Eine Wanderung auf der Kurischen Nehrung im Jahre 1868

Die weite Wasserfläche des Meeres ist gewiß einsam, aber die Nehrung, diese Welt des Sandes, ist um Vieles einsamer. Wo das Leben vollkommen schweigt, verlangen wir seine Spuren nicht. Hier aber wo es sich leise regt, in schüchternen Anfängen gleichsam; wenn wir den Blick auf die Pflanzen werfen, die aus dem dürren Sande keimen, in elementaren Formen; wenn wir den Vogel wahrnehmen, der einen Fisch erhascht, oder den Menschen, der sein Netz in die Wasserfluth wirft; hier wo das Leben nur das Leben des Sandes ist, das Wandern der ertödtenden Düne, das Leben des Todes; hier wo die Erde noch nicht fertig, sondern sich in einem Werden, einem Kreisen befindet, unwissend was sie gebären werde: — hier überkommt uns entweder ein grenzenloses Grauen, oder eine empfindungslose Apathie. Es vergeht eine Stunde und eine zweite. Hinter jedem Vorsprunge erwarten wir etwas Neues, etwas Anderes wenigstens. Haben wir ihn erreicht, so erblicken wir immer dasselbe Bild vor uns. Stehen wir auf einem Haken, so liegt die Dünenkette panoramenartig ausgedehnt, in der Ferne schimmert vielleicht eine kurze dunkle, gebrochene Linie: ein verlorenes Dörfchen. Stehen wir dicht am Fuße der Düne, so schließt uns eine cirkusartige Vertiefung ein. Der Dünenwall hängt grausenerregend über uns; der Blick eilt über die Wasserfläche des Haffes. Wie um uns zu höhnen, fährt in der Ferne ein Dampfboot vorüber.
Oder wir sitzen am Fuße des Sandabhanges im Sande und ergehen uns mit einer gewissen schauernden Lust in der Vorstellung, daß eine Sandlawine hinabrutschen und uns begraben könne. Aus der Ferne kehrt unser Auge zu der nächsten Nähe zurück. Große Wegeblätter sind den starren Sandabhang mehrere Fuß hinaufgekrochen und heucheln ein kurzes Leben. Ein Schmetterling fliegt um ein paar Gräser; ein Marienpferdchen kriecht auf dem Sande und müht sich vergebens. Uns ist es, als müßten wir die Körner hören, die unter seinen Füßen den Abhang hinabrollen. Denn die Stille ist grenzenlos. Das Dampfboot ist seit einer starken Stunde an uns vorüber; wir sehen seinen Rauch nur noch sehr schwach; das Schiff selber gar nicht mehr, aber wir vernehmen noch deutlich die schnellen Schläge der Räder.
Wir schließen die Augen eine Weile. Wie wir sie öffnen, wirbelt nicht weit von uns ein Schneewetter; die ganze Luft ist erfüllt mit Flocken, die auf und nieder und seitwärts durch einander schwirren. Eine Mövenschaar zieht vorüber und sie erfüllt die Stille mit einem Schreien, einem Kreischen, daß wir verletzt unser Ohr abwenden. Schumann schätzte einen solchen Schwarm einst auf fünfzigtausend Möven und berechnete, wie viele Fische täglich sie verzehrten. Ich kann nur bestätigen, daß die Zahl unfaßlich erscheint, unbegreiflich. Später sah ich einmal einen ganzen Dünenberg von Möven bedeckt, daß es nicht möglich war die Farbe des Sandes zu erkennen. Auf einem andern, den sie verlassen, erblickte ich die Tausende ihrer Fußspuren. Da die Möve schwarze Flügel hat, welche unten weiß sind, so ist sie bei ihrem Fluge, gegen den dunklen Himmel gesehen, bald kaum wahrnehmbar, bald — sobald das Weiß von den Sonnenstrahlen getroffen wird — erglänzt sie hell wie ein aufflammendes Licht. Daher macht eine solche schwärmende Schaar oft den Eindruck eines Schneegestöbers.
