Gefilte Fisch. Eine Jugend in Königsberg

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    Max Fürst
Hinter dem kleinen Dorf Pillkoppen [war] die Grenze. Es war Litauen, aber für uns Memelland. Wir pflegen in Deutschland verlorene Kriege nicht wahrzunehmen. Dafür gibt unsere Nationalhymne ein gutes Beispiel: >Von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt.< So sangen wir es in der Schule, und wer das nicht mitsang und Bedenken äußerte, war schon immer ein Landesverräter und vaterlandsloser Geselle. Die Wander­dünen, vom Wind geblasen, kümmerten sich nicht um die Grenzen. Ob sie sich auch heute nicht darum kümmern, ob der Wind noch immer die Schwerarbeit leistet, den Sand zu Gebirgen zu türmen und Täler wieder freizule­gen, in denen einst Dörfer gestanden hatten mit Häusern, Kirchen und Friedhöfen? Vielleicht sind heute dort Bun­ker und Raketenstellungen, gegen die der Wind nicht an­kommt. Sicher wäre er auf die Dauer dieser neuen deut­schen Tüchtigkeit unterlegen, und es würden heute dort Hotelkolosse, Bungalows, Schnellstraßen und Yachthä­fen sein. Ob die Libisbucht noch ihren Namen hat, der Grabscher Haken, die Bullwicksche Bucht? Laß mich noch einmal die Namen nennen auf dieser hundert Kilo­meter langen Landbrücke zwischen Ostsee und Haff, die Namen der Orte, Flecken und Forsthäuser: Cranz, Sar­kau, Rossitten, Pillkoppen, Nidden, Purvin, Preil, Perwelk, Schwarzort und überm Wasser Memel.

>Frei ledig zieh ich durch die Welt, hab Sorgen nie gekannt<, sangen wir, um übergangslos die Probleme zu diskutieren, die uns bedrückten. Dabei ist das Wort Pro­blem schon viel zu abstrakt. Wir sprachen über unsere Kameradschaft untereinander, über die Solidarität mit den Arbeitern, über den bedrohlichen, heraufziehenden Faschismus, über die Stellung der Juden. Frei ledig san­gen wir und schleppten Rucksack, Brotbeutel, Gitarre und Zelt mit uns, ein ganzes Schneckenhaus, ohne all das war eine Reise bei unserem mageren Verdienst oder Taschengeld gar nicht denkbar.

Auf einem Nehrungsdampfer machte ich einmal die Bekanntschaft eines Globetrotters. Ein nicht mehr junger Mann, der mir von Afrika und Asien erzählte, still und unauffällig dastand in bürgerlicher Kleidung mit einem kleinen Koffer in der Hand und viel exaktem Wissen. Was für einen Aufwand an Gewicht hatte ich betrieben für meine kleine Reise.

Was für die Juden Jerusalem, die Araber Mekka, die Germanen der Brocken oder vielleicht Bayreuth war, war für uns Nidden, das heilige Dorf zwischen Sandbergen, See und Haff - es kehrt noch heute wieder in meinen Träumen. Vielleicht kam man gerade bei Sonnenunter­gang rechtzeitig an, wenn gegen den flammend farbigen Himmel die Fischerflotte auf Fang fuhr, ein Schiff hinter dem anderen, die sanft gebogene Linie der Bucht nachfin­dend und jedes Segel klar und scharf gegen die Bucht sichtbar, gegen den Horizont. Wir, die wir wie Heine über Sonnenuntergänge spotteten, waren von der Liebe zu dieser Landschaft überwältigt, dem einheitlichen Rhythmus, den der Wind bestimmte. Dieser Rhythmus und die klaren Farben waren es auch, die Thomas Mann und die Maler des Expressionismus auf die Nehrung brachten. Sie saßen in Rossitten, in Pillkoppen, unter der »Schwarzen Düne«, die das Dorf zu verschütten gedroht hatte und dann in mühevoller Arbeit mit den harten Grasbüscheln bepflanzt worden war, sie saßen auf der hohen Düne bei Nidden, die steil ins Haff hinunterfiel und im Fischerhafen malten sie die plumpen Kähne mit den so schönen primitiven Holzwimpeln auf der Mast­spitze. Ich habe einmal solch einen Wimpel gekauft, auf dem der Fischer all seinen Besitz dokumentiert, Häuser, Schuppen, Frauen und Kinder neben- und übereinander in einfacher Laubsägearbeit und dann bunt bemalt. Jedes Boot hatte seine eigene Flagge.

