weiß nicht. Es macht mir angst.
- Dann wollen wir es zerreißen.
- Nein, bitte nicht. Es ist doch mein erstes Porträt.
- Ein Porträt ist es noch nicht.

Ich habe das Bild in der Schublade unter alten Schulheften versteckt. Dort liegt es noch immer, und ich werde ihm immer ähnlicher.

An unsere Gespräche erinnere ich mich Wort für Wort. Wie bei einem Tonband - du drückst auf ein Knöpfchen und hörst die Aufnahme. Ich wünschte mir, dieser Mechanismus in meinem Inneren würde kaputtgehen. Knopfdruck und - Stille. Oder unerwartet erklingt etwas völlig anderes. Doch das tritt nie ein.

- Vita, was ist für dich das Leben - Ziel oder Mittel? Lebst du, um etwas zu erreichen, oder bringst du die Arbeit schnell hinter dich, damit dich nichts stört zu leben?
- Ich weiß nicht, ob ich überhaupt etwas erreichen will...
- Sagen deine Leute dir nicht: "Das Leben wird dich schon zwingen"?
- Ab und zu.
- Meine auch. Aber das stimmt nicht. Das Leben zwingt niemanden. Alle zwingen sich selbst - Geld scheffeln, Karriere machen, Pöstchen ergattern. Warum kann man nicht einfach nur leben?
- Kann man nicht?
- Hast du es versucht?

Nein. Noch zu früh. Falls nicht schon zu spät. Einfach nur leben - wie wäre das? Nie mehr sich das Hirn mit Algebra- und Chemieformeln verseuchen, nie mehr die Hausarbeiten in technischem Zeichnen gegen Aufsätze eintauschen, nie mehr mit Spickzetteln sich abquälen müssen. Irgendwo Nachtwächter oder Putzfrau werden und sich nicht mehr die Nerven ruinieren mit dem Gedanken an die unvermeidlichen Zulassungsprüfungen. Und was dann? Kann ich überhaupt einfach so leben? Dik konnte es. Er kam gut mit sich selbst zurecht. Ganz im Unterschied zu mir.

Die halbe Nacht lang konnte er seine Anekdoten und Schauergeschichten erzählen. Ich habe sie mir nicht genau gemerkt, weil ich zu sehr mit Lachen beschäftigt war. Außerdem mußte ich achtgeben, daß ich nicht zu laut lache, sonst wäre es Mutter am Ende noch eingefallen, einmal nachzuschauen, was hier oben vorgeht.
Er ließ sich von mir Knetgummi mitbringen und knetet daraus eine ganze Gespensterfamilie, die er auf dem Regal aufreihte. Ein melancholischer Vater, eine verfressene Mutter und die trotzköpfige Tochter samt ihrem Freund, einem richtigen Halbstarken. Haustiere hatten sie auch, einen aus dem Dschungel verirrten Tiger und vier weiße Fledermäuse. Ich habe sie dann alle zu einem Klumpen zusammengeknetet - damals, als ich das Gefühl hatte, ich würde nie wieder lachen können. Jetzt bedauere ich das. Wenn ich sie bloß neu machen könnte... Zumindestens die Fledermäuse - ihre Gesichter waren so verschmitzt und traurig zugleich, und eine von ihnen hielt in ihren winzigen Krallen eine gelbe Rose.

Ja, diese zwei Monate hatten schon etwas Gespenstisches. An jenem Juniabend, als ich Dik unter meiner Kiefer sitzen sah, konnte ich nicht voraussehen, daß alles so enden würde. Es nieselte, und er saß dort so bleich und durchnäßt. Wir kannten uns oberflächlich, wie fast jeder jeden in dieser kleinen Stadt. Er sei ohne Bleibe, sagte er, und mir erschien es völlig natürlich, ihn in meinem Zimmer übernachten zu lassen. Es war schon spät, und niemand hörte uns hereinkommen. Meine Eltern sind daran gewöhnt, daß ich nachts schwimmen gehe. Ich schwimme gern weit hinaus und habe es nicht gern, wenn mir die Strandwache durch ein schepperndes Megaphon nachbrüllt: "Sofort umkehren, Bürgerin! Das Schwimmen außerhalb der Bojen ist streng untersagt!" Die Bojen sind viel zu nahe am Strand, lächerlich geradezu. Meine Eltern nehmen dieses nächtliche Baden gelassen hin, denn auch Mutter hat keine Angst vor dem Wasser. Sie war es, die mir das Schwimmen beigebracht hat, als ich gerade erst drei war. Vielleicht ist das Meer das einzige, worüber wir nicht verschiedener Ansicht sind. Dik machte es sich auf dem Teppich bequem, schob sich ein Sofakissen unter den Kopf und schlief sofort ein. Am Morgen fragte er:
- Muß ich unbedingt jetzt schon fort?
- Nein.
Erst ein halbes Jahr zuvor hatte ich mein eigenes Zimmer bekommen - nach Omas Tod. Abgeschlossen hatte ich noch nie. An jenem Morgen tat ich es zum ersten Mal.
Mutter trank in der Küche Kaffee. Sie bereitete sich auf ihre nächste Dienstreise vor und begann gleich zu erklären, was unbedingt eingekauft und erledigt werden müsse. "Mutter, ich habe beschlossen, ab jetzt ganz erwachsen zu sein." "Sehr schön." "Ich muß mich unbedingt davon überzeugen, daß ich es schaffe, selbständig zu sein." "Wunderbar. Denk daran, daß der Zucker bald alle ist. Und Reis gibt es auch keinen mehr." "Ich will wissen, ob ich selbst mit allem zu Rande komme." "Natürlich. Und vor allem - jeden Morgen die Blumen gießen." "Ihr habt doch nichts dagegen, daß ich ab jetzt mein Zimmer abschließe? Damit es auch wirklich mein Zimmer und mein Leben ist." "Es ist ja doch dein Zimmer. Und vergiß nicht, mindestens einmal die Woche den Fußboden zu putzen. Ja, und Waschpulver muß gekauft werden."
Ich schmierte einen ganzen Teller Butterbrote und ging zurück. In mein Leben.

Neulich fragte mich Mutter, warum ich denn niemals Besuch von meinen Klassenkameraden bekäme. "Ihr könntet Musik hören und ein bißchen Spaß haben." Aber ich will in meinem Zimmer keine doofen Spielchen mit Flaschendrehen und den obligatorischen Knutschereien, ich will nicht mitanhören, wie die Typen mit ihren Heldentaten prahlen, den zu Klump gefahrenen Mopeds und der Anzahl der gekippten Biere.

- Wie ist eigentlich die Beziehung zu deinen Eltern?
- Normal. Halt so.
- Wahrscheinlich schätzen sie dich sehr.
- Ich hab ihnen nichts Böses getan.
- Naja, du hast alles noch vor dir. Und ich - alles schon hinter mir. Weißt du, was der schönste Tag in meinem Leben war? Als ich im letzten Herbst wieder mal nicht bei der Akademie angenommen war und sie mich zu Hause ständig damit nervten, warum ich mir keine anständige Arbeit suche, da hab ich plötzlich kapiert: Alter, dich hält hier doch nichts. Ich bin zum Bahnhof und hab mich in den Zug nach Petersburg gesetzt. Ich gab den Schaffner einen Zehner und er fand für mich einen Platz. Da saß ich dann, trank Tee wie ein biederer Bürger und schaute aus dem Fenster. Und am nächsten Morgen bin ich mit dem ersten Schiff nach Petershof rüber. Bist du dort mal gewesen?
- Nein.
- Da mußt du unbedingt hin. Weißt du, da gibt es solche Fontänen... Du liebst doch das Wasser, nicht?
- Ich liebe das Meer.
- Diese Fontänen dort sind eine Art Mittelding zwischen Meer und Himmel. Stell dir vor - das Meer wäre es leid geworden, immer nur an einem Ort zu hocken und hätte sich aufgemacht zu einem Ausflug in die Berge... Die Luft funkelt, denn sie ist voll von kleinen Wassertropfen. Und die Sonne... Im Frühherbst gibt es ja oft diese wahnsinnig sonnigen Tage. Ich konnte mich nicht losreißen. Ich stand mit offenem Mund wie ein kleines Kind und schaute. Und dachte: in der Welt gibt es so viele großartige Orte, die ich nie sehen werde. Wäre der Zehner, den ich dem Schaffner gegeben hatte, nicht mein letzter gewesen, wäre ich dort bis zum Winter geblieben. Wenn der Frost kommt, stellen sie die Fontänen ab und stülpen Holzkästen über die Skulpturen... Auch jetzt würde ich gern wieder dahin. Wenn ich ein freier Mensch wäre und nicht Sklave des Wehrerfassungsamts...

3

Unablässig klingelt das Telefon. Ich öffne die verklebten Augen und tappe ins Wohnzimmer.
- Na, bist du endlich aus den Federn? Den ganzen Morgen schon versuche ich vergeblich, dich aufzuwecken.
- Ist es was Dringendes?
- Bei mir wird es spät heute abend. Vergiß nicht, die Blumen zu gießen und Milch zu holen.Und schau nach, was sonst noch eingekauft werden muß. Hast du noch Geld?
- Ja, ja.
- Also dann bis heute abend. Und lieg nicht zu lange in der Sonne, damit du keinen Sonnenbrand kriegst.
- Tschüs!
Ein Musterbild von einem sachlichem Gespräch. Allerdings ist Vaters Warnung vor dem Sonnenbaden ganz überflüssig - im Unterschied zu meiner Mutter lege ich mich nie faul in den Sand. Und ich hätte auch ohne seine Ermahnung eingekauft und die Blumen gegossen, auch wenn ich für sie keine zärtlichen Gefühle aufbringe. Blumen mag ich im Garten oder in der Vase. Aber Mutter möchte es auch in ihrem Wohnzimmer wie in einem Garten haben. In drei Stunden bin ich mit Vlad verabredet. Am vernünftigsten wäre es, nicht hinzugehen. Das erwartet schließlich alle Welt von mir: ein vernünftiges Benehmen. Doch ich ziehe es vor, die Welt zu enttäuschen.

- Was heißt ''Sommer" auf lettisch?
- Vasara.
- Du bist "vasara".
- Bedeutet das, daß es im Herbst mit mir zu Ende ist?
Nein. Du bist der ewige Sommer.

Wir liegen nahe am Ufersaum. Vlad wälzt sich auf den Bauch und drückt seine Stirn an meinen Unterarm. Seine Lippen kitzeln mich in der Armgrube.
- Erzähl mir von dir.
- Du selbst hast mir gestern doch Redeverbot erteilt.
- Das war gestern. Erzähl mir, worüber du schreibst.
- Über alles Mögliche. Über Arbeiter. Über Buchhalter. Über Studenten. Über Kindergärtnerinnen. - Seine Lippen gleiten von der Ellbogengrube hinauf bis zu meinen Schultern. - Über Rentner. Über Soldaten.
- Auch über Afghanistan?
- Nein. Und frag bitte nicht, warum.

Die Hälfte meines Lebens besteht aus ungestellten Fragen. Doch ich will mich niemandem aufdrängen, obwohl mir manchmal vor lauter Fragen die Lippen jucken und schmerzhaft die Schläfen pochen, ja, bis in die Fingerspitzen spüre ich dieses ruhelose Pochen, und ich muß mir die Nägel in den Handteller graben, damit dieser andere Schmerz mich beruhigt. Jetzt geht das nicht, denn seine Hand liegt auf der meinen.

- Und was darf ich dich fragen?
- Frag mich, was ich heute abend mache. Weißt du - mir bleiben nur noch einige Tage, und ich habe noch kaum etwas gesehen.
- Was möchtest du denn sehen?
- Das Unerwartete. Das, was mir niemand versprochen hat. Wie dich.
- Ich bin doch kein Tourismusobjekt!
- Und ich kein Tourist. Hast du das noch nicht gemerkt?
- Du bist doch zum Arbeiten hergekommen.
- Quatsch. Arbeiten kann ich auch zu Hause. Sogar noch viel besser, denn dort gibt es kein Meer, keine plötzlichen Stürme und keine Mädchen, die nachts schwimmen gehen. Nur Schreibtisch und Schreibmaschine, Papiere und Verträge.
- Und Frau und Kinder...
- Die auch, aber die stören nicht. Dort ist der Alltag. Dort habe ich nicht das Gefühl, etwas zu verpassen. Hier dagegen... Hör mal, was machst du heute abend? Sag bloß nicht, du gehst schwimmen... Hättest du nicht Lust, nach Riga zu fahren? Mit mir zusammen? Du könntest mir deine Lieblingsorte zeigen.
- Und wenn ich keine habe? Ich mag Riga nicht, ich fühle mich fremd dort. Ich weiß, daß sich das blöd anhört.

Ich weiß, daß sich das in der Tat blöd anhört. Ich weiß auch, daß ich mir bei keinem anderen einen solchen Satz erlauben würde. Hat mir der Sekt, den wir eben im Strandcafe getrunken haben, die Zunge gelöst, oder fällt mir bei Vlad das Reden deshalb so leicht, weil er von auswärts kommt, weil er bald wieder wegfährt und wir uns nie mehr begegnen werden? Oder weil er doppelt so alt ist wie ich? Wie ein älterer Bruder oder ein jugendlicher Vater, den das Leben und der Alkohol noch nicht zugerichtet haben und bei dem man im Gespräch nicht stets auf der Hut sein muß. Bei den Klassenkameraden heißt es Stil bewahren, die Eltern darf man nicht beunruhigen, und einen Bruder habe ich nicht. Ich hatte nur Dik. Ganze zwei Monate lang - von dem Tag, an dem wir miteinander ins Gespräch kamen, bis zu dem Tag, als sie ihn abholten. Dik konnte ich alles erzählen, so wie es war. Ein fast schon vergessenes Gefühl.

- Ich verstehe dich. Am Meer ist es natürlich besser. Aber du kannst mir doch nicht erzählen, daß du nie Lust auf Lärm und Trubel hast. Kinos, Museen, Cafes, Freunde - etwas davon hätten bestimmt sogar die Najaden nötig, wenn sie in unsere Zeit hineingeschwommen kämen.
- Du hast recht. Also gut, machen wir einen Ausflug.
- Verehrtes Fräulein Fremdenführer, hätten Sie mir da irgendeine ausgefallene Tour zu bieten?
- Ausgefallen? Dann müssen wir zu Arta.
- Und was passiert dort?
- Das weiß man vorher nie. Aber ich denke, es wird dir dort gefallen - wenn es schon etwas Ausgefallenes sein soll.
- Gut, ich verlasse mich ganz auf dich.