Zwischen Rossitten und Pillkoppen treten zwei Haken — die Meilenzeiger der Nehrung — weit in das Haff hinein: der Predin- und der Skielwithaken. Predin heißt soviel als Kiefernwald. Das letztere Wort kommt in der Form Skirwiet auch drüben im Memeldelta vor. Zwischen beiden Haken nähert sich der Dünenwall unmittelbar dem Haff, so daß für eine Straße kein Raum übrig bleibt. Aber auf der Haffseite nimmt auch nur der Fußgänger seinen Weg, die Fahrstraße läuft längs der Grasebene zwischen der See und dem Dünenzuge.
Weiter nach Pillkoppen zu dehnt sich die Ebene auch auf der Haffseite freundlich aus; zuletzt verläuft sie in ein grasreiches Weideland, darauf die Heerde der Fischer, ohne Hirten, — denn Haff und Düne schließt sie auf dreien Seiten ein — friedlich weidet.
Das Dorf selbst liegt mit seinen reinlichen Holzhäusern wie ein Alpendorf auf der dunkelgrünen Matte, am Fuße und im Schutze des Dünenwalles, der hier im „Altdorfsberg" eine Höhe von 186 Fuß erreicht und sich einst ruhig und gelassen über das Dörfchen wälzen wird.
Wir steigen die Dünen hinauf von der Seite der Einsenkung, welche hier quer durch die Nehrung geht. Schon war die.Sonne untergegangen. Der Wind wehte aus Südosten und trieb den Sand über die Flächen, Wellen bildend und zerstörend. Über die Kanten hin stäubte es wie beim Schnee, wenn er über einen Abhang hinaus getrieben wird.
Wir erreichten die Höhe, ein wenig südlich von Pillkoppen. Im Westen lag bleichen Glanzes das Meer, in jener unermeßlichen Ausdehnung, die gleichsam nur dieser öden Küste eigen. Die Nehrung zog sich nach Norden und nach Süden, eine einzige leicht geschwungene Sehne, ein flatternder Wimpel zwischen zweien Meeren. Im Osten das Haff; zu unsern Füßen der grüne, fast schwarze Rasen, darauf das friedliche Dörfchen steht, zunächst ein Haus mit zerbrochenem Dach, gesenkter Giebelwand, „ausgewohnt", verkommen. [...]

Als ich am andern Morgen erwachte und zum Fenster hinausblickte, hätte ich wähnen können, mich in einer weiten Winterlandschaft zu befinden. Unbehindert schweifte der Blick über die Sandflächen und Hügel, welche Pillkoppen von Norden her bedrohen; kein Gegenstand gemahnte an freundliches Wachsthum; und über dem Ganzen lag der Schein der Frühsonne, kalt und bleich wie im Dezember. Der Wind vom Abend war fast zum Sturm geworden. Es rauchte, es stob über den kahlen Flächen, wie ein Schneetreiben. Dieses Mal wehte der Wind von Südosten und trieb den Sand von dem Dorfe fort. Aber wie lange kann es währen, dann dringt er mehr und mehr in das Dorf ein, dessen Anger er theilweise schon bedeckt hat, und wird die Wohnstätten ebenso vernichten wie er es in Neu-Pillkoppen gethan hat. Und sonderbar, daß die Gefahr zunächst nicht von Westen, von der hohen Dünenkette droht, sondern von den flachen Sandbergen, vor Allem von dem Sande, welcher durch das „Tief" des Dünenzuges gewirbelt wird. Wenn der Wind von Westen weht, so steht ihm der Dünenwall wie eine Schutzwehr entgegen; aber durch die Einsenkung bläst er ungehindert und mit vermehrter Kraft, weil zusammengepreßt und von den Dünen seitwärts eingeengt. So wirbelt er den Sand vor sich her und verschüttet die Ebene bei Pillkoppen. Der Dünenwall rückt, wie wir schon früher gesehen haben, nur um so viel vor, als sein Ostabhang durch den darauf lagernden Sand vorgeschoben wird. Es muß also, damit ein solches Vorschreiten wirklich erfolge, der ganze Abhang mit einer neuen Schicht gleichmäßig bedeckt werden, mit einem sehr bedeutenden Material, das selbst bei anhaltenden Weststürmen doch nur langsam zusammenkommt. Auch liegt es in der Natur dieser Bildung, daß der von Westen gewehte Sand, wenn er auf der Ostseite — der „Leeseite" gleichsam — niederfällt, zuvörderst den oberen Theil des Sturzabhanges erhöht, so lange bis die ganze Masse sich loslöst und, das Gleichgewicht herstellend, in die Tiefe rutscht. Mir erzählte mein freundlicher Wirth, wie grauenvoll es in stürmischen Herbst- und Winternächten sei, wenn die Dünen „sich rollen". Donnerähnliches Krachen begleitet das Ereigniß, die Erde erbebt und die Fensterscheiben klirren. [...]