Doch nun zu den Expressionisten. Wir hätten sie nie bemerkt, wenn es nicht Hermann Blode gegeben hätte. Von der Dorfstraße aus war Hermann Blode ein Gast­haus wie alle anderen. Am Eingang der Dorfladen, dann kam der Gastraum, ziemlich dunkel, eine Schenke wie jede andere. Daß der Besitzer immer schon eine Liebe zur Kunst gehabt hatte, bewies ein großes Jägerbild, echt Öl, wie wir sagten. Dann aber kam man auf die Terrasse, die auf Pfählen schon im Haff stand, jeder Tisch mit einer kleinen Petroleumlampe mit buntem Schirm. Dort saß man am Abend und hatte das Haff vor sich und konnte herrliche Gerichte bestellen - wenn man Geld hatte. Bei uns reichte es immer nur zu einer Tasse Kaffee. Aber die Wände waren voll mit Bildern von Pechstein, Schmidt-Rottluff, Nolde und anderen Malern. Es war die köstlich­ste Ausstellung, die ich je gesehen habe. Es stimmte alles auch noch, als zu unserem Leidwesen die Petroleumlam­pen durch elektrische ersetzt wurden. Wie konnte solch ein Wunder geschehen? Nun, ich kann es nur erzählen, wie ich es damals wußte. Es war die Liebe, die dieses Wunder bewirkt hatte, warum sollte in diesem Zauber­dorf nicht auch Liebe solch bunte Wunder bewirken? Die alten Blodes hatten ihr Marjellchen, ihre Tochter, auf die Schule in Königsberg geschickt, und dort hatte sie einen jungen Maler - Ernst Mollenhauer - kennen und lieben gelernt und geheiratet. Es müssen sehr aktive Menschen gewesen sein; sie brachten nicht nur ihre Malerfreunde nach Nidden, sondern hängten auch ihre Bilder dort auf, allen sichtbar, und verhalfen so der Kneipe und dem Kramladen Blodes zu Weltruhm. Als wir die Haffterrasse entdeckten, war ihr Ruhm schon nach Königsberg ge­drungen. Jedesmal, wenn wir in Nidden waren, war unser erster Weg zu Blöde, um die alten und neuen Bilder zu Bewundern. In den Jahren zwischen 1925 und 1932 waren wir fast jedes Jahr dort. Damals waren wir sehr reich. Wir gönnten eine Vierter-Klasse-Reise von Berlin nach Kö­nigsberg bezahlen und hatten sogar noch Geld übrig, ein­mal in einem billigeren Gasthaus Räucheraal zu essen. Und da man das »fette Zeuch« ohne Schaden nur mit verdünnendem Alkohol in riesigen Portionen essen konnte, so tranken wir Wodka dazu - ganz gegen unser Gewissen, denn wir waren Antialkoholiker, aber was tut man nicht alles aus Liebe zur Heimat? Wenn wir dann mit gut gefülltem Magen und leicht trunken die Dorfstra­ße hinuntergingen und zu dem Wald auf der Düne stie­gen, wo unser Zelt stand, denn zu einem Zimmer in einer Pension langte es immer noch nicht, so sangen wir das Lied vom russischen Bauern, der sich immerfort noch ein Schnäpschen eingießt, von Walter Mehring, und endlich war die Welt auch für uns einmal rund und in Ordnung.

Unser Zelt konnten wir allein im Wald stehenlassen. Niemand hätte etwas daraus gestohlen. Einmal, ich war mit Hans Litten und Margot in Nidden, schickte ich die beiden ins Dorf, um Wasser und Essen zu holen. Ich war faul, und um wenigstens etwas zu tun, schälte ich Kartof­feln. Plötzlich ein Rütteln am Zelt, daß es beinahe um­kippte. Mit einem Fluch sprang ich auf, weil ich sofort Margot im Verdacht hatte, eine Teufelei vorzuhaben, und stand einem riesengroßen Elch gegenüber, der ebenso überrascht wie ich in mein dummes Gesicht starrte und schließlich, sein bärtiges Haupt bedächtig schüttelnd, im Wald verschwand. Ich schüttelte auch den Kopf über mich. Da hat man doch so viel gesehen, ist durch echte weite Wüsten gefahren, kennt den Harz, die Mark Bran­denburg, das blitzblaue Mittelmeer von den bizarren Fel­sen Mallorcas aus gesehen, die Spitzen der Alpen, Glet­scher, frostkalte Stauseen, und dann geht einem doch nicht der Geruch dieses Dorfes verloren mit den mageren Kiefern, nicht der Geruch des schwelenden Holzes der kleinen Schiffswerft, der Eichenbohlen, die über Feuer für den Bauch eines Schiffes gebogen und mit einem Was­serstrahl wieder gelöscht wurden, dann wieder erhitzt und an einem Ende mit Steinen beschwert, bis sie der gewünschten Form entsprachen. Viele Stunden habe ich zugesehen, fasziniert von der Gewalt, die einem Holz angetan wird, bis es sich dazu bequemte, nützlich zu sein und zur Belohnung dann, umhüllt von Teer und Farbe, als stolzes Schiff sich vom Haff umplätschern zu lassen und den kurzwelligen Stürmen standzuhalten.