- Kerzen müssen wir kaufen. Sie hat keinen Strom dort. Da gehört es sich, daß der Besuch Kerzen mitbringt.
- Wie ist das möglich: mitten in der Stadt und kein Strom?
- Das ist sehr wohl möglich - wenn man zu lange nicht zahlt.
- Deine Freundin hat vielleicht eine etwas leichtfertige Lebenseinstellung.
- Mit Lebenseinstellung hat das nichts zu tun. Den Strom haben sie schon vor langem abgestellt, da wohnte sie noch gar nicht in diesem Atelier. Und hör überhaupt mit deiner Fragerei auf, gleich siehst du es ja selbst.
- Indem ich statt einer Zirkuskarte eine Kerze vorzeige?
- Ich kann auch allein gehen.
- Du bist ja stachlig wie ein Igel.
- Also Finger weg, ich steche!

Sein Arm um meine Schultern. Heiß. Der Sommer ist ohnehin schon so heiß, was soll da noch diese fremde Glut? Und wo tue ich jetzt meinen Arm hin, der zwischen unseren Körpern eingeklemmt ist? Doch schon hat er ihn sich um die Taille geschoben. Ich gehe neben dem langen Mann im schwarzen Hemd, und es gelingt mir sogar, mit ihm Schritt zu halten. Ich spüre den leichten Schweißgeruch seiner Achselhöhle, durch den Duft eines nichtssagenden Deodorants hindurch. Diese Hitze. Das Kleid klebt mir am Rücken, und bestimmt bald ebenso sein Hemdsärmel an meinem Nacken. Auch in mir drin ist die Hitze, vielleicht beginne ich gleich zu schmelzen und tropfe auf den Asfalt nieder. Ein paar Tröpfchen werden auf dem schwarzen Hemd zurückbleiben, und am Abend wird er es waschen müssen.
- Wäscht deine Frau dir die Hemden?
- Nein, wir geben sie in die Wäscherei. Warum fragst du?
- Ich möchte wissen, wie du lebst.
- Langweilig. Ich lebe langweilig. Ich bin dir so dankbar, daß du mir erlaubst, mit dir zusammen zu sein.
Erlaubst? Habe ich ihm das tatsächlich erlaubt? Nicht daß ich wüßte. Die Hitze pocht in meinen Fingerspitzen auf dem breiten Gürtel seiner Jeans, in meinem Ellbogen, der im Rhythmus seiner Schritte mitschaukelt. Von Dürfen habe ich nichts gesagt. Meine Schulter ist unter seiner Handfläche schon ganz taub geworden. Mein Kleid hat nur dünne Träger, die Schulter ist nackt, und es wird auf ihr ein eingebrannter Abdruck zurückbleiben, wie der Schatten einer großen fünfbeinigen Spinne. Seltsam, daß man keine Schmerzen empfindet, wenn es so heiß ist.

- Was brauchen wir noch - außer Kerzen? Trinkt deine Freundin Alkohol?
- Natürlich. Sie ist doch Dichterin. Warum lachst du?
- Darf ich dich küssen?
- Natürlich nicht.

Natürlich doch. Sein Mund ist heiß, seine Zähne graben sich schmerzhaft in meine Lippen. Wir stehen in einer engen Nebenstraße, wo es selbst mitten am Tag dämmerig ist. Die runden Pflastersteine beginnen sich unter meinen Füßen zu bewegen. Als stünde ich auf einer Welle. Ich wußte doch, daß Schmerzen dazugehören. Er läßt nicht ab von meinem brennenden Mund, wühlt sich immer tiefer in ihn hinein. Sein Speichel schmeckt süßlich bitter. Unsere Zungen begegnen sich jetzt ohne Worte. Das Pflaster schwankt. Vielleicht schwimmen wir fort. Ich halte die Augen geschlossen und sehe nicht, wohin.

- Ich werde über dich mein allerschönstes Gedicht schreiben.
- Und wird es gedruckt?
- Nein, solche Gedichte werden nicht gedruckt.
- Weshalb?
- Deshalb, weil sie nicht der hohen Moral des Kommunismus entsprechen.
- Baust du etwa auch den Kommunismus auf?
- Die ganze Sowjetliteratur befaßt sich nur damit. Aber ein Gedicht über dich - das ist etwas ganz anderes.
- Also keine Sowjetliteratur? Worüber lachst du jetzt schon wieder?
Wir stehen im Treppenhaus. Es ist eng dort und stinkt nach Katzen. Einen Aufzug gibt es hier nicht.
- Wenn du auf jeder Stufe einen Kuß willst, kommen wir nie nach oben.
- Gut, dann küssen wir uns jetzt richtig, und dann gehen wir hoch.
Er läßt sich auf eine Stufe nieder und zieht mich auf seinen Schoß. Die Treppe ist so schmal, daß die alte Tante, die an uns vorbei will, sich an die Wand drücken muß. Ihre große Einkaufstasche prallt Vlad gegen die Schulter. Sicher kommt sie gerade vom Markt - aus der Tasche ragen dicke Rhabarberstengel. Keine Zucht und Sitte mehr, knurrt die Alte, führen sich auf wie die Ferkel, so sind sie, die jungen Dinger von heute, nischt im Kopp wie für jeden Kerl die Beine breit.
- Nur gut, daß ich kein Lettisch verstehe.
- Die redet doch nur mit sich selber.
- Und deshalb kriegst du so eine rote Birne? Hast du etwa noch nie in einem Treppenhaus geknutscht?
- Doch, doch, da mach dir mal keine Sorgen.

Ich spüre, wie mein Gesicht glüht. Meine Lippen sind schwer und geschwollen. Vlads Gesicht ist wie Schmirgelpapier. Vielleicht haben seine Küsse meine oberste Hautschicht weggescheuert, und ich fange gleich an zu bluten. Meine Backen brennen wie mit feinen Wunden bedeckt.
Neben uns auf der Stufe steht Vlads Umhängetasche. Er holt daraus eine Flasche und einen roten Plastikbecher hervor.
- Vernünftigerweise habe ich gleich zwei gekauft. Trinken wir auf das Wohl der alten Tante - möge ihr der Rhabarberkompott gut geraten.
- Gleich kommt bestimmt wieder jemand...
- Na und? Wir stärken uns doch nur, damit wir es bis zum nächsten Stockwerk schaffen. Rümpf nicht das Naschen, das ist guter Wein.
Er selbst trinkt aus der Flasche. Meine Backe ist gegen seine Schulter gepreßt, mit dem Hinterkopf spüre ich, wie der Wein durch seine Kehle gluckst. Süß und feurig.
- Tokaier. Aus Ungarn. Glaub mir, das ist kein Gift.
- Ich kann nicht so schnell.
- Ist ja auch keine Eile.
Er nimmt mir den Becher aus der Hand, und wir küssen uns wieder. Plötzlich fühle ich Dunkel in meinem Inneren, es wogt und flutet gegen seinen gierigen Mund, gegen die Hände, die meine Schultern umklammern, gegen das schwarze Hemd, dessen rauher Stoff meine Brüste scheuert. Meine Haut wird immer dünner, gleich wird das Dunkel aus mir hervorquellen. Es erfüllt meine Lippen und treibt meine Finger. Vlads Hand ist in meinem Schoß versunken. Was hat die Alte eben gesagt vom Beinebreitmachen?
- Laß mich. Nun hör doch auf!
- Wie du willst.
Er hat meinen Zopf gelöst und spielt mit meinem Haar. Er dreht und windet es, baut daraus einen Turm und zerstört ihn wieder, und sein Atem flattert über meinen Hals wie ein Schmetterling.
- Trink noch einen Schluck.
Meine Lippen sind taub, den Wein schmecke ich kaum noch, deswegen fällt es mir nicht schwer, auszutrinken bis auf den Grund. Der Becher entgleitet meinen Fingern und rollt mit leichtem Geschepper die Stufen hinab.
- Kleiner Imbiß gefällig?
Vlad hält mir einen stämmigen Rhabarberstengel hin - sicher aus der Einkaufstasche der Alten.
- Wo hast du denn den her?
- Schlichte Selbstverteidigung. Beinahe hätte sie mir damit das Auge ausgestochen.
- Selber schuld. Man soll eben nicht auf Treppen herumlungern.
- Mitten auf der Straße küssen magst du ja nicht.
Jetzt schmeckt sein Mund säuerlich nach Rhabarber. Seine Hand liegt unter meinen aufgelösten Haaren. Meine vom Dunkel überfluteten Hände wandern über seinen Körper. Sein Hemd ist feucht von Schweiß, sein Haar überraschend weich. Meine Finger wollen die Furche zwischen seinen Brauen glätten, doch es gelingt ihnen nicht. Dann nisten sie sich in der heißen Grube neben seinem Hals ein.

Jemand kommt die Treppe hinauf, ich höre seine Schritte.
- Ciao, Vita.
- Ciao, Iv.
- Ihr wärmt euch hier auf, was?
- Magst du auch einen?
- Da sag ich nicht nein.
- Der Becher ist uns gerade weggerollt. Du mußt aus der Flasche trinken.
- Mit Vergnügen.
Ich bin aufgestanden. Es ist unbequem sich zu unterhalten, wenn einer steht und einer sitzt. Vlad schließt sich meinem Beispiel an. Er ist einen halben Kopf größer als Iv.
- Ich sollte euch vielleicht einander vorstellen. Das ist Vlad, aus Moskau. Und das ist Iv, aus Riga.
- An der Knete scheints ja bei dir nicht zu hapern, wenn du dir so ein edles Gesöff leisten kannst.
- Ich kaufe, was mir schmeckt. Was dagegen?
- Nee, nee. Wir sind hier bloß Herberes gewöhnt.
Iv läßt leicht seine Tasche klirren. Ich weiß, sie ist vollgestopft mit Weinflaschen, einem billigen georgischen Krätzer. Ein paar Mal bin ich bei Arta dabei gewesen, wenn Iv auspackte. Auf der
Schule war er mit Arta in einer Klasse. Im allgemeinen ist er sanft und wortkarg. Nur manchmal legt er dann plötzlich los mit erregten Reden, über den Vulkan, unter dem wir alle gebaut haben und der jetzt noch schläft, aber irgendwann erwachen wird...

Iv klopft an, doch niemand antwortet.
- Sollen wir? fragt er mich, als ob wir zusammen gekommen wären und ich müßte jetzt entscheiden. Doch das soll er gefälligst selber tun.
- Mir egal.
- Also gut. Dann wollen wir uns hier mal häuslich niederlassen.
Iv öffnet die Tür, läßt sie sperrangelweit aufstehen und macht es sich gleich auf dem einzigen Sofa bequem.
- Schließt deine Freundin nie ab?
-Nie.
- Weil sie eine Dichterin ist?
- Sie sagt, den Schlüssel verliert sie meistens oder er klemmt. Deswegen benutzt sie ihn nicht mehr.
- Und das ist für uns alle sehr bequem so, fügt Iv hinzu. - Komm, wann du willst - und du bist immer willkommen. Komisch, daß heute noch keiner da ist.
Ich nehme ein Kissen und setze mich auf den Fußboden. Vlad bleibt stehen und mustert den Raum mit verkniffenen Augen. Ich kann ihn verstehen, am Anfang ist es schwer, sich an derlei zu gewöhnen. Auf den Wänden weitgeschwungene Linien in Gelb und Violett. Die hohe Decke übersät von Flecken, unablässig bröckelt von ihr der Putz. Arta pflegt lachend zu sagen, hier sei ihr nichts anderes übrig geblieben, als das Trinken aus der Flasche zu lernen, weil in die Gläser immer der Kalk rieselt. Die Linien auf den Wänden stammen noch von dem Künstler, der früher hier gearbeitet hat. Bestimmt im Delirium gemalt. Aber Arta stört sich nicht daran. Ihre Bücher hat sie in den Ecken aufgestapelt und weist alle Vorschläge ab, doch ein Regal zu bauen, das die Wände wenigstens notdürftig verdeckt. Möbel gibt es überhaupt keine, abgesehen von dem klapprigen Sofa und einigen noch nicht verheizten Kisten. Und einem an der Wand lehnenden Gemälde, auf dem ein Typ dasitzt und Gitarre spielt. Er schaut geradeaus vor sich hin, und irgendwie gewinnt man den Eindruck, er sei blind. Um ihn herum schweben weiße Blütenblätter in der Luft, und er sieht sie nicht.
- Wer hat das gemalt? fragt Vlad, der sich jetzt dem Bild gegenüber hingehockt hat, sicher, um die gelben und violetten Linien nicht mehr ansehen zu müssen, von denen man Augenflimmern bekommt.
- Johan. Gefällt es dir?
- Johan - und weiter?
- Den Nachnamen weiß ich nicht. Er schaut hier manchmal vorbei. Ein sehr netter alter Mann.
- Ist er Mitglied im Künstlerverband?
Iv prustet los.
- Ach so, unser werter Herr Gast interessiert sich für die Personendaten. Man kann ja schließlich nicht so mir nichts dir nichts die Kunst genießen: nein, vorher muß geklärt werden,
ob der Künstler auch über das erforderliche moralische Niveau verfügt.
- Nein, nein, so schlimm ist es mit mir noch nicht, sagt Vlad lächelnd - Ich würde diesen Maler nur gern einmal kennenlernen. Wo kann ich ihn treffen?
- Geh halt abends durch die Cafes, da findest du ihn schon.
- Dann muß Vita mitkommen.
- Das macht ihr beide mal unter euch aus, gibt Iv schroff zurück. Vlad streckt ihm begütigend die Flasche hin, doch Iv schüttelt den Kopf.
- Wißt ihr was, ihr Turteltäubchen, schnäbelt ihr hier mal schön weiter. Ich muß noch kurz weg. Wir sehen uns.
Die schwere Tragetasche läßt er auf dem Fußboden stehen, da kommt er bestimmt zurück. Die Tür ist jetzt zu. Vlad setzt sich neben mich, seine Hände schlüpfen unter mein Kleid. Seinen Schultern sind mit Kalk berieselt. Der blinde Mann auf dem Gemälde schaut durch mich hindurch. Ich darf nicht so sitzen bleiben. Ich muß aufstehen, solange ich noch dazu in der Lage bin.
- Na, was ist, Kleine? Warum bist du so unruhig? Eine unverschlossene Tür ist der beste Schutz. Ich habe doch keinen Schlüssel.
- Soll ich dir ein Gedicht von Arta übersetzen?
Auch Manuskripte liegen stapelweise in allen Zimmerecken herum. Manchmal füttert Arta damit ihr Kanonenöfchen. Mindestens zwei Gedichtbände habe ich schon verheizt, sagt sie dann und lacht. Vielleicht wird der dritte deswegen umso genialer.
- Du bist selbst ein Gedicht. Laß mich noch ein bißchen lesen.
- Bin ich denn in Blindenschrift?