Wenn wir einen Blick auf die Karte werfen, so erscheint uns die Kurische Nehrung zwar als eine einsame Land- und Sandzunge, aber sie schließt sich doch an das Festland im Süden an, und wird von Memel nur durch eine schmale Wasserrinne getrennt; wir halten sie für ein verbindendes Band. In der Wirklichkeit hat die Nehrung aber einen ganz andern Charakter. Sie besteht aus einzelnen, ganz winzigen Oasen, die durch eine Wüste von einander getrennt sind. Es ist eine Reihe von Inseln in einem Sandmeere. Da diese Inseln aber zugleich zwischen zwei Wassermeeren liegen, und die Verbindung zu Schiffe viel leichter herzustellen ist, als durch den Sand, so verkehren die Bewohner der einzelnen Insel-Oasen hauptsächlich zu Wasser mit einander. Das dazwischen liegende Land wirkt eher als eine Scheide, wie ein hohes Gebirge, das zwei Thäler trennt. Nur in der schlechten Jahreszeit, wenn Stürme die Fahrt auf dem Haff nicht gestatten, oder dasselbe zu gefrieren beginnt, wählt man wohl den Weg zu Lande. Bedeckt eine Eisdecke die Wasserfläche, so tritt der Schlitten an Stelle des Kahnes.
Auf der See findet niemals ein Verkehr von Ort zu Ort Statt. Nur selten wirft hier der Hafffischer seine Netze oder Angeln aus; meist feiern die Boote an der öden Küste. Die See ist ihm „das Unbetretene, nicht zu Betretende".
Wie einförmig auch der Charakter der Nehrung sein mag, so ist doch ein überraschender Gegensatz zwischen der Haff- und Seeseite vorhanden. Nach Osten hin stürzen die Dünen bald steil ab, bald schicken sie Ausläufer voran, bald bilden und umschließen sie Wasserbuchten. Hier stürzt ein Berg kopfüber in das Haff und wird zu einem Haken. Auf der Grasebene liegt hie und da ein Dörfchen, zwar durch meilenlange Zwischenräume von einander getrennt; aber doch sichtbar dem suchenden Auge. Rossittens Pappeln steigen in dieser Wüste förmlich grandios in die Höhe. Fischerkähne furchen das Haff; Dampfboote ziehen vorüber, unendliche Schaaren von Vögeln beleben die Luft. Selbst die vernichtende Düne blickt nach dieser Scenerie, wenngleich mit den Blicken der Medusa.
Auf der Seeseite aber ist diese ganze Welt mit einem Male versunken. Nichts als die unbelebte Meeresfläche, meist von der Vordüne verdeckt; die unabsehbare Dünenkette, form-, gestaltlos, in ewig denselben Linien, deren Charakter die Negation ist; dazwischen die vollkommen einförmige Grasebene, die „Palwe", deren Leben nur in den Triebsandflächen besteht, darin der Wanderer versinkt. Kein Mensch wird sichtbar, kein Hausthier, wie viele Stunden man auch zurücklegt. Vielleicht tritt ein Weidenbaum auf; es folgt später ein zweiter, ein dritter; das ist Alles. Auf der stundenlangen Wanderung habe ich einen Hasen dicht vor meinen Füßen aufgescheucht; später kreuzten zwei Schwalben meinen Pfad; ich blieb in der meilenweiten Ferne das einzige lebende Wesen.
Es wehte der Wind von Osten her, aber unten im Schutze des Dünenwalles war es stille. Nur dann und wann huschte ein Sandschleier den Abhang hinab. Weiter oben schien der Wind den Berg zerstäuben zu wollen. Die Sandabhänge hatten nirgends mehr den gelben, warmen Farbenton. Bläulichweiß schienen selbst die nächsten Flächen, immer schleier- und gazeartig, ein Mittelding zwischen Luft und Erde. Denn der Wind duldete nirgends eine dauernde feste Oberfläche. So bekamen die Berge den Anblick von Gespenstern, die durch die Luft schwebten. Jede Vorstellung der Entfernung ging dabei verloren. Ein Berg vor mir schien stundenfern, und doch hatte ich ihn in wenig Minuten erreicht. Aber eben so schnell versank er hinter mir. Trotz des langsamen Schreitens hatte ich daher die schwindelnde Vorstellung einer überschnellen Bewegung.