Es muß wohl schon Anfang der dreißiger Jahre gewe­sen sein, als ich mit Margot und Hans die so lange ge­plante Reise verwirklichen konnte, die ganze Nehrung entlang und über Memel und Litauen hinaus bis nach Lettland zu gehen. Nur in den Kriegen, im Ersten und Zweiten Weltkrieg, kamen damals arme Leute zu solchen Reisen. Margot und ich waren von Rossitten weiterge­gangen, noch einmal am Haff und den Sanddünen entlang bis Schwarzort und dann noch einen Tag bis zum Memeler Tief, bis wir an einem Sonnabend in Memel anlangten. Es war wohl ein Sonnabend, und nach sonnenheißen Ta­gen begann es leicht zu regnen. Wir wußten nicht viel in Memel anzufangen, es ist mir jedenfalls nichts im Ge­dächtnis geblieben. Wir kauften eine >Vossische Zeitung< von ungeheurem Umfang, gaben am Bahnhof unsere Rucksäcke auf und gingen ins Kino. Danach, als wir un­sere Sachen wieder holen wollten, war der Bahnhof ge­schlossen. Nach einigem Hin und Her gingen wir vor die Stadt und im Schutz einer großen Mauer legten wir die Zeitung unter uns, wie es Landstreicher zu tun pflegen, und deckten uns mit den Mänteln zu und schliefen. Erst richtig durchfröstelt waren wir, als wir am Morgen zum nahen Tor kamen und Landes-Lepraanstalt lasen. Nun, uns brachte ein Kaffee am Bahnhof bald wieder auf die Beine. Hans Litten kam mit dem Zug, und wir begannen unsere einzige Reise ins Baltikum.

Hinter Memel endete Deutschland. Mit den Grenzen von 1918 endete dort auch radikal, was deutsche Kultur oder Zivilisation war. Es war unglaublich, daß man ein paar Schritte weiter tief in Rußland war. Steinerne Häu­ser, steinerne Herzen, sagten die Litauer, und es gab von nun an in den Dörfern nur noch Holzhäuser. Was auf der Nehrung noch museal wirkte, die schön geschnitzten Giebel und Dachfirste, die Strohdächer, wurde selbstver­ständlich, der Typ der Menschen hatte sich kaum gewan­delt. Die Chaussee verwandelte sich in eine Sandpiste mit tief ausgefahrenen Radspuren, breit nebeneinander, und der Wald wurde nun wirklich zum Urwald. Alles, was wir an Ostpreußen liebten, war hier noch liebenswerter, noch ursprünglicher. Bald zogen wir es vor, durch eine Waldschneise zum Strand zu gehen. Die Straße verlief sowieso parallel zum Meer. Was für ein herrlicher Strand, viel breiter als wir es gewohnt waren, die Buchten weiter ausschwingend, ohne Steilküste, weit und breit kein Mensch, nur einige Radspuren dicht am Meer. Da hatten die Wellen den feuchten Sand wie Asphalt geglättet und gehärtet. Gingen wir 20 oder 30 Kilometer, bis wir an der lettischen Grenze waren? Das war jedenfalls alles, was von Litauen ans Meer grenzte, und Litauen war doch einmal eine Weltmacht gewesen. Nachdem die Baltischen Staaten, einem nordischen Balkan gleich, zu handlichen Stücken zerschnitten worden waren, hatte es Wilna ver­loren und Memel als Zugang zum Meer bekommen, ohne den der neue Staat überhaupt nicht lebensfähig gewesen wäre. Wir saßen an dieser einsamen Grenze, ein Zaun quer durch den Wald bis zum Strand, und kramten zusammen, was wir aus Geschichtsunterricht, Reiseführern und Karten über das Baltikum wußten. Litauen, Kurland, Livland, Estland hießen einst die Ostsee-Länder bis zum Finnischen Meerbusen, an dem Petersburg, heute Lenin­grad, liegt. Jetzt hießen sie Litauen, Lettland, Estland und verdankten ihre Existenz dem Cordon-Sanitaire, dem Sicherheitsgürtel, der die Sowjetunion von der Ostsee absperren sollte. Hans hatte vorsorglich Reise- und Sprach­führer mitgebracht, aus denen man erfuhr, daß man sich in Lettland nicht mehr deutsch verständigen könne, daß es in den Wäldern Kreuzottern und Wölfe gäbe; er hielt es nicht für ratsam, weiterzugehen. Wir konnten auch nicht weitergehen, da der Grenzposten unser Visum nicht anerkannte und sich erst zu einer Beratung mit seinem Vorgesetzten zurückgezogen hatte. Der Vorgesetzte kam aber erst am Abend zur Ablösung. So hatten wir Zeit, Lettisch zu lernen. Wir haben es natürlich nie geschafft. Ich weiß heute nur noch unvollkommen, daß Swiest Butter hieß, Oalas Eier, Kartöppeli Kartoffeln und Gulta Bett, und auch das mag falsch sein. Aber es klingt so gut.