Vlads Fingerspitzen gleiten über meine Haut wie über eine Buchseite. Er murmelt etwas, so leise, daß ich nichts verstehe, obwohl sein Mund ganz nah ist.
Ich lange zu einem der Stapel hinüber. Arta ist einem nicht böse, wenn man in ihren Papieren kramt. Sie hat nichts zu verbergen, zumindestens nicht in diesem Atelier. Doch es kann ja nicht sein, daß das ihr ganzes Leben ist. Ich glaube nicht, daß man seine Tür immer unverschlossen lassen kann.
- ERLAUB MEINEN FINGERN DEIN GESICHT ZU ERRATEN
  DURCH DIE VON DER ZEIT GESPÜLTEN KOLKE
  LASS MEINE LIEBKOSUNG GLEITEN IM WARMEN STROM.
- Bitte, sei so lieb.
Er hat sich auf den Rücken gelegt, den Kopf auf meinen Schoß gebettet, wie einen schweren warmen Stein, und meine Hand an seine Backe gezogen.
- Die von der Zeit gespülten Kolke - das klingt schön. Sind sie hier? Worauf willst du hinaus?
- Auf gar nichts. Ich übersetze doch nur.
- Das kannst du ausgezeichnet. Du sprichst Russisch besser als ich. Du solltest Übersetzerin werden.
- Mein Leben lang fremde Worte übersetzen? Nein, danke!
- Ach je, wie jung du noch bist!
- Du redest wie ein alter Mann.
- Sehe ich denn nicht alt aus?
Sein Gesicht ist dunkel und glatt. Ein paar hellere Fältchen in den Augenwinkeln. Scharfe Lippen. Ich fahre mit dem Finger darüber, und für einen Moment kommt es mir vor, als würde ich mich gleich schneiden. Meine Hände kommen auf seinen hageren Wangen zum Stillstand. Seine Hände packen meine Handgelenke. Es tut weh. Dabei weiß ich doch, daß es ohne Schmerzen nicht abgeht.

- Ich sehe, ihr habt eure Zeit nicht nutzlos vertan.
Das hört sich beinahe an wie in einem altmodischen Theaterstück. In der Tür stehen Arta und Iv, während Vlad und ich uns auf dem Fußboden wälzen. Vlad läßt meine Arme los und springt auf. Ich bleibe auf meinem Kissen sitzen. Ich weiß nicht, ob ich zum Aufstehen Kraft genug hätte.
- Guten Tag. Sie sind vermutlich die Hausherrin.
- Ich bin Arta.
- Ich muß mich bei Ihnen für mein unbefugtes Eindringen entschuldigen.
- Laß gut sein. Du bist nirgends eingedrungen. Vita darf mitbringen, wen sie will.
Das ist vielleicht nicht besonders höflich ausgedrückt. Aber er hätte doch ahnen müssen, daß man hier über ihn nicht gerade erfreut sein würde, mit seinem allzu geschniegelten Äußeren. Vielleicht denkt er, es läge hauptsächlich daran, daß er Russe ist. Doch hier kommen regelmäßig Hippies zum Übernachten her, aus Moskau, Petersburg,Tscheljabinsk, und alle verstehen sich mit ihnen großartig. Auch Dima, Artas Freund, ist ein Russe, der zwar sein ganzes Leben hier verbracht hat, aber Lettisch nur holprig spricht. Niemand stört sich daran. Wie soll man Vlad das klarmachen? Und es würde es ihm auch gar nichts helfen, wenn er einen löchrigen Pullover anhätte, billige Zigaretten rauchte und einen Dreitagebart trüge. Wenn ich jetzt so von unten zu den dreien hinauf schaue, merke ich nur zu deutlich den durch keine Maske zu verbergenden Unterschied.

Dik hatte mich damals hergeschickt.
- Sie ist eine sehr gute Freundin von mir. Fast ebenso gut wie du. Bring ihr bitte diese Mappe. Mit
einem Gruß von mir.
- Wird sie sich nicht wundern?
- Nein. Sie wundert sich nur, wenn etwas Schlimmes passiert. Ein sehr idealistisches Wesen. Ihr käme es nur sonderbar vor, wenn ich jetzt im Knast, im Krankenhaus oder in der Hölle wäre - obwohl mir das im Moment eigentlich zukäme.
- Was dir zukäme, wäre ein normales Leben, wo du dich nicht zu verstecken brauchst wie ein Illegaler.
- Sie wird dir gefallen. Ihr beide seid euch ähnlich. Sag ihr, ich hätte Glück gehabt.
Doch das richtete ich nicht aus. Auf der Zugfahrt begann ich, mir die Zeichnungen in der Mappe zu betrachten. Alles war dort versammelt - die Gefängniszelle, deren Tür sich geradewegs zur Hölle öffnete, der überfüllte Krankensaal, wo alle dasselbe Gesicht hatten, die sonnenversengten Felsen, deren vertrocknete Blutlachen aussahen wie gepreßte Blumen im Herbarium eines schlampigen Riesen.
Damals drängte sich hier eine bunte Gesellschaft. Arta sagte, sie feiere ihren Geburtstag, doch das tut sie mindestens einmal pro Monat. "Schließlich ist keiner von uns nur einmal geboren" - diesen Spruch führt sie oft im Munde. Sie nahm mich auf wie ihresgleichen, bedrängte mich nicht mit Fragen, bestand nicht darauf, daß ich das mir in die Hand gedrückte Glas auch leertrank, und erwartete nicht, daß ich mich durch Originalität auszeichne - dort hatte jeder genug an seiner eigenen.
Das nächste Mal kam ich im Herbst. "Sag gar nichts", sagte Arta. Wir gingen auf den Platz, setzten uns auf eine Bank neben dem Springbrunnen, tranken Bier und dachten uns für die Passanten Biographien aus. "Der da ist ein pensionierter Rechtsanwalt. Sieh nur, wie er die Stirn runzelt - er erinnert sich gerade an einen verlorenen Prozeß." "Und die da ist Sekretärin bei einem ganz hohen Tier, völlig berauscht vom Bewußtsein ihrer Wichtigkeit." "Und der junge Mann dort? "Sicher ein Student aus einer kleinen Stadt. Pflichtbewußt und stets unausgeschlafen, weil seine pflichtvergessenen Kommilitonen im Wohnheim jede Nacht ihre Gelage veranstalten." "Darf ich vorstellen - das ist Iv."
Beim Abschied hatte sie mir dann zugeflüstert: "Keine Angst. Er kommt wieder." Und ich glaubte ihr. Auch jetzt noch meine ich, daß Dik irgendwann wiederkommt. Aber vielleicht werden wir einander dann nicht mehr erkennen.

Evija kommt, barfuß und mit Wiesenblumen im Haar. Ihr Kleid hat sie sich selbst geschneidert, denn etwas derart Frivoles wird von unserer Bekleidungsindustrie nicht hergestellt und auch nie hergestellt werden. Gleich hinter ihr tritt Raf ins Zimmer und verkündet grimmig, dies sei nun endgültig der letzte Streit zwischen ihnen. Er werde keinen Frieden mehr schließen, allerhöchstens dann, wenn Arta persönlich die Aussöhnung in die Hand nehme. Da Evija und Raf sich ständig zanken und wieder vertragen, weckt das keine besondere Aufmerksamkeit mehr.
Es dämmert. Arta zündet zwei Kerzen an und stellt die eine auf den Fußboden, die andere aufs Fensterbrett. Es geht kein Windhauch, die Flammen steigen gerade nach oben. Wieder klopft es an die Tür. Die Leute, die jetzt hereinkommen, kenne ich nicht. Einer von ihnen läßt sich schwer neben mich nieder und knufft mich dabei mit der Schulter an. Seine abgerissene Jeansjacke verströmt einen sauren Geruch, man merkt, daß er mehrere Nächte nicht aus den Kleidern gekommen ist.
- Ciao miteinander!
Ich rücke ein wenig zur Seite, nur ein kleines bißchen, doch er bemerkt es und fühlt sich gekränkt.
- Oho, was für feine Herrschaften!
- Ihr lebt hier wie in Abrahams Schoß und habt keine Ahnung, was in der Welt vorgeht, ruft der andere eben Hereingekommene voller Entrüstung. - Vorhin am Bahnhof sind die Bullen
auf uns los. Mit knapper Not sind wir nochmal davongekommen.
Warum die Miliz handgreiflich wurde, frage ich nicht. Ich bin überzeugt, daß keiner von ihnen sehr erpicht darauf ist, die Wahrheit zu erzählen, weil sie meist nicht besonders schmeichelhaft ausfällt. Und in diesem Fall ist alles klar: ein paar obskure Pennertypen haben auf dem Bahnhofsplatz versucht, eine Flasche zu leeren, nichts weiter. Kein ernsthafteres Delikt als "Verzehr alkoholischer Getränke an einem öffentlichen Ort". Aber genug, um sich für einen Augenblick als Held zu fühlen. Gesetzesübertretung - welch stolzes Wort. Bringen eigentlich alle Staaten ihre Bürger dahin, daß sie sich darauf was einbilden?

- Vita, ich muß dich was fragen.
- Ja?
- Gehen wir ein wenig beiseite, okay?
Iv und ich stellen uns in die schummrigste Ecke, Iv gegen die gelbviolette Wand gestützt.
- Dein Pulli ist bekleckert.
- Und du hast keine Angst, dich zu bekleckern?
- Soll das ein Vorwurf sein?
- Ich wundere mich nur. Du bist so...
- Jung und rein, nicht wahr?
- Ja. Ja! Was willst du mit diesem Affen?
- Nach einem Affen sieht er mir eigentlich nicht aus...
- Natürlich. Ein Mann mit gesellschaftlicher Position und geschmeidiger Zunge. Sehnst du dich wirklich nach sowas? Willst du aus dem neunten Stock uns allen auf den Kopf spucken?
Wird es dir hier in der Provinz zu langweilig? Bildest du dir vielleicht ein, der meint das ernst? Der bringt dich nach oben in der Welt? Die meinen es nie ernst!
- Meine Oma hat mir früher immer aus der Bibel vorgelesen. "Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet."
- Ich will über niemanden richten. Es tut mir nur leid, daß du so... Gut, ich versteh schon. Hat keinen Sinn, dir das auszureden. Pfeifen wir uns noch einen rein?
Er reicht mir die Flasche mit dem georgischen Krätzer, und wir pfeifen uns noch einen rein.

- Arta, weißt du nicht, wo man Juhan findet?
- Doch. In Carnikava auf dem Friedhof. Auf der linken Seite nahe beim Zaun.
- Meinst du das ernst?
- Mit sowas treib ich keine Scherze. Eines Abends haben sie ihm auf der Straße eins über den Schädel gegeben und seine Tasche mitgehen lassen. Dabei war gar nichts drin, höchstens ein
paar vertrocknete Pinsel und ein Stück Pirogge. Er hat sich noch mit eigenen Kräften nach Hause geschleppt und ins Bett gelegt, aber am nächsten Morgen wollte er partout nicht mehr
aufwachen. Jetzt bleibt nur noch der verspätete Ruhm abzuwarten.

- Hat einer ein Stückchen Papier da?
- Da, guck mal, ein ganzer Stapel. Greif zu! - Arta hat auch nichts dagegen, wenn man ihre Gedichte zum Zigarettendrehen benutzt. Das Zeug da in der Streichholzschachtel ist sicher
Gras, mit Tabak vermischt.
- Der erste ist für die Damen.
Süßlicher Rauch quirlt hoch. Die Zigarette wird reihum weitergereicht, wie bei den Indianern die Friedenspfeife. Von einem so kleinen bißchen wird man zwar nicht richtig high, aber es entsteht ein Gefühl von Nähe. Man ist unter seinesgleichen.

Ein halb zerrissenes Blatt Papier kommt auf meine Knie niedergesegelt.
JA ICH KENNE IHN JENEN KÜNSTLER
DER DIE SONNENUNTERGÄNGE HINMALT FÜR DIESEN SOMMER.
KOMM VERGIESS VOM SPRIT EIN PAAR TROPFEN DEM TOTEN ZUR GABE.

- Also warum? Warum soll ich ständig an die Zukunft denken? fragt Raf mit lauter Stimme. - Vielleicht schlägt morgen irgendein Idiot mir auf offener Straße den Schädel ein. Ob ich ein
Sparbuch in der Tasche habe oder nicht, ist doch völlig belanglos. Für den Beerdigungsschnaps legen die Freunde zusammen.
Evija schluchzt leise. Raf hat ihren Lippenstift genommen und schreibt damit etwas an die Wand. Die dunkelroten Buchstaben wanken und stolpern übereinander.
- Sechs Rubel... dafür hab ich sechs Rubel bezahlt, du Scheusal! jammert Evija.
- So ein Irrsinn, sagt Raf vorwurfsvoll, - dafür gibt es ja schon zwei Flaschen Schnaps mit Zukost. Und fährt mit noch größerer Inbrunst fort, die teure Schminke auf das schizophrene
Liniengewirr der Mansardenwände zu schmieren:
SCHNELL LEBEN - JUNG STERBEN!
- Eine Insel in der Südsee. - Das ist Artas Stimme. - Hört ihr nicht die Wellen? Und das Rauschen der Palmen?
Höre ich was? Oder höre ich nichts? Iv klimpert leise auf der Gitarre. In der Mitte des Raums dreht sich jetzt Evija im Tanz und streckt die Arme nach einem nichtexistenten Partner aus.
- Eine Vollmondnacht, und die Inselbewohner bereiten sich auf den Mond tanz vor. Sie kommen aus ihren Hütten und setzen sich um die Feuer in den Sand. Genauso wie wir.
Ja, wir sind Inselbewohner. Ein riesiger Ozean trennt uns von der großen weiten Welt, wo unglückliche Menschen in Büros verkümmern, an Fließbändern stehen und in Kriegen sterben.
Wir haben unsere kleine warme Insel, unsere Feuer und den Vollmond.Vlad und ich stehen am Fenster, ich lehne mich gegen das Fensterbrett und spüre seine Hände auf meinen, seinen
Körper an meinem Rücken. Unsichtbare Funken springen zwischen uns hin und her. Draußen ein grauer gewöhnlicher Großstadtabend. Artas Mond läßt sich am besten mit geschlossenen
Augen betrachten.