Ich kann es nicht genug betonen, daß an die Erscheinungen der Nehrung der Maßstab des sonst Gesehenen nicht gelegt werden darf. Es ist eine vollkommen andere Welt. Wir erhalten erst hier eine Vorstellung von Einsamkeit und Wüste.
Man stelle sich irgend eine bekannte Stelle der Heimath vor und denke sich rings einen Kreis von mehreren Meilen Durchmesser, in welchem jedes Leben, an dessen erwärmende Spuren wir uns gewöhnt haben, schweigt. Wir vermögen dem grauenvollen Gedanken kaum zu folgen. Auf der Nehrung treten aber zu der meilenlangen Sandwüste noch die beiden Meere und schließen sie von beiden Seiten ein.
Zuletzt konnte ich den Anblick länger nicht ertragen; ich stieg die Düne hinan, welche, wie überall im Westen, zwar nur mäßig steil ist, aber doch bis zur Erschöpfung ermüdet. Bis etwa fünfzig Fuß hoch über der Palwe fand ich eine Menge faustgroßer Steine, welche nicht vom Winde hinaufgetrieben, sondern wahrscheinlich von Urbewohnern hieher gebracht worden sind. Überall ragte, oft in seltsamen, zackigen Formen, der alte Waldboden aus den Sandflächen, wie dunkle Felsgrate aus einem Schneefelde. Auf diesem Boden hat einst ein üppiger Laubwald gestanden; dann hat die von der See eindringende Düne ihn verschüttet; und jetzt, da sie weiter wandert, wird auch der Waldboden mit seinen Stubben und Wurzeln wieder bloßgelegt. Eine Weile schützt die harte Humuskruste die darunter befindliche alte Düne, — dann wird auch sie von den fliegenden Sandkörnern zerrieben, die alte Düne erwacht, beginnt zu leben und folgt im Sandfluge der schon weiter gewanderten neuen Düne.
Ich hatte zufällig die höchste Kuppe der Nehrung erreicht, 189 Fuß über der See. So heftig war der Wind hier oben, daß der fortgetriebene Sandstrom mich nur bis zum Gürtel umfloß. Dann und wann hob er sich und trieb mir die Körner gleich Stecknadeln in das Gesicht. Die Wirkung des Südostes auf den Sturzabhang war eine sehr starke. Ganze Wolken Sandes jagten in einem Husch den Abhang hinauf. Der trockene Sand war längst fortgetrieben; nur der zusammengebackene feuchte leistete Widerstand, wurde aber nicht bloß von dem Winde schnell getrocknet, sondern auch von den fliegenden Körnern mitgerissen. Das Haff, lebhaft bewegt, erschien in dem hellen Sonnenlicht wie ein Meer von Gold. Die Mainsche Küste war nicht sichtbar. Aber die Dünenkette lag in geisterhafter Helle rauchend und dampfend vor mir und verlor sich in dem Dufte des Horizontes. Ich erblickte zu meiner Rechten unten Kreuze, den Pillkoppener Kirchhof, und stieg den Abhang hinab. Der feuchte Sand nahm den Eindruck der Füße auf, ohne hinab zu rutschen, der fliegende trockene Sand aber füllte die Spuren schnell wieder aus. Nach wenigen Minuten befand ich mich in einer Scenerie, die selbst auf der Nehrung ihres Gleichen nicht hat.