Dann beschäftigten wir uns mit der Geschichte und wußten, daß es einmal ein riesiges litauisches Reich gege­ben hatte, das in Personalunion mit Polen von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer reichte. Es scheint, daß Gott gerecht ist und jedem Volk einmal seine Geschichtsstunde gewährt hat, worauf dann ewige Ansprüche angemeldet werden. Es ist kaum aufzuzählen, welche Völker alle Herrschaftsansprüche auf diesen Wald, in dem wir saßen, anmelden konnten: die Deutschen, weil einmal die Goten dort saßen, später die Hanse, dann die Ordensritter; die Schweden kamen und gingen, die Russen kamen. Die Herren wechselten wie auf den Atlanten die Farben. Blieb der Bauer immer derselbe in seinen armseligen Dörfern, hölzernen Häusern? Ist es anders geworden heute, wo das Land wieder der UdSSR zugeschlagen ist?

Am Abend bekamen wir Bescheid, daß wir ein neues Visum uns in Memel holen müßten. Es war ein schöner Weg für mich hin und zurück. Ich schaffte es in einem Tag teilweise zu Fuß und teilweise von gutmütigen Bau­ern mitgenommen. Dann öffnete sich die Grenze, dieselbe See, derselbe Strand, der Wald noch dichter: und Hans hörte in der Nacht das Heulen der Wölfe. Am Abend suchten und fanden wir ein Dorf, denn wir brauchten Nahrungsmittel. Hans blieb am Rande des Dorfes sitzen und studierte sein Wörterbuch. Wir anderen gingen hin­ein und versuchten uns verständlich zu machen. Es ge­lang nicht gleich, dann aber holte man ein kleines Judenmädchen hinzu, sie konnte Jiddisch, freute sich und dolmetschte vortrefflich. Wir wurden in eines der ansehnlichsten Häuser gebeten, wo wir in der guten Stube unter dem Bild des Zaren Nikolaus Platz nehmen mußten. Tee, Brot und Butter wurden gebracht und - da wahrscheinlich nur selten Gäste im Dorf waren - mußten wir erzählen, woher und wohin und warum wir gekommen seien. Lange noch saßen wir stumm beisammen, während man beriet, wie wir am besten nach Liepaja (Libau) kommen würden. Erst nach langem Verhandeln durften wir weni­ge Pfennige für unsere Vorräte bezahlen. Es war schon Nacht, als wir aus dem Dorf hinaus waren und unser Zelt in einer Lichtung des Waldes aufschlugen und sicher­heitshalber ein Feuer machten; man konnte ja nicht wis­sen, vielleicht gab es doch Wölfe. Viel mehr ist von der Reise eigentlich nicht zu berichten. Ich besinne mich auf Libau als eine helle Hafenstadt, eher schwedisch im Ver­gleich zu Memel. Wir wollten eigentlich nach Riga, aber Geld und Zeit langten nicht. Uns ist das namenlose Dorf in Erinnerung geblieben und wieder ein Zweifel an uns, die wir die gutartige Armut der anderen so liebten.