Jemand brüllt. Ich möchte meinen Blick nicht vom Mond losreißen. Aber es ist ein solches Gebrüll, daß ich mich einfach umdrehen muß.
In der Mansarde stehen zwei Fremde in blaugrauer Kleidung. Mit Uniformmützen. Zwei Bullen. Und der eine von ihnen brüllt:
- Dies ist kein Wohnraum! Niemand von Ihnen ist berechtigt, sich nach 23 Uhr hier aufzuhalten! Alle mit aufs Revier zum Protokoll!
- Dieses Atelier gehört meinem Freund, er hat uns erlaubt, hier zu sein. Sie können ihn ja anrufen. - Artas Stimme klingt sehr leise.
- Ich muß überhaupt niemanden anrufen! Los, los, nicht getrödelt hier! Unten wartet der Wagen! Alles Weitere auf dem Revier!
Arta steht mitten im Zimmer. Der eine Milizmann hält sie am Arm gepackt und zieht sie zur Tür, der andere versucht, Raf hochzuzerren. Es ist dunkel in der Mansarde, ich sehe nicht richtig, was in den abgelegeneren Winkeln passiert. Wenn es bloß noch dunkler wäre, daß man sich in der Dunkelheit irgendwo verstecken könnte... Doch ich weiß, das geht nicht. Iv ist aufgesprungen und stellt sich schützend vor Arta. Der Bulle holt aus und schlägt ihm ins Gesicht. Es gibt ein lautes Geräusch, daß ich mir am liebsten die Ohren zuhalten möchte. Aber ich kann mich nicht rühren.
- Du treibst hier mit mir keine Scherzchen! Marsch, zur Tür!
- Aber Sie dürfen doch nicht...
Noch ein Schlag, genauso laut wie der erste. Die Flamme der näher stehenden Kerze zuckt auf und erlischt. Die andere brennt weiter.
Vlad ist zu dem brüllenden Bullen hingegangen und erklärt ihm etwas, redet schnell und leise auf ihn ein. Ich sehe, wie er ein Büchlein mit rotem Einband schwenkt. Sicher ein Mitgliedsausweis, von der Partei oder vom Schriftstellerverband. Der Milizmann hört zu und nickt zustimmend. Gleich wird alles wieder gut werden. Ich darf nur nicht auf den roten Fleck
in Ivs Gesicht schauen. Er wird ja wohl wieder verschwinden. Ich darf nicht auf Ivs Gesicht schauen. Wenn ich anfange zu schreien, ist alles verloren.

Das ist alles nur ein Traum. Nichts weiter. Ein Traum von einem Moment, in dem ich nicht zugegen war. Ich weiß nicht, wieviele von ihnen es damals waren und wer ihnen öffnete, ob Dik selber aus meinem Zimmer zur Tür kam und ob er überhaupt zu der Zeit schon wach war - wir hatten doch in der Nacht zuvor so lange geredet, und danach hatte er noch in der "Chronik der Marsmenschen" gelesen. Ebenso gut konnte er noch geschlafen haben, und wer hatte ihn dann geweckt, und wie war das abgelaufen? War vielleicht auch ihm im ersten Moment alles wie ein böser Traum vorgekommen? War man grob mit ihm umgesprungen? Oder hatte man zu ihm nichts weiter gesagt als: Mitkommen! Und was hatte er darauf geantwortet? Hatte er tatsächlich gelächelt? In meinem Traum hatte er das nämlich. Gerade so wie Iv jetzt. Mit einem roten Fleck auf der Backe.

Jemand hat mich beim Arm gefaßt und zieht mich fort. Nein, das ist kein Bulle, das ist Vlad.
- Hast du alles geregelt?
- Komm! Jetzt komm doch endlich!
Natürlich ist er stärker als ich, doch ich klammere mich mit der freien Hand am Türpfosten fest. Ich sehe, wie sich die Spitze eines Milizstiefels dem immer noch ganz benommenen Raf in die Seiten bohrt.
- Los, hoch mit dir!
Dann löst sich meine Hand vom Pfosten. Vlad trägt mich die Treppe hinunter, als wäre ich ganz klein und könnte noch nicht laufen. Unten stellt er mich auf die Füße, doch meinen Arm gibt er nicht frei. Sein Griff schmerzt.
- Du tust mir weh.
Doch er scheint mich gar nicht zu hören.

4

Wir stehen am Straßenrand, hinter uns eine blaue Neonreklame: UHRENREPARATUR. Die blauen Lichter streifen über Vlads Gesicht. Durch die Dunkelheit schwimmt ein kleines grünes Licht auf uns zu. Vlad hebt die Hand. Aber ich will nicht in das Taxi einsteigen, ich muß zurück in die Mansarde.
Vlad schubst mich auf die Hinterbank und setzt sich neben mich. Ich rüttele am Türgriff, doch die Tür auf meiner Seite ist abgeschlossen.
- Laßt mich raus! Laßt mich sofort hier raus!
Der Chauffeur schaut sich nach uns um. Ein älteres, kluges Gesicht.
- Irgendwelche Meinungsverschiedenheiten?
- Achten Sie nicht weiter drauf. Die Kleine hat zuviel Wein intus, das ist alles. Ich muß sie nach Hause bringen.
Das Taxi fährt weiter. Der Chauffeur schaut immer geradeaus.
- Du Aas, du! In was ziehst du mich da hinein? Willst du mir mein Leben ruinieren? Du...! Du...!
Ich weiß, was diese russische Schimpfwörter bedeuten. Man hört sie oft auf der Straße und liest sie auf Bretterzäunen. Die Typen in der Schule gebrauchen sie auch manchmal unter sich - streuen sie zwischen die normalen Wörter ein wie obszöne Kommas. Jetzt zischt sie mir Vlad ins Ohr. Er hält mich an der Schulter gepackt und schüttelt mich. Mir ist schwindlig. Warum hält das Auto nicht an?
- Du verdammte kleine Nutte!
Der salzige Geschmack in meinem Mund. Ich renne durch dichtes Gestrüpp, Zweige stechen mir ins Gesicht. Vlads Hand klatscht auf meine Backe. Ich renne durchs Gestrüpp, doch irgendwo da vorne muß doch offenes Feld kommen.
- Kapierst du, was da hätte passieren können? Wenn sie ein Protokoll gemacht hätten? Verhaftet in einer Drogenhöhle! Alkoholexzesse mit staatsfeindlich eingestellten Individuen! Wie hätte ich mich davon je wieder reinwaschen sollen? Und du spuckst einfach darauf? Du...! Du...!

Das Taxi hat angehalten. Vlad steigt aus und zerrt mich aus dem Auto. Draußen ist es stockdunkel. Ein dunkler Garten. Unter meinen Füßen schimmert bleich ein Pfad aus Steinplatten. Es riecht nach Jasmin. Merkwürdig, daß ich noch Gerüche wahrnehme. Als wäre ich noch am Leben.
Wir setzen uns auf eine Bank. Vlad redet die ganze Zeit. Jetzt hat er wieder dieselbe Stimme wie gestern abend, wie heute am Meer und auf der Treppe - warm und tief. Doch der Sinn seiner Worte rauscht an mir vorbei.
Er hat sich auf die Knie geworfen und streichelt meine Beine. Und redet immer weiter. Ich stehe auf und will fortgehen, doch seine Hände geben meine Knie nicht frei. Diese zwei starken Hände. Und diese Stimme.
- Du darfst mich jetzt nicht verlassen. Ich drehe durch, wenn du weggehst. Ich habe die Beherrschung verloren, ja, ich habe mich aufgeführt wie der letzte Trottel. Du wirst mir das nie
verzeihen können. Ich kann es mir selbst nicht verzeihen. Schlag mich, tritt mich, mach mit mir, was du willst, aber geh nicht weg. Liebste, Schönste, liebes gutes Mädchen, bitte bleib bei
mir, bitte hab Mitleid, bitte...
Er steht auf, umarmt mich, zieht mich an sich. Mir ist, als sähe ich dieser Szene von der Seite zu. Als säße ich in einem Theatersaal. Auf der Bühne zwischen romantischen Kulissen zwei Menschen, die sich umarmen. Zwei Schauspieler.
- Ach Gott, du bist ja ganz durchfroren. Gehen wir auf mein Zimmer und wärmen uns auf. Ich mache uns einen Tee. Ich habe sehr guten Ceylontee. Du solltest vielleicht zu Hause anrufen,
daß alles in Ordnung ist, damit sich deine Eltern keine Sorgen machen. Komm, gehen wir... Ach bitte, nur für ein Weilchen...

Er führt mich in das neunstöckige Haus, in dessen Fenstern auch nachts das Licht brennt. Die Frau hinter dem Empfangstresen hebt den Blick vom Strickzeug und mustert mich von Kopf bis Fuß. Wenn ich noch am Leben wäre, würde es mir von diesem Blick kalt den Rücken herunterlaufen. Vlad begrüßt sie liebenswürdig, sie nickt stumm und läßt weiter die Stricknadeln blitzen.
Im Aufzug brennen grelle Birnen, taghell. An der Tür ist ein Spiegel, darin sehe ich mein Gesicht. Rote Flecken gibt es keine, sie sind inzwischen verschwunden. Meine Haare sind von unserem Sitzen auf der Treppe her immer noch aufgelöst. Es ist seitdem ja auch nicht viel Zeit vergangen, es kommt mir nur so vor, als läge das alles tausend Jahre zurück.
- Was ist das für ein Gefühl, einen anderen ins Gesicht zu schlagen?
- Lassen wir das. Ich hatte den Verstand verloren. Ich verstehe selbst nicht, wie ich das tun konnte. Wie ich gesagt habe - wenn du willst, schlag mich. Hier mein Gesicht. Bitte!
Sein Gesicht im Spiegel über meinem. Wahrscheinlich sogar ein schönes Gesicht. Seine Lippen beben. Sich drehen, ausholen und zuschlagen... Ich betrachte meine Hand. Klein, mit einer langen Lebenslinie und zwei Herzlinien. Im letzten Jahr habe ich ein Handbuch der Chiromantie vom Anfang des Jahrhundert studiert. Es muß doch einen Grund geben, warum wir alle so unterschiedlich gezeichnete Handflächen haben. Ausholen und zuschlagen - nein, das kann ich nicht.

Vlads Zimmer liegt im neunten Stock, zum Meer hin. Während er Tee kocht, stehe ich auf dem Balkon und zähle die Blinksignale der Bake. Ich habe einen flauschigen Pullover an, der mir fast bis zu den Knien reicht und in dessen Ärmeln meine Hände völlig verschwinden.
- Wahrsagerinnen müssen doch auch üben. Erzähl mir, was du in meiner Hand siehst.
- Du glaubst mir sowieso nicht.
- Versuch, mich zu überzeugen. Enthülle irgendein schreckliches Geheimnis aus meiner dunklen Vergangenheit. Versprich mir Glück und Ruhm - das werde ich dir bestimmt glauben. Und ein langes Leben, mindestens hundert Jahre.
- Ziemlich hohe Ansprüche, die du da stellst. Schau - das hier ist die Schicksalslinie. Sehr gewunden. Dich erwartet ein buntbewegtes Leben. Deinem Naturell nach bist du wahrscheinlich ein Raufbold. Und eingebildet. Aber das kannst du dir auch leisten- dieses Sternchen hier auf dem Jupiterhügel bedeutet, daß du über herausragende Begabung verfügst. Liebe sehe ich allerdings nicht. - 'Bemühe dich nicht, das zu suchen, was ich nicht habe. Sag mir lieber... Sag, hast du wirklich noch nicht begriffen, daß ich nicht normal bin?
Seine Hand lag weiterhin folgsam auf dem Tisch, im Lichtkreis der Lampe. Doch die Stimme klang verändert, ein wenig heiser - als wäre er lange gegen kalten Wind gelaufen. Auch mir stockte in dem Moment der Atem.
Ich will mich an jenen Abend nicht erinnern. Lange Zeit ist mir das gelungen. Fast war ich schon davon überzeugt, diese Aufnahme sei gelöscht.
- Das ist ja wirklich eine seltsame Frage.
- Wirst du mir jemals verzeihen können?
- Wovon sprichst du?
- Von mir. Ich dränge mich dir auf mit Gesprächen, verbrauche die Luft deines Zimmers, verschwitze deine Bettlaken, lasse mich von dir bedienen, erfreue mich an dir... Das alles ist verlogen und
niederträchtig, denn ich kann es dir nicht mit Liebe vergelten. Mit mir stimmt es nicht ganz. Ich kann keine Frauen lieben, und werde es auch niemals können. Der Mensch, ohne den ich nicht leben kann, hat mich vor die Tür geworfen. Wie ein langweilig gewordenes Spielzeug. Und du hast mich aufgenommen. Doch ich kann dich nicht einmal küssen...
- Das will ich auch gar nicht.
- Jeder will küssen, jeder. Jeder will Liebe, jeder will Wollust spüren bis zum Wahnsinn... Du müßtest jetzt hier mit deinem Typen sein. Mit einem, der bei dir einen hochkriegt. Mit einem richtigen Mann.
Der dich ordentlich durchrüttelt, daß du aufwachst und begreifst, was Leben ist. Auch wenn er dich unglücklich macht - und das wird er mit Sicherheit -, ist das immer noch besser als jetzt. Warum hängst du gelangweilt zu Hause rum? Geh raus und such dir deinen Kerl! Ich brauche deine Aufopferung nicht! Verfluchter Selbsterhaltungstrieb! Da nehme ich deine Freundlichkeiten entgegen und lasse dich die barmherzige Schwester spielen. Mein Gott, wie ich mich verabscheue!

Vlad ruft mich zum Teetrinken. Ich setze mich in den riesigen Klubsessel. Es wäre schön, wenn er mich jetzt mit seinen Reden in Ruhe ließe.
- Ich möchte keinen Tee. Ich werde jetzt besser mal gehen.
- Nein.
- Ich gehe.
- Nein.

Seine Hände auf meinen Hüften. Sein Mund auf meinen Lippen. Sein Mund überall. Seine Hände überall.
Der Flauschpullover schält sich von mir ab. Vlads Hände sind heiß. Aber in mir ist es kalt und leer.
- Du willst es doch selber. Es wird dir Spaß machen. Du bist so weich. Du riechst nach Meer.
- Laß mich. Bitte, hör auf!
- Das kann ich nicht.
- Ich schreie.
- Schrei nur!
Die Nacht ist so still. Ganz ohne Wind. Wie soll ich da schreien?
- Liebste... meine Liebste... meine Kleine... mein Sternchen...
Es tut weh. Das ist alles, was ich fühle. Wenn es mir weh tut, bin ich vielleicht doch noch am Leben.

Auf dem Tischchen neben dem Bett liegt Vlads Armbanduhr. Sie zeigt halb vier. Ich hebe seinen Arm von meiner Brust. Er wacht nicht auf.
Mein weißes Kleid liegt auf dem Fußboden wie ein krepiertes Gespenst.
Auch mein Gesicht im Spiegel an der Aufzugstür ist gespenstisch. Als hätte ich etwas Furchtbares geträumt.
Nur das Meer ist wie immer. Kalt, wegen der Windstille. Das Wasser ist nur dann warm, wenn Meerwind weht.
In der Strandwache schläft bestimmt alles noch. Ich kann hinausschwimmen, so weit ich will. Und noch weiter.