Ein mächtiger länglicher Cirkus wird von der Hauptdüne, welche sich im leicht geschwungenen Bogen westlich hinzieht, und einer kleineren Düne gebildet, die uns den Anblick des Haffs entzieht. Es schieben sich auch im Süden und Norden Ausläufer vor, so daß wir uns rings eingeschlossen finden von starrenden Sandwänden und sandigen Abhängen. In der Mitte dieses Dünenthales erhebt sich ganz frei, mit etwa zwanzig Fuß hohen, fast senkrechten Wänden, ein Hügel, der an ähnliche Bildungen in Sandstein- und Kalkgebirgen erinnert und in dem Centrum des Kesselthales so isolirt dasteht, wie die Erhöhungen inmitten der Ringgebirge des Mondes. Dieser rings von den Winden angegriffene, zerbröckelnde Hügel trägt oben auf seiner Fläche den Kirchhof des Dorfes Pillkoppen. Etwa ein Dutzend Kreuze und Denkmäler ragen weit in die Luft, umgrünt von bläulichem Elymus und Arundo, den einzigen Pflanzen, welche ihr Leben in dem Sande fristen. Kaum ist ein Grab erkennbar. Der Wind hat den aufgeworfenen Hügel nach kurzem Bestehen verweht, dem Boden gleich gemacht. Nur die Denkmäler deuten die Ruhestätte der Menschen an. Und welche seltsame Denkmäler! Immer sind sie ganz roh aus Holz geschnitten, manche mit zierlichen Schnitzereien versehen; die Buchstaben mit einem Messer in die Tafeln geritzt. Einige erheben sich kaum über den Boden, andere ragen weit über Menschenhöhe hinaus, aus rohen Holzpfählen bestehend, mit einer Tafel oder einem Kreuze. Zuweilen ist über den Kreuzesstamm bloß ein Querholz genagelt, ohne Inschrift, ohne Verzierung. Keines der Denkmäler steht gerade; der Sturm hat sie in dem lockern Boden geneigt, viele umgebrochen. Das erschrecklichste war aber die schnelle Verwitterung, welcher diese Kreuze ausgesetzt sind. Die ältesten, welche ich fand, vom Jahre 1856 waren während ihres zwölfjährigen Bestehens beinahe ganz zerfressen; aber selbst die nur wenige Monate alten erschienen — wenn ich es so sagen darf — wie junge Greise, ergraut, mit tiefen Furchen. Jedes Ding scheint uns hier gemahnen zu wollen, daß wir uns im Gebiete des Todes befinden. Alles was der Mensch hinein verpflanzt in diese Welt des Sandes, verkommt, löst sich in kurzer Zeit in die Atome auf. Wie das Leben das Leben verzehrt, so duldet der Tod selbst das Todte nicht neben sich. — [...]

Der Begräbnißhügel ist derselbe, welchen schon die Bewohner Neu-Pillkoppens benutzten. Jachmann berichtet, daß sie früher einen andern Begräbnißplatz gehabt, der aber so vom Sande bedeckt wurde, daß man nicht mehr seine Stelle zu bezeichnen vermochte. Als sie diesen neuen Kirchhof anlegten, stand hier noch ein freundlicher Wald, „die jetzt so gefährlichen Berge waren mit Bäumen bepflanzt, der Boden reichlich mit Gras benarbt, von einer unglaublichen Menge Erdbeeren prangend, und der Wald durch einen starken Rothwildstand belebt." Der Gastwirth Blöde in Nidden erzählte mir, wie er als Kind hierhin oft nach Erdbeeren gegangen. Jachmann fand (1825) „nur noch einige Morgen ganz lichten Kiefernbestand — das Holz, welches nach der Behauptung der älteren Einwohner etwa neunzig Jahre alt sein sollte — schwach, und im Nordwesten wo es an die Berge grenzt, bis am Wipfel versandet." Die Einsassen, im Bewußtsein des drohenden Verderbens, mißbrauchten die ihnen anvertraute Beaufsichtigung dieses „Bannwaldes" nicht, und erlaubten sich nicht einmal ganz vertrocknete Stämme abzuhauen. Als einziges Überbleibsel dieses Waldes steht südwestlich von dem Kirchhofshügel, zur Hälfte in dem herabrieselnden Sande der Sturzdüne vergraben, eine einzige Kiefer und sieht ihrem langsamen Tode entgegen. Bläulich fällt der Schatten ihrer Krone auf den gelben Sand. Aber auch der Hügel selbst wird in wenigen Jahren verschwunden sein. Die vorherrschenden Südwinde des heißen Sommers 1868 haben ihm mehr geschadet als jahrelange Stürme von Westen her. Sie haben emsig an dem steilen Abhange gewühlt und manchen Todten aus seiner Ruhe gerissen; denn rings liegt es voll von Knochen, die aus den seitwärts geöffneten Gräbern gefallen