Als ich schrieb, Königsberg sei eine Grenzstadt, wollte ich ganz andere Dinge erklären, zu meinen eigenen Gren­zen kommen, mich abgrenzen. Statt dessen habe ich bei­nahe auf jeder Seite über Grenzüberschreitungen ge­schrieben, über die Lust, außerhalb der Grenzen zu sein und die Grenzen hinter sich zu lassen. Die Grenzüber­schreitungen, die wir lieben, und die Grenzen, in die wir gebannt sind: meine Grenzen. Dabei bedürfte es kompli­zierter Untersuchungen, wie sich etwas, was ich bei mir zu übersehen glaube, bei meinem Nächsten abspielt, ge­schweige denn bei einem, der zwei Jahrzehnte später ge­boren ist als ich. Diese Grenzen sollten das Thema mei­ner Überlegungen werden. Geboren als Deutscher, als Jude, als Bürger und als Ostpreuße. Man kann von Ost­preußen fortgehen, man konnte, wenn man Glück hatte von Deutschland rechtzeitig fortgehen, man kann sich weit von der materiellen Grundlage eines Bürgers entfer­nen, man kann verleugnen, daß man Jude ist, man kann auch alles andere verleugnen und das Jüdische in den Mittelpunkt seines Lebens stellen. Man hat einige Freiheit für Grenzüberschreitungen. Gott sei Dank ist man nicht festgenagelt in dem Kreis, in den man hineingeboren ist. Es kann sogar tödlich sein, in diesen Gegebenheiten zu verharren. Sobald die in der Familie überlieferten und praktizierten Meinungen nicht mehr bindend sind, be­ginnt die nächste Umwelt wirksam zu werden. Bei mei­nen Eltern war die Zuordnung des Judentums zur deut­schen Staatsbürgerschaft ein Dogma. Als wir begannen, weiter zu bohren, bekamen wir gereizte Antworten. Man war deutsch, das war eine Tatsache, man sprach deutsch, man zahlte Steuern, man wählte, man nahm Anteil an der Politik, man hatte in der Familie meiner Mutter über mehrere Generationen deutsche Schulen besucht; von der Familie meines Vaters weiß ich kaum etwas, eigentlich nur, daß mein Vater im Altstädtischen Gymnasium zur Schule gegangen war. Es war ja auch eine Tatsache, daß man mit dem »Wohl und Wehe« seiner Mitbürger ver­bunden war (ein Standard-Argument meines Vaters). Re­ligion ist Privatsache, man war so jüdisch wie andere pro­testantisch, katholisch, sektiererisch. Wir waren duldsam anderen Religionen gegenüber, und die anderen sollten es auch sein. Das waren Glaubenssätze, die man nicht dis­kutierte, ohne auf die schiefe Ebene zu kommen. Wo käme man hin, wenn man das nicht mehr anerkannte. Ja, wo kam man hin? Ganz so heil, wie es uns Kindern schien, war die »heile Welt« meiner Eltern aber auch nicht.

Ich glaube nicht, daß es für Juden auch in Deutschland je die heile Welt wirklich gegeben hat. Das kam schon in der Bewegungsbeschränkung zum Ausdruck, die mein Vater sich auferlegte und die er von uns verlangte. »Nicht auffallen«, sich möglichst wenig von den anderen unter­scheiden, und Juden waren füreinander haftbar. Wenn ein Jude sich schlecht benahm, kompromittierte er die ganze Gemeinschaft. Das ist immer so bei Minoritäten. Ge­schieht etwas, etwa ein Verbrechen, so ist es, wenn der Täter ein Deutscher war, ein Herr Müller, war es ein Jude, waren es die Juden, die Zigeuner, die Homosexuel­len, heute sind es die Gastarbeiter. Bei meinem Vater war es der Dreyfus-Prozeß 1894, der ihn aus seinen Träumen von der Gleichheit mit den Deutschen aufschreckte. Dreyfus war dann plötzlich nicht ein französischer Offizier, sondern ein Jude, und als sich schließlich herausstellte, daß es der deutsche Geheimdienst war, der das angezettelt hatte, waren es eben Patrioten, die durch einen Juden kompromittiert wurden. Man konnte es drehen, wie man wollte, die Juden waren schuldig. Dann, viel schlimmer, gab es in Ungarn und in Polen Ritualmordprozesse, eine ganz unsinnige Anschuldigung, wenn man weiß, wie streng Juden der Genuß von Blut verboten ist. Juden wurden verhaftet und vor Gericht gestellt, weil sie angeblich ein Christenkind geschlachtet und das Blut in Mazzen verbacken hatten. Und obwohl sie dann vor Gericht endlich freigesprochen wurden, war das Gerücht vom Christenblut trinkenden Juden schon ins Volk gedrungen und immer wieder von antisemitischen Schriften und Flugblättern aufgenommen worden. Es genügte ein kleiner Trick, um das endgültige Ergebnis, den Frei­spruch, die Absurdität des Vorwurfs in Frage zu stellen. [...]

© Birute Stern, Jerusalem 2018


  • Country in which the text is set
    Germany, Lithuania
  • Bibliographic information
    München: Carl Hanser Verlag 1973
  • Year of first publication
    1973
  • Place of first publication
    München