Kauguri - Villa Waldberta - Visby
1998 - 1999

Zweites Buch

Durch die Gummisohlen der Turnschuhe hindurch glühte die Erde. Die beiden Mädchen kicherten.
- Ich brate gleich.
- Und ich bin schon ganz durch. Kannst mich gleich aufessen. Hol schon mal Messer und Gabel!
Nach einigem Warten auf eine Lücke im Strom des Verkehrs gelangten sie auf die andere Chausseeseite und überquerten eine kleine Wiese. Hitzetrunkene weiße Falter taumelten von
Grasbüscheln auf, ihnen gerade ins Gesicht.
- Mama, du hattest versprochen, daß du heute früher kommst.
- Es ging leider nicht.
Das allabendliche Ritual. Worte, die durch endlose Wiederholung ihren Sinn verloren haben. Ebenso wie das in der morgendlichen Hast hingeworfene "Heute abend versuche ich früher zu kommen.”
- Gleich geht die Sonne unter.
- Uninteressant. Wieder nur so ein rosa Sonnenuntergang.
Den ganzen Abend lang sahen Ance und Laine dem Sonnenuntergang zu und zählten die Farbtöne - so viele Rot, so viele Gelb. Am allermeisten Rosa. Zwei Violettöne. Und das Schwarzblau eines nahenden Gewitters Ance hoffte immer noch auf grüne Abendwolken am Horizont.

Vita watete ins Wasser. Nicht nötig, sich umzuschauen - sie wußte, Laine würde sich mit ihrem Geschick abfinden und bei ihrer kleinen Schwester bleiben. Und erst später dann, wenn Mama schon dabei war, an Land zurückzuwaten, würde sie die halbfertige Sandburg verlassen und dann schwimmen gehen - nicht mehr in Wolken von Spritzern wie noch letztes Jahr, nein, diesen Sommer ging sie gemächlich ins Wasser, ohne Hast, und machte nicht einmal dann einen Sprung, wenn eine plötzliche Welle ihr bis ans Kinn schwappte.
An den flachen Stellen war das Wasser unglaublich warm, nur bei den Bojen merkte man ein wenig Kühle. Dort entlang schwamm sie, von einer Boje zur anderen, immer weiter fort von dem rosa Sonnenuntergang. Dann legte sie sich auf den Rücken und spürte ihre langen Haare im Wasser wallen. Wie bleiche Wasserpflanzen, dachte sie. Oder weiße Seeschlangen.

2
- Wie lange kennen Sie Vita Laukmane schon?
- Fast mein ganzes Leben.
- Und näher?
- Mindestens fünfzehn Jahre.
- Sie kannten sie also schon vor ihrer Heirat?
- Ja.
- Haben Sie gemeinsame Interessen?
- Ja. Wir interessieren uns beide für ihr potentielles Werk.
- Würden Sie mir das genauer erklären?
- Sie schreibt ja nie etwas zu Ende. Aus Zeitmangel. Aber sie arbeitet ständig an ihren Sachen. Und sie diskutiert gern mit mir über mögliche Entwicklungen ihrer Sujets. Manchmal ruft sie schon früh am Morgen an, um mir irgendeinen Vergleich mitzuteilen, der ihr in der Nacht eingefallen ist. Kommt Ihnen das lächerlich vor?
- Nein.
- Diese paar Büchlein, die sie bisher zustande gebracht hat - das ist ja noch nicht das Wahre. Allenfalls eine Art Sprungbrett...
- Haben Sie ihr finanziell ausgeholfen?
- Ab und zu.
- Und dieses Sommerhaus haben Sie ihr vermietet?
- Ja.
- Ist Ihnen an ihrem Verhalten irgendetwas Seltsames aufgefallen?
- Das letzte Mal trafen wir uns ganz zu Anfang des Sommers. Ich gab ihr die Schlüssel zum Sommerhaus, wir redeten ein Weilchen - und das wars schon. Sie war nett. Sah gut aus. Sie hatte sich die Haare blond gefärbt. Das stand ihr. Ich hatte vor, sie später einmal zu besuchen, aber daraus wurde dann nichts.
- Haben Sie danach nicht mit ihr telefoniert?
- Nein, sie hat nicht wieder angerufen.
- Und Sie?
- Ich rufe nie bei ihr an. Das ist so üblich zwischen uns.
- Wegen ihres Mannes? -
So einfach liegen die Dinge nicht. Aber ich denke, das brauchen wir jetzt nicht näher zu erörtern. - Sie wissen also nichts über ihr Leben in den letzten Monaten?
- Nein.

- Weißt du, March - wenn ich Märchen schreiben würde, wärest du mein Hauptheld.
- Der Dummling?
- Nein, der Drachentöter.
- Ist das nicht ein und dasselbe? Um sich auf so etwas Unsinniges einzulassen, muß man doch ein bißchen dumm sein. Die Drachen kann man nicht auszurotten. Ich glaube, jeder hat da
seine eigenen.
- Aber den Drachen der Armut erschlägst du immer, wenn er mich verschlingen kommt.
- Ja, und nach einem Monat erhebt er wieder sein Haupt.
Vita warf sich in die Sofaecke, ihre Sandalen klapperten auf dem Fußboden. March packte mit beiden Händen ihre nackten braunen Beine. Die Knöchel waren ein wenig geschwollen. Sicher hatte sie wieder die ganze Nacht am Schreibtisch zugebracht. Er beugte sich näher.
- Laß lieber. Ich stinke nach Schweiß und Straßenbahn.
- Nein. Du riechst nach Meer.
- Egal, trotzdem. Wenn du bloß nicht auf der obligatorischen Bezahlung bestehst.
March massierte ihr sanft die Knöchel.
- Ich hatte mir geschworen, dich nicht mehr anrufen. Aber heute morgen, als die Kleine von der Monatskarte anfing - da habe ich wieder nachgegeben. Ich möchte nicht, daß sie das
Schwarzfahren lernt. Schlimm genug, daß ich es mußte.
- Was machst du, wenn eine Kontrolle kommt?
- Je nachdem. Wenn es eine mürrische Frau ist, verdrücke ich mich zur Tür. Und wenn es ein pickliger Jüngling ist, zieh ich ein betrübtes Gesicht: O je, ich hab die Karte grad nicht dabei - machen Sie mich jetzt einen Kopf kürzer?
- Hör mal, ich könnte doch...
- Mich und meine Töchter aushalten?
- Wenigstens dafür sorgen, daß ihr nicht schwarz zu fahren braucht.
- Ich weiß - du bist ein edler Mensch. Der Held meiner ungeschriebenen Märchen. Zu gut für dieses Leben.
March lächelte und massierte weiter ihre Knöchel. Dann stiegen seine Hände langsam höher. Vitas Haut war immer kühler als seine Hände. Sie lag vollkommen reglos.

- Bist du noch da?
- Ich träume gerade. Ich lebe auf einer Südseeinsel. Und ich muß nichts tun. Muß nirgendwo hinhetzen.
- Was machst du den ganzen Tag auf deiner Insel?
- Ich liege im heißen Sand.
- Darf ich mich dazulegen?
Er zog ihr behutsam den dunkelgrünen Pullover aus und legte sich zu ihr in den heißen Sand. Es war wie immer - Vita war bei ihm und zugleich doch nicht. Unter seinen Berührungen bewegte sie ihren Mund und roch noch stärker nach Meer. Sie gab sich hin, und er genoß es, unglaublich stark, doch sicher fühlte er sich dabei trotzdem nicht.
Heute hatte sie es nicht eilig mit dem Aufbruch. Das war ungewöhnlich - als wäre ihr inneres Uhrwerk stehengeblieben. Er spielte lange mit ihrem Haar, flocht es in neunundzwanzig Zöpfe, und sie führte vor dem Spiegel wilde Tänze auf. Er hatte eine alte Jazzkassette eingelegt, Vita streckte ihre Arme einer imaginären Sonne entgegen und bot der Sonnengottheit ihre nackte Gestalt dar, während sich ihr Gesicht hinter einem Fächer aus blonden Zöpfen verbarg.
- Tanzen auf deiner Insel alle Frauen so?
- Nein. Manche haben davor Angst. Mit diesem Tanz kann man das Unheil herbeirufen.
- Und du hast keine Angst?
- Nein. Ich habe alles Unheil schon abbekommen.

Sie nahm aus ihrer Handtasche einen Packen Fotos.
- Hier. Habe ich heute morgen gekriegt.
Fremder Wohlstand in prächtig leuchtenden Farben. Ein Pool mit blau schillerndem Wasser und junge Leute in Badeanzügen. Ein Einfamilienhaus mit zwei lächelnden Alten auf der Freitreppe. Gepflegte Pferde im Park mit gepflegten Reitern im Sattel. Familientreffen mit Appetithäppchen und langstieligen Gläsern und dezentem Lächeln in die Kamera.
- Meine Verwandtschaft. Großmutter und Großvater und Cousins und Cousinen unbekannten Grades. Schade, daß sie kein Känguruh mit aufs Bild genommen haben.
- In Australien? Das hast du mir nie erzählt.
- Was gibt es da groß zu erzählen? In meinen geschwätzigen Zeiten war es nicht Mode, mit der ausländischen Verwandtschaft anzugeben. Und mir paßte die ganze Geschichte auch Irgendwie nicht. Diese schöne Geschichte, Großpapa der Kapitän. Unser großer Seefahrer. Er besaß eine eigene Jacht. Bei Kriegsende hat er sich dann mit seiner Frau in ruhigere Gewässer abgesetzt. Und die Schwiegermutter blieb mit den beiden Enkelkindern in Riga zurück. Sie hatte Angst vor der Jacht und dem Meer. Und vor allem war für sie eben Lettland der Mittelpunkt der Welt. Sie hat die Mädels großgezogen, ganz allein.
- Deine Urgroßsmutter?
- Ganz recht. Ich war ungefähr zehn, als Omi einmal zu Besuch kam. Sie sah jünger als ihre Töchter. Die waren ausgepowert von der Arbeit und vom Kindergroßziehen. Aber sie war eine Dame, mit einem Hauch von Welt.
- Hat sie dich eingeladen?
- Sie ist alt geworden. Hat Angst, daß das Zusammengesparte irgendwann futsch ist. Und sie möchte ihre Urenkelinnen sehen.
- Und - fahrt ihr?
- Ich weiß noch nicht.

Vita löste ihre Zöpfe und zog den Pullover an. Die letzte Möglichkeit, begriff March. Die letzte Möglichkeit, noch etwas zu ändern.
- Du willst doch nicht etwa nach Australien?
- Wieso nicht - ist es da schlechter als anderswo?
- Weil du dort kein Sommerhaus hast.
- Bei Omi unterm Dach wird sich schon ein Plätzchen finden.
- Aber hier, gerade mal dreißig Kilometer weit weg, direkt am Meer, wartet auf dich dein Sommerdomizil. Vier Zimmer und eine Veranda mit Buntglasfenstern.
- Wovon redest du?
Er drückte ihr den Schlüssel in die Hand und zeichnete ihr für alle Fälle auf einem Zettel auf, wie man dort hinkam. Vita brach in Tränen aus, und er durchwühlte den Schrank auf der Suche nach einem Taschentuch. Schließlich begriff er, daß sie vor Freude und Erniedrigung zugleich weinte, und gab sich Mühe, sie nicht anzusehen, denn er fürchtete, wenn sie seinen Blick auf sich fühlte, könnte sie den falschen - oder vielleicht auch einzig richtigen - Entschluß fassen und sein Angebot zurückweisen.
- Vita, Liebes, fahr nicht zu den Känguruhs! Jedenfalls nicht diesen Sommer. Ihr drei habt dort jede ein eigenes Zimmer, und für den Herrn Gemahl bleibt auch noch eins.
- Der ist passé.
- Dann stellen wir dort einen Fernseher auf. Ich bringe den kleinen von mir.
- Das ist nicht nötig.
- Na gut, dann eben ohne Fernseher. Dann schaut ihr stattdessen halt in den Spiegel - im Flur dort hängt einer - und erfreut euch an eurem Spiegelbild. Wann hast du Urlaub?
- Im August.
- Dann nimm dir doch jetzt eine Woche extra frei. Du bist in deinem Büro ja nicht unersetzlich. Sag, daß die Mädchen krank sind.
- Das geht nicht.
- Gut, dann denk dir was anderes aus. Aber erholen mußt du dich! Hörst du?

Die Erregung schien Vitas inneres Uhrwerk wieder in Gang zu setzen. Ihre Bewegungen bekamen etwas beängstigend Automatisches. Man kann natürlich nicht sein ganzes Leben lang auf einer Südseeinsel zubringen, jedenfalls nicht dann, wenn zu Hause die Töchter warten und in Australien eine wildfremde Großmutter. Vita lehnte den angebotenen Kaffee ab, zog ihre Sandalen an und steckte Schlüssel und Lageplan zu den Fotos in die Handtasche.
- Vielleicht komme ich dich besuchen - so in einem Monat.
- Du hast noch gar nicht gesagt, wie du meine Haare findest?
- Habe ich das nicht? Ich streichle sie gern. Was soll ich sonst noch sagen?
- Und die Farbe?
- Ja. Sieht aus, als wärst du zu lange ohne Hut an der Sonne gewesen.
- Weißst du, warum ich sie gebleicht habe?
- Um der Gestalt deiner Träume ähnlich zu werden? Oder Marilyn Monroe?
- Damit man das Grau nicht sieht.
- Das solltest du aber besser keinem erzählen.
Er begleitete Vita hinaus zum Aufzug und küßte sie auf die kühlen Lippen. Dann schloß sich die Tür hinter ihr.

3
Jetzt weiß ich, warum ich immer Angst habe vor den ersten Sätzen. Ich befürchte, daß alles unvollendet bleibt. Das einzige mir gemäße Genre ist das Fragment. Die unvollendete Erzählung, Die Bruchstücke eines Romans. Der Schluß einer nie begonnenen Novelle. Gestern holte ich den Koffer mit den Schätzen der Schulzeit vom Schrank herunter. Fotos vergessener Freundinnen, schmucke Plasteclips, Siegerurkunden von künstlerischen Vortragswettbewerben (Wie kann man überhaupt von künstlerischem Vortrag sprechen, wenn es nur darum geht, von anderen niedergeschriebene Worte zu wiederholen?), Kiesel von der livländischen Küste und Bernsteinstückchen vom Strand in Libau (Oder war es umgekehrt? Wer weiß das jetzt noch so genau?) und ganz zuunterst sechs Hefte, jedes beginnend mit einer Eintragung vom 1. Januar. In diesem Jahr werde ich bestimmt Tagebuch führen. Das ist die einzige Möglichkeit, wertvolle Augenblicke im Leben festzuhalten. Leider wird nicht erklärt, wie die Schreiberin sich das Aussortieren der wertvollen Augenblicke aus dem gewöhnlichen - wertlosen - Leben praktisch vorstellte. Ich habe mir hoch und heilig vorgenommen, in diesem Jahr alle Tage der Reihenfolge nach ohne Ausnahme festzuhalten. Mir scheint, das Tagebuch könnte mir der Gesprächspartner werden, der mir so sehr fehlt. Das arme vierzehnjährige Ding, das noch nicht ahnt, in welche Falle es einmal tappen wird, geködert durch die Aussicht auf faszinierende Gespräche. In meinem Leben gibt es nicht allzu viele farbige Ereignisse, doch ich will lernen, die Schönheit auch im grauen Alltag zu sehen, deshalb werde ich in diesem Jahr versuchen, alles in meinem Heft aufzuschreiben. Die gute Schülerin, die sich die Belehrungen der Schule gewissenhaft eingeprägt hat. Ich kann mich freilich nicht entsinnen, daß ich in einem grauen Alltag gelebt hätte. Es gab schwarze und weiße Tage, Grippetage und Besuchstage, Büchertage und Meertage. Nur ist davon ab dem 4. Februar nichts mehr verzeichnet. Im nächsten Heft folgt auf den 19. Januar der 5. September. Ich will nicht mehr leben! Nie werde ich der Welt ihre Grausamkeit verzeihen! Und noch zwei weitere Seiten, so dicht beschrieben, daß sie wirken wie schwarze Ausrufezeichen. Sonst nichts, sodaß man gleich zum nächsten Heft greifen kann. Obwohl dieses Jahr nichts Neues verspricht, und obwohl von Dik noch kein einziger Brief gekommen ist, will ich dennoch nicht, daß die Ereignisse unerwähnt und unverstanden an mir vorbeirauschen, deshalb habe ich beschlossen... Dieses Mädchen hätte sich eine Lieblingsredensart ihrer Großmutter hinter die Ohren schreiben sollen - "Der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert.” Hinter dem 2. März kommt gleich der August. Ich möchte tot sein! In keinem Meer der Welt werde ich diese Beschmutzung je abspülen können. Leere Seiten. Nächstes Mal werde ich das Raubtier sein, nicht das Opferlamm. Leere Seiten. Zusammen mit dem herbstlichen Abfall verbrenne ich die Vergangenheit. Ich stoße mit dir an auf die Zukunft. Und nach diesem Herbstfeuer wieder Leere bis zum Neujahrsmorgen. Zusammen mit anderen nützlichen Dingen fand ich unterm Weihnachtsbaum auch dieses superschicke Tagebuch - mit Schloß und Ledereinband. Vielleicht soll ich das als eine Ermutigung verstehen: schreib unbesorgt, liebes Kind, wir stecken unsere Nase nicht in deine Geheimnisse. Aber ich habe keine Lust mehr auf irgendwelche Betrachtungen und Erinnerungen. Auf dieser Seite wird die Handschrift des Mädchens der meinen ähnlich. Die Rundungen haben sich fast alle in Spitzen verwandelt. Iv hat mir "Das Bildnis des Dorian Gray” geschenkt. Ein gutes Buch. Allerdings wünschte ich mir für mich selbst eher etwas Anderes - daß ich alle widerwärtigen und schmerzhaften Erinnerungen auf mein Porträt übertragen könnte. Dann würde aus mir schließlich eine glückliche alte Dame, die nur das Gute im Gedächtnis bewahrt, und in meinem Tagebuch schriebe ich nur so: "Heute war ein sehr schöner Tag. Alle lächelten und betrugen sich höflich zueinander. Und der Sonnenuntergang war einfach märchenhaft.” Und in diesem Stil weiter, fünfzig Jahre lang, mit kleinen Variationen, zum Beispiel: "Heute fiel ein hübscher kleiner Regen” oder "Heute habe ich glücklich mein letztes Examen abgelegt, meine Zukunft ist klar und sicher” oder "Heute habe ich den von mir geliebten Menschen geheiratet und mit ihm einen stabilen Lebensbund geschlossen” oder "Meine Enkelkinder bereiten mir ebensoviel Freude wie meine Kinder”. Danach herrscht zwischen den braunen mit Volkskunstmustern verzierten Lederdeckeln wieder trotziges Schweigen. Selbst für den Januar keine Eintragung. Ich habe mir mein Genre schon früh gewählt.

Eine der Schubladen in seinem Schreibtisch hatte March für Vita reserviert. Wenn sie fortging, ließ sie gewöhnlich im Zimmer auf dem Fensterbrett oder in der Küche auf dem Kühlschrank ein paar Seiten zurück - ohne Überschrift, Kommentar oder Unterschrift. Und bisweilen schien es ihm, als beginne die eigentliche Begegnung mit Vita erst dann, wenn sich die Tür des Aufzugs hinter ihr geschlossen hatte.

4
- Wir haben Ihre Telefonnummer in einem Notizbuch von Vita Laukmane gefunden. Sie kennen Sie?
- Ja.
- Schon lange?
- Einige Monate. Seit dem Frühjahr.
- Haben Sie sich oft mit ihr getroffen?
- Oft? Nein...
- Wie haben Sie sie kennengelernt?
- Ich... Sie wissen sicher, daß ich der Krischnabewegung angehöre. Wir hatten eine Prozession - hier im Zentrum. Sie war auch da, und wir kamen ins Gespräch... Und so...
- Ist sie eine Anhängerin ihrer Religion?
- Nein, sie ist einfach nur wißbegierig. Sie will verstehen, hat sich Bücher von mir geben lassen...
- Wußten Sie, daß sie Schriftstellerin ist?
- Ja, aber ich habe nichts von ihr gelesen. Das wäre eine Verunreinigung...
- Aber mit ihr reden dürfen Sie?
- Es ist unsere Pflicht, die rechte Lehre zu erklären.
- Was denken Sie von ihr?
- Sie ist nicht glücklich.
- Haben Sie ihr geraten, sich zu Krischna zu bekehren?
- Dazu wäre sie nicht imstande. Sie hat andere Ziele.
- Wie ist Ihr Verhältnis?
- Wir unterhalten uns...
- Wann haben Sie sie zum letzten Mal getroffen?
- Ich weiß nicht mehr genau. Vor ein paar Wochen vielleicht.
- Wo?
- Hier bei mir. Sie sagte, bei mir zu Hause fühle sie sich Krischna näher.
- Haben Sie in ihrem Verhalten etwas Seltsames bemerkt?
- Was heißt seltsam? Sie finden mich seltsam, weil ich mir den Kopf kahl schere, Mantras singe und keinen Alkohol trinke. Und ich finde Sie seltsam, weil Sie ıhr Leben an Nebensächlichkeiten
verschwenden.
- Gut, ich stelle meine Frage anders. Sind Ihnen in Vita Laukmanes Verhalten irgendwelche Veränderungen aufgefallen?
- Nein.

Er hatte alles rechtzeitig vorbereitet - die Räucherstäbchen angezündet und auf dem Diwan die geblümte Überdecke aus Mutters Schrank ausgebreitet. Auch den Fußboden hatte er gefegt. Schöner ließ sich diese Bude kaum herrichten. Aber es war gut, daß es so wenig Platz gab. Berührungen waren hier schwer zu vermeiden. das machte alles einfacher. Vita, mit
angezogenen Beinen auf den Diwan hingekauert, blätterte in einem prächtig gebundenen Buch und rümpfte drollig die Nase.
- O Mannomann, was für ein Stil!
- Für Leute wie dich ist es nicht geschrieben.
- Dann sollten sie das aber auch klar ankündigen. Hier auf dem Titelblatt, mit fetten Buchstaben: Dieses Buch ist nur für Mario und ähnlich seriöse Menschen bestimmt.
- Ich bin überhaupt nicht seriös.
- Nein, du erlaubst dir bloß nicht, über heilige Dinge zu spotten. Auch wenn sie noch so lächerlich daherkommen.
- Über dich werde ich jedenfalls nie lachen.
- Ich? Ich bin doch alt und dumm. Und unrein.
- Nein.
- Weißt du noch, wie ich mich damals an dich rangeschmissen habe? Direkt auf der Straße?
- Das weiß ich noch genau, wie du zu uns gekommen bist. Als wärest du eine von uns.
- Mir gefielen eure Glöckchen. Und dieses Liedchen mit den zauberhaft einfachen Worten. Gut, gut: kein Liedchen - ein Mantra. Und die Frauen in den prächtigen Saris sahen so hübsch aus. Schade, daß ich keinen habe.
- Am allerschönsten bist du nackt.
- Aber das ist doch Sünde.
- Das macht nichts. Es ist eine angenehme Sünde.
- Und wird sie dir auch vergeben?
- Ich werde nicht darum bitten.

Das schmale Zimmer war erfüllt vom starken Duft der Räucherstäbchen. Wie ein Tempel, dachte Mario. Nur ohne Gott. Aber vielleicht sind wir die Götter, wir beide. Zwei heitere Götter, die nichts wissen wollen von den Qualen der Sterblichen. Meine Göttin ruht auf der bunten Decke wie auf einer indischen Blumenwiese. Er beugte sich vor, nahm Vita das Buch auf den Händen, klappte es zu und legte es behutsam auf das Tischchen. Sie lächelte. Er streichelte ihr über die Schultern und den zurückgebogenen Hals, und ihm war, als entfalteten unter seinen Fingern Blumen ihre weichen Blütenblätter.

- Hättest du nicht Lust, mit mir ans Meer zu fahren?
Mario zögerte. Er wäre lieber in seinem engen Räucherstäbchentempel geblieben.
- Oder hast du Angst, daß uns jemand zusammen sieht?
- Das hat keine Bedeutung.

Sie gingen die heiße belebte Straße zum Bahnhof hinunter und quetschten sich in einen überfüllten Waggon. Sie standen so dicht beieinander, daß sein Kinh in ihren Haaren versank. Sie waren kühl und fest wie die Stengel einer fremdartigen Pflanze.

An einer Station, wo Mario noch nie gewesen war, stiegen sie aus. Das Meer lockte ihn nicht, es schien ihm ein zu öffentlicher Ort. Schmutziger Sand, fette schwitzende Leiber, grünlicher Schleim und vergeudete Zeit.
- Kannst du wirklich nicht schwimmen?
- Mich trägt das Wasser nicht.
- Das kann nicht sein. Komm!
Er watete folgsam durchs graugrüne schleimige Naß und versuchte, sich so zu benehmen und zu fühlen wie alle anderen auch.
- Und jetzt laß dich treiben! Na los, mehr Courage! Schau zu, wie ich es mache.
Sie lag reglos auf dem Rücken im Wasser, die Arme unter dem Kopf verschränkt, mit einem ruhigen Lächeln.
- Das ist gar nicht schwer. Das Wasser trägt dich freiwillig, du darfst dich nur nicht dagegen sträuben.
- Dich schon. Aber mich nicht.
So war es ja auch. Vielleicht haben meine Vorfahren alle in der Wüste gelebt, dachte Mario. Er begriff nicht, wie jemand vor dieser überdimensionalen Pfütze keine Angst haben konnte. Aber Vita hatte keine. Sie winkte ihm einen Abschiedsgruß zu und schwamm hinaus, während er am Strand saß. Niemals hatte er darüber nachgedacht, was Vita außerhalb seiner vier
Wände tat. Es war so einfach - sie rief an, er wartete und dann kam sie. Woher? War das nicht egal? In der Welt außerhalb des Tempels war nichts von Bedeutung. Jetzt war er in diese
Außenwelt hineingeraten. Er spürte Eifersucht auf das Meer, das Vita so lange für sich haben durfte.
Allmählich bekam er Angst, sie werde nicht mehr zurückkehren. Aber dann kam sie endlich, naß und mit einer leichten Gänsehaut. Sie sagte, sie wolle etwas trinken, und führte ihn in ein
Café, wo es nach Zigarettenqualm roch und die Musik gegen die Schläfen hämmerte. Sie störte das nicht. Er folgte ihr zu einem der Tischchen und trank einen Apfelsaft, während er die
Veränderung in ihrem Gesicht beobachtete. Ihre Miene entspannte sich, als hätte sie eine lange mitgeschleppte Last abgeworfen, obwohl sie in Wirklichkeit nur ein Glas von einer hellen
Flüssigkeit getrunken hatte.
- Trinkst du nie? Richtig , jetzt darfst du ja nicht mehr - aber vorher?
- Ganz früher einmal. Ich hab mir nie was daraus gemacht.
- In deinem Leben gibt es doch noch gar kein "ganz früher”. Die paar Jährchen - was ist das schon?
- Und warum trinkst du?
- Würdest du es mir abnehmen, wenn ich sage: weil mir kalt ist vom Schwimmen ?
- Ja, du warst ja lange im Wasser.
- Aber mir ist warm. Wenn ich trinke, kann ich mich leichter abfinden mit... Aber das wirst du wohl kaum verstehen. Entschuldige. Wenn ich getrunken habe, werde ich geschwätzig.
Sie bestellte sich noch ein Glas.
- Ich wollte dich schon immer einmal fragen, ob dir das Leben, das du führst, wirklich ausreicht. Damals im Frühjahr bin ich stehengeblieben, um eure lächelnden Gesichter zu betrachten. Ihr lebt, um euren Gott zu verehren, und das macht euch Freude, wenn ich recht verstehe.
- Dann hast du ja schon alles verstanden.
- Aber zu reden begonnen habe ich mit dir, weil dein Lächeln irgendwie anders war... Na, lassen wir das. Weißt du was? Ich mache mich jetzt auf den Weg, zu Fuß den Strand entlang, und in einer halben Stunde bin ich zu Hause. Zu mir einladen werde ich dich nicht. Auf mich wartet dort... Die Sonne geht gleich unter. Begleitest du mich ein Stück?
Sie gingen wieder zum Wasser hinunter. Am Strand lag jetzt niemand mehr. Ein kleines Mädchen hätte Mario beinahe mit einem riesigen roten Ball ins Gesicht getroffen. Sie gingen noch ein wenig weiter, dann blieb Vita stehen.
- Adieu! Schade, daß es mit dem Schwimmenlernen nicht geklappt hat. Aber wenn du dem Wasser erst einmal vertraust, trägt es dich bestimmt. Glaub mir.
Dann ging sie davon - barfuß, hart am Saum des Wassers entlang. An ihren Füßen leckten kleine Wellen.

5
- Wann haben Sie Ihre Frau zum letzten Mal gesehen?
- Vita und ich haben uns schon vor einem Jahr getrennt.
- Offiziell?
- Nein. Aber ich bin ausgezogen. Und wir haben uns geeinigt, daß wir es mit einem Familienleben nicht weiter versuchen wollen.
- Aber Sie sehen sich weiterhin?
- Ziemlich häufig. Ich gehe meine Töchter besuchen.
- Was war der Grund für Ihre Trennung?
- Gründe gab es viele. Und schuld sind wir alle beide - damit basta .
- Vielleicht lag es auch an den ungünstigen Lebensbedingungen?
- Natürlich. Zu viert in einer Einzimmerwohnung, das ist weiß Gott kein Paradies - vor allem dann,
wenn einer von den Vieren überhaupt keine Notiz nimmt von dem, was um ihn vorgeht.
- Es gefiel Ihnen nicht, daß Ihre Frau sich mit Literatur befaßt?
- Würde es Ihnen gefallen in einem ewigen Saustall, wo mitten im Chaos eine junge gesunde Frau sitzt und den ganzen Tag in aller Seelenruhe mit den Tasten klappert.
- Aber sie hat doch Talent?
- Möglich.
- Scheint Ihnen diese Schriftstellerei überflüssig?
- Mir scheint die Welt ohnehin schon genug verseucht mit Bücherbergen. Wer braucht sowas?
- Sie haben mir auch noch gar nicht gesagt, wann Sie sie zum letzten Mal gesehen haben.
- Etwa vor einer Woche. Während der großen Hitzewelle. In der alten Wohnung waren noch ein paar dünne Sommerhemden von mir, die wollte ich abholen. Dann stellte sich aber heraus, daß Vita sie schon weggeworfen hatte. Sie war am Packen. Im Herbst würde sie umziehen, sagte sıe.
- Wohin?
- Keine Ahnung.
- Hat sie es Ihnen denn nicht gesagt?
- Nein. Und ich habe auch nicht gefragt.

Vita hatte den Wohnungsschlüssel nicht zurückverlangt. Er hoffte, es würde niemand zu Hause sein, und war unangenehm überrascht, die Tür offen zu finden. Als erstes sah er den im Sonnenlicht flirrenden Staub, und dann, inmitten des Staubs zwischen Kisten und Säcken, Vita. Sie hockte auf dem Fußboden zwischen verschnürten Bücherbündeln, und in der Hand hielt
sie natürlich auch ein Buch. Versunken in die Lektüre, bemerkte sie Mart erst, als er ganz nahe herangekommen war. Er stand und schaute auf ihren Hinterkopf herab. Mit ihren gebleichten Haaren sah sie erbärmlich aus - wie die gealterte Primadonna eines Provinztheaters.

- Hat dein Freund denn gar keinen Geschmack? Wie kann er bloß zulassen, daß du dich derart verunstaltest?
- Du kannst einen vielleicht erschrecken! Schleichst dich heran wie so ein...
- Wie ein...? Was ist, hast du dir auf die Zunge gebissen? Tu dir keinen Zwang an, einen Mörder hast du mich ja schon öfter genannt.
- Hör auf damit, Mart. Das ist doch alles passé.
- Na gut, gehen wir davon aus. Sag mal, willst du die Zelte abbrechen?
- Ja, wir fahren bald nach Adelaide.
- Wohin?
- Nach Adelaide in Australien. Zu Omi.

Vita hatte sich aufgerichtet. An ihrem roten T-Shirt war die Schulternaht aufgeplatzt. Die Shorts schienen seit langem nicht mehr gewaschen. An einem der ausgetretenen Hausschuhe war die alberne Puschel abgerissen.
- Hat Omi plötzlich entdeckt, daß sie ohne dich nicht leben kann?
- Bei alten Leuten ist alles möglich. Vielleicht hast du sie doch nicht ganz davon überzeugen können, daß ich eine Hexe bin...
- Omi und wir sind uns fast völlig fremd, das weißt du doch. Diesen Blödsinn schlag dir lieber aus dem Kopf.
- Das ist kein Blödsinn. Dort werden wir es leichter haben.
- Du wirst es nirgendwo leichter haben! Du schleppst deine Last immer mit. Und was noch schlimmer ist: es gefällt dir. Du bildest dir ein, deine gekünstelte Gefühligkeit wäre irgendwas ganz Geniales. Auf allen Beerdigungen willst du als Klageweib die Hauptrolle spielen.
- Hör auf...
- Auch mir ist es nicht gelungen, aus dir einen normalen Menschen zu machen. Ich wollte eine Frau an meiner Seite. Eine Ehefrau. Aber du bist und bleibst ein kaltes Geschöpf. Ein Frosch.
Genau das - ein kalter Frosch auf einem Haufen Papier!

Mart schaute zu, wie Vita sich wieder zu ihren Bücherstapeln hockte. Um sie herum im Sonnenlicht schwebten Staubpartikel. Der Bund ihrer schmuddeligen Shorts verrutschte nach unten und gab einen Streifen brauner Haut frei.

- Wir können doch auch jetzt Zeitungen auf den Boden legen.
- Laß mich los!
- Erinnerst du dich an die Nacht im Sommerhaus? Auf den Zeitungen? Weißt du noch, was du damals gesagt hast?
- Laß mich!
- Nein!

Er riß ihr die Hände vom Gesicht.
- Schau mich an! Na? Erinnerst du dich jetzt an das Sommerhaus?
- Nein.
Das war gelogen. Mart wußte, sie konnte das nicht vergessen haben: diesen Aprilabend, als sie nicht wußten,wohin, denn sie wollten zu zweit sein, doch für ihre Zweisamkeit war kein Platz
vorgesehen, und schließlich fuhren sie zu dem erst halb fertigen Sommerhaus von Marts Onkel, stiegen durch ein unverriegeltes Fenster ein, saßen auf dem Fußboden und tranken sauren Wein Marke ”Isabella”, der einem die Lippen violett färbte ("So violett hab ich noch nie geküßt”). In den auf dem Fußboden ausgebreiteten Zeitungen raschelte Zugluft (”Ich fürchte mich, vielleicht wohnt hier ein Gespenst”) , Mart legte den Kopf in ihren Schoß, und sie sagte: "Du bist stärker als alle Gespenster”. Dann hörte er nichts weiter mehr als den tosenden Fluß und das Zeitungsgeraschel tief in der Unterwelt.
- Was hast du mir damals versprochen? Weißt du das nicht mehr?
- Nichts. Ich habe dir gar nichts versprochen.
Wieder gelogen. Sie hatte ihm das Versprechen gegeben, immer dieselbe zu bleiben wie in dieser weinvioletten Nacht - ob nun mit Worten ausgedrückt oder nicht, das war doch einerlei.
Und sie hatte ihr Versprechen nicht gehalten.

- Komm! Komm ins Zimmer!
- Nein!
Er packte sie bei den Schultern und zerrte sie mit sich durch den Flur. Ein nachlässig verschnürtes Bücherbündel löste sich unter seinen Füßen auf, die Bände schlugen mit einem Knall auf den Boden. Wieder gab er ihr eine Ohrfeige.
- Du verlogenes Hundeaas!
Von einer plötzlichen Kraft zurückgestoßen, schlug er schwer gegen den Türpfosten.
- Entschuldigung, ich komme wahrscheinlich ungelegen. Aber die Tür war angelehnt. Wird Ihnen dieser Herr da vielleicht lästig?
- Hast du dir jetzt einen Leibwächter zugelegt?
- Da hat er ganz recht, gute Frau. Ein bißchen Schutz könnten Sie wahrhaftig gebrauchen. Soll ich den Typen bitten, sich wegzuscheren?
Vita schwieg. Aus ihrer Nase sickerte ein dünnes Rinnsal Blut. Mart starrte den Fremden mit zornvernebeltem Blick an. Ganz schöner Brocken von einem Kerl, und was für Schmackis! Wo
Vita den wohl aufgegabelt hatte?
- Ja, was glotzt du noch? Verschwinde!
- Ich habe doch wohl ein Recht, mit meiner Frau zu reden!
- Das mach ein andermal, wenn du besser drauf bist.
Dann schob der Fremde Mart aus der Tür. Vita sagte noch immer kein Wort.

- Du solltest dich waschen.
- Wie, was?
- Du blutest.
Der Fremde drückte Vita auf einen Bücherstapel im Flur, holte aus dem Badezimmer ein feuchtes Handtuch und hielt es ihr ans Gesicht. Er selbst nahm auf dem benachbarten Stapel Platz.
- Gleich wird es besser. Ziemlich stürmisches Familienleben hast du ja.
- Ich versteh nicht...
- Warum ich meine Nase hier reinstecke? Weil ich zufällig hier vorbeigekommen bin. Und überhaupt waren wir ja verabredet. Du wolltest Bücher verkaufen, falls du dich erinnerst.
- Ach ja... die Bücher, richtig. Hier sind sie, bitte schön. Sie können sie sich ansehen.
- Du meinst tatsächlich, jetzt wäre dafür der beste Moment?
- Ein besserer kommt nicht mehr.
- Wieso, ist der Weltuntergang schon so nahe?
- Nein, aber ich fahre bald weg.
- Alles klar... Weißt du, du solltest dich wirklich lieber hinlegen, sonst hört diese Nase nie auf zu suppen. Ich schau mir inzwischen schon mal die Ware an.
- Bücher sollte man nicht als Ware bezeichnen.
- Nein, sollte man nicht... Man sollte so vieles nicht. Zum Beispiel sollte man nicht dastehen wie ein Opferlamm, wenn man verprügelt wird. Kannst du dich denn nicht wehren?
- Was würde das ändern? Wenn ich mich wehren könnte, würden wir uns gegenseitig verprügeln. So kann ichs nicht - und krieg auch meine Schläge. Kein großer Unterschied.
- Jetzt mußt du dich aber hinlegen. Komm!
Der Antiquar legte den Arm um Vita und führte sie in das Zimmer. Mart löste sich von der Außentür, an die er sich bis dahin gedrückt hatte, um zu hören, was drinnen vorging. Zwecklos, dort noch länger herumzustehen.

6
Der Bankautomat konstatiert leidenschaftlos, daß auf meinem Konto auch weiterhin kein roter Heller ist.
Sollte ich mich vielleicht neben die Bettlerin am Kaufhauseingang.setzen? Gut möglich, daß sie nicht viel älter ist als ich selbst. Den Kopf hat sie mit einem schmuddeligen Tuch umwickelt, und ihr Gesicht hält sie hinter einer grauen stumpfen Grimasse versteckt. In den zusammengewürfelten Klamotten wirkt die ganze Gestalt wie ein zu groß geratenes Lumpenbündel. Die Hände hält sie wie zum Gebet gefaltet, und auf das Tellerchen neben ihren abgewetzten Turnschuhen klirren immer wieder kleine Münzen. Bitte - und dir wird gegeben!
In gesitteter Gesellschaft ist es verpönt, über die vom Geldmangel hervorgerufenen Gefühle zu sprechen. In meinem Gehirn blinkt wie in Neonschrift eine Liste unerledigter Besorgungen: Sandalen für Ance (Mama, kauf bloß keine weißen wieder, das gibt so ein trauriges Gefühl in den Füßen, ich möchte schmetterlingsfarbene!) Aquarellpapier für Laine (Ich weiß: schon heute abend werde ich Schuldgefühle empfinden, als müßte nun in diesem Jahr der ganze Sommer ungezeichnet bleiben), Tomaten und Dill (nein, so elend steht es nun doch noch nicht, den Dill werde ich vielleicht auf dem Nachhauseweg etwas außerhalb der Legalität in einem ungenügend bewachten Schrebergarten in der Vorstadt beschaffen können, Dickmilch und Margarine sind noch im Kühlschrank, sodaß wir vorerst nicht vom Hungertod bedroht sind), Eis (bitte bring irgendwas Leckeres mit, etwas Süßes und Kaltes, mit Erdbeergeschmack, nein, Schokolade, oder nein: kauf, was billiger ist!), Zahnpasta, Waschpulver, Analgin (da gegen Kopfschmerzen angeblich Autosuggestion hilft, werd ich mir also vorsagen müssen: mein Kopf tut mir nicht weh, überhaupt nicht weh, kein kleines bißchen weh, mein Kopf wird warm und leicht, mein Kopf steigt von den Schultern auf und schwebt zu den Wolken, meine Beine gehen mit leichten Schritten über den warmen Asfalt, meine Wolken tun mir nicht weh) und irgendetwas habe ich bestimmt noch vergessen, die Liste müßte länger sein. Wenn ich mir ein Herz fassen und mich neben die Bettlerin hinsetzen würde, könnte ich mir heute abend wenigstens das Analgin leisten.
In gesitteter Gesellschaft ist es nicht üblich, von den Gefühlen zu sprechen, die sich einstellen, wenn man im Laden mit Engelsgeduld alle Zahnpastasorten im Regal durchgeht und zum Schluß feststellen muß, daß selbst die kleinste Tube der unbekanntesten Marke unerschwinglich ist. Bald werde ich in gesittete Gesellschaft nicht mehr hineinpassen, weil mir das gewisse strahlende Lächeln fehlt.

7
- Ich würde Ihnen gerne einige Fragen über Vita Laukmane stellen.
- Da haben Sie sich wohl in der Adresse geirrt.
- Vita Laukmane. In ihrer Wohnung in der Meerstraße haben wir Ihre Visitenkarte gefunden.
- Meerstraße? Ach, diese Übersetzerin, die gerade beim Umziehen ist? Ist mit ihr was passiert?
- Genau das versuchen wir herauszufinden. Sie kennen sie also?
- Ganz flüchtig. Ich hatte in der Zeitung annonciert, daß ich Bücher aufkaufe, und sie rief mich an. Ich bin hingefahren und habe mir die Sachen angesehen. Nichts Herausragendes, aber einiges kam schon in Frage.
- Wann waren Sie dort?
- Vorgestern.
- Und? Sind Sie sich handelseinig geworden?
- Nein, wir wollten beide noch Bedenkzeit. Ich hatte vor, sie morgen oder übermorgen anzurufen.
- Ist Ihnen in der Wohnung etwas Ungewöhnliches aufgefallen?
- Das war ein einziges Chaos. Aber unter den Umständen ist das ja normal.
- Und wie verhielt sich Frau Laukmane?
- Ich weiß ja nicht, wie sie sich sonst verhält. Sie schien ziemlich nervös. Aber unter den Umständen ist ja auch das normal. Der ganze Umzugsstreß.
- Besitzt sie viele wertvolle Bücher?
- ”Wertvoll” ist relativ. Hängt alles davon ab, ob man den richtigen Käufer findet - jemanden, der genau diese Ausgabe braucht. Ich bin ja bloß ein Vermittler. Ich kann nur sagen, daß sie, rein geldmäßig gesehen, nichts Großartiges im Regal hat. Man hat ihr doch hoffentlich nichts gestohlen? Ich kann mir wirklich schwer vorstellen, was da zu holen sein sollte. Ein zehn Jahre alter Computer oder ein Röhrenfernseher ja wohl kaum.
- Nein, man hat ihr nichts gestohlen. Aber es klingt ja ganz so, als wüßten Sie in der Wohnung bestens Bescheid.
- Na ja, bis ich die ganzen Bücherregale durchhatte, das brauchte schon seine Zeit. Aber Sie haben mir immer noch nicht gesagt, was passiert ist.
- Frau Laukmane ist verschwunden.

Die kleine Blonde war ganz erschöpft, am liebsten hätte man sie gleich auf die Arme genommen und zum Bett getragen, ihr Baldriantropfen eingeflößt und sich neben sie gesetzt, bis sie einschlief.
Sie kauerte auf dem Sofa wie ein Häufchen Elend. Blut floß jetzt keins mehr, nur auf der Oberlippe hatte sich eine rote Kruste gebildet, die dem Gesicht etwas Clownhaftes gab.
- Soll ich dir vielleicht einen Tee oder einen Kaffee machen? Oder einen Pott von was anderem aus der Hausbar holen? Nun lehne nicht die Hilfe eines Freundes ab und sag, was du möchtest.
- Schon gut so. Außerdem gibt es hier keinen Tee und keinen Kaffee. Und eine Bar auch nicht.
- Asketin, wie?
- Ich wohne nicht mehr hier.
- Schade. Wirkt doch richtig gemütlich.
- Sie wollten sich die Bücher ansehen. Dann tun Sie das.
- Müssen wir uns nach so erschütternden gemeinsamen Erlebnissen wirklich immer noch siezen? Ich heiße Marcel. Und du bist Vita, ich weiß. Entschuldige, Vita, aber ich werde dich trotzdem weiterhin duzen.
- Wie Sie wollen.
Sie schloß die Augen. Marcel ging zu den Bücherregalen und überzeugte sich zugleich für alle Fälle davon, daß die Wohnungstür jetzt tatsächlich abgeschlossen war.

Nach etwa einer halben Stunde hockte er sich wieder beim Sofa nieder. Die kleine Blonde schien eingeschlafen zu sein. Ihr Gesicht war grau. Plötzlich schlug sie die Augen auf. Sie waren ganz dunkel.
- Blöd, nicht wahr? Da kauft man jahrelang Bücher, um eines schönen Tages zu dem Schluß zu kommen, daß man sie unbedingt wieder loswerden muß... Blöd. Aber wissen Sie - ich habe es mir anders überlegt. Ich verkaufe nicht. Ich kann nicht.
- Das Gefühl verstehe ich. Vielleicht solltest du das wirklich alles noch einmal gut überlegen und bedenken...
- Am besten wäre es, überhaupt nicht zu denken, Wenn ich das könnte...

Marcel begriff, daß ihr nicht mehr zu helfen war. Er hatte sich hier in eine Szene eingemischt, bei der er auf der Bühne nichts zu suchen hatte. Egal, ob nun per du oder per Sie - mit einem
weiteren Auftritt seinerseits war in diesem Stück nicht zu rechnen.

8
- Danke, daß Sie mir meine Bitte nicht abgeschlagen haben. Natürlich sollte jeder halbwegs intelligente Mensch Französisch können, aber bis zu diesem Idealzustand ist es bei uns noch ein weiter Weg. Deshalb wende ich mich an Sie als eine Sprachenexpertin.
- Wissen Sie, ich verstehe immer noch nicht recht, was Sie wollen.
- Ganz einfach. Schauen Sie - auf diesem Zettel hier steht die Telefonnummer von Marc Berel. Wenn meine Informationen den Tatsachen entsprechen, wohnt der Herr in der Nähe von Avignon und spricht im Prinzip keinerlei Fremdsprachen. Rufen Sie ihn an und fragen Sie ihn, ob er in der letzten Zeit irgendeine Nachricht von Vita Laukmane erhalten hat. Sagen Sie ihm, seine Angaben seien sehr wichtig für unsere Ermittlungen, aber bemühen Sie sich, nicht in die Details zu gehen.
- Allein schon deswegen, weil ich die Details gar nicht kenne.
- Ja. Verzeihen Sie, aber wir wissen, um die Wahrheit zu sagen, auch kaum etwas. Es ist alles sehr nebulös.
Der Lautsprecherknopf des Telefons war heruntergedrückt, in das Zimmer floß ein fernes Rauschen. Eine Frau hob ab und sagte etwas, mit schneller zwitschernder Stimme. Dann meldete sich Marc Berel, er sprach schleppend und gedehnt und füllte die Pausen zwischen den Wörtern mit lang hingezogenen Vokalen: eeeee - aaaa. Er war überhaupt nicht schwer zu verstehen. Auch die Dame, die die Fragen stellte, sprach langsam und mit dem etwas übertriebenen Bemühen, jeden Laut deutlich hervorzubringen. Schon nach kurzem Hin und her hatten sich die Rollen vertauscht. Marc Berel war nun derjenige, der beharrlich die Fragen stellte und sich mit ausweichenden Antworten nicht zufrieden gab. Non, malheureusement nous n’avons pas d’information plus precise. Non, je ne peux pas vous dire plus. Gut gemacht, die Kleine - andererseits: was sollte sie sonst sagen, es mangelt uns ja wirklich an präziseren Informationen, leider, und damit werden wir uns begnügen. Dans son carnet. Woher sonst könnte jemand seine Telefonnummer haben, wenn nicht aus Vitas Notizbuch? War das nur Einbildung, oder lag in Berels Stimme tatsächlich eine gewisse Unruhe? Aber vielleicht war es ihm auch nur leid, seine Zeit an solch ein zweckloses Telefonat zu verschwenden. Quelques
Jours seulement... Natürlich hatten sie nur einige Tage zusammen verbracht. Eine einzige Begegnung, und auch die rein zufällig. Vita fuhr ja sonst nie zu den diversen Schriftstellertreffen, aber dieses eine Mal eben doch - vielleicht, weil es irgendwo im Süden stattfand. Sie fuhr hin und traf dort diesen Marc Berel. Doch was ändert das? On ne peut pas qualifier ca comme la correspondance reguliere. Warum rechtfertigt er sich? Es liegt doch kein Straftatbestand vor, ganz egal, wie häufig oder selten die beiden einander geschrieben haben. Non, elle n’avait pas une telle intention. Nein, sie hatte nicht vor, Monsieur Berel in seinem Eigenheim zu besuchen, das liegt auch auf der Hand. Rien de concret... Warum sollte sie Monsieur Berel mit ihren Absichten bekannt machen? Nein, nichts Konkretes, aber auch rein gar nichts... Non, ıl n’y a pas des lettres. Kommt es dem Monsieur nicht in den Sinn, daß ihn doch kein Mensch anrufen würde, wenn Vita einen Brief hinterlassen hätte? Solitaire? Non, ce serait une confirmation exagérée. Eine ausgesprochen diplomatische Antwort, wenn auch nicht allzu wahrheitsgetreu. Vita war einsam. Vita war ein gesellschaftlicher Mittelpunkt. Vita war brünett. Vita war blond. Den Schluß kann man jeweils streichen, und es bleibt die unbestreitbare Behauptung: Vita war. Naturellement, ıl n’y a pas la jungle ici. Nous saurons au Juste, certes. Out, nous communiquerons, sans doute. Merci pour la compassion. Nein, wahrhaftig, Dschungel gibt es hier nicht, keinen Urwald, in dem man sich verirren könnte. Alles zivilisiert und transparent - bis zu dem Moment, in dem dich schwarze Augen ansehen, in denen nichts das Geringste zu lesen steht. Rien de concret. Danke für dieses Nichts.

Schönen Dank für Ihre Hilfe. Soweit ich verstanden habe, konnte Monsieur Berel keine wesentlichen Auskünfte beisteuern.
- Das haben Sie ganz richtig verstanden. Vielleicht könnten Sie mir zum Abschied trotzdem verraten, wozu diese ganze Maskerade gut sein sollte.
- Wie bitte?
- Verehrter Herr Marchewski, Sie haben doch mit irgendwelchen polizeilichen Ermittlungen gar nichts zu tun.
- Nun ist also unversehens der Augenblick gekommen, wo die Maske fällt.
- Sie brauchen nicht darüber zu reden, wenn es Ihnen unangenehm ist.
- Es ist mir unangenehm, aber man kann ja nicht immer nur das tun, was einem gefällt. Mich hat überrascht, daß Vita Laukmanes Verschwinden von allen als ein völlig natürliches Ereignis aufgefaßt wurde. Zumindestens jemand hätte sich doch empören können und nach den Gründen suchen. Doch nein, rundum nichts als Ruhe und Stille. Dann habe ich, um gegen diese Stille anzukämpfen, mir ausgemalt, wie es wäre, wenn man mich befragte. Wieviel von der Wahrheit würde ich erzählen? Und was die anderen? Vielleicht habe ich mich von diesem Spiel zu sehr mitreißen lassen - ich bin nun einmal seit jeher eine Spielernatur. Verzeihen Sie mir. Es war keine böse Absicht.

9
Doch gut, daß Marc mich nicht hat in die Federn kriechen lassen, daß er mich mit sich zieht, weiter und weiter durch die südliche Nacht, in einem munteren Schwarm von Bekannten: Studenten, die ich weiß nicht was studieren, und Schriftsteller, von deren Werken ich keinen Schimmer habe, im dichten Kreis um das Tischchen in dem türkischen Café wandert die sorgfältig gebastelte Zigarette von Mund zu Mund, und ich sehe, wie sich ihre Gesichter langsam von innen heraus verändern, doch in mir verändert sich nichts, ich bin Nichtraucherin und verstehe es nicht, den Rauch zu inhalieren, und weiter geht es ins nächste Café, die Tochter des Besitzers stellt sich auf die winzige freie Fläche zwischen den Tischen, aus dem Kassettenrekorder ertönt der Orient, und sie tanzt mit einem Weinglas auf dem Kopf, während wir im Takt mitklatschen, im Glas schwappt sachte der dunkle Wein, wir klatschen, hej! hej!, und die Luft riecht nach Wein, und Marc erzählt mir etwas auf französisch, ohne daran zu denken, daß ich kein Französisch kann, oder vielleicht bin ich auch nur zu faul, genau hinzuhören, und in Wirklichkeit redet er unser internationales Pidgin-Englisch, das alles einebnet und gleichmacht, und alles, was in der Sprache meines kleinen Volkes so tief bedeutsam ist, in der Übersetzung zur Platitüde verwandelt, als hätten die Worte ihre Wesentlichkeit und Ungewöhnlichkeit nur vorgetäuscht, ich rede gerne Englisch, die Dinge gewinnen dann ihr wahres Maß und werden einfacher, wenn ich französisch könnte, würde Marc mir sicher seine Gedichte vorlesen und die Welt würde wieder kompliziert, doch das ist jetzt nicht möglich, jetzt rauchen wir zusammen Gras, ein Junge vom Nebentisch kommt herüber, um es begutachten, schnuppert daran und reckt anerkennend den Daumen, die Luft riecht nach Wein, als wäre das Glas vom Kopf der Tänzerin verschüttet worden, so traurig, das alles zu verlieren, ich verliere immer nur das, was mir nicht gehört, noch eine Zigarette im Kreis der Freunde, erst gestern habe ich diese Menschen getroffen und morgen werde ich sie wieder vergessen, kein Gedächtnis für Gesichter, vielleicht waren sie im Jahre 68 Studenten in Paris, aber ich werde höflich genug sein, nicht danach zu fragen, selbst wenn sie jetzt in ihrem gepflegten Französisch davon zu erzählen begännen, sowieso komme ich als Nachzüglerin, hoffnungslos verspätet, und werde es nie mehr dorthin schaffen, wie sehr ich es mir auch wünschte, vielleicht ist es nur Einbildung, aber dort und damals war sicher irgendeine Studentin ganz mir ähnlich, ich habe davon nur gelesen, etwa zehn Jahre später, und Gras haben wir damals auch geraucht, echt komisch, daß ich jetzt den Rauch nicht richtig inhalieren kann, damals, auf dem Rasen bei der Universität, als wir Sartre zuhörten, ging das doch ganz prima, weißt du noch, Marc, nein, man sollte nicht versuchen, sich an den Brosamen fremder Freiheit zu bedienen, man muß sich seine eigene heranpäppeln, auf dem Asfalt oder im Sand, gehen wir an den Strand, nachts reden sogar die Wellen französisch, ein Glück, daß ich mich endlich doch so geben kann, als sei ich berauscht, auch wenn mir nicht gelungen ist, es wirklich zu werden, Berauschte haben das Recht, keine Verantwortung für sich tragen zu müssen, und mein ganzes Leben ist nichts als eine einzige Verantwortung, Marc, ich will nicht allein bleiben, habe es nie gewollt, doch die Einsamkeit hat mich gewählt, in Remarques Romanen das Lieblingswort, solitude, siehst du, jetzt fange ich auch schon an, französisch zu reden, remarquisch vielmehr, nein danke, keinen Wein mehr, mir dreht sich schon alles, nein, nicht der Kopf, mein ganzer Körper ist berauscht von deiner Hand, mein Gesicht berauscht von deinem Blick, mein Blut berauscht von deinem Französisch, nur laß mich jetzt nicht allein, ich gefalle dir doch, und morgen fahre ich zurück in mein kleines Land, dessen Namen du immer verwechselst, meine Anhänglichkeit hast du nicht zu befürchten, und Gesichter vergesse ich schnell wieder, was sagst du?
- You are a very pleasant girl.
Wenn es dir so vorkommt. dann spiele ich meinen Rausch tatsächlich mit Erfolg. Oder soll ich dir erzählen, wie es ist, sich in einer Einzimmerwohnung voller Kinder zu lieben? Auf Französisch ginge das überhaupt nicht.  
Ja, ich bin verheiratet und erinnere mich gerne an meinen Mann, ich weiß noch, was ich an ihm so geliebt habe, seine Hände sind noch die gleichen, und ich weiß, wie alles beginnen wird, wie die Hände plötzlich heiß und fordernd werden und sich zu mir hintasten durch das endlose Dunkel.                                                                                                                            

Kauguri
1999 - 2000

© Horst Bernhardt, 2001, 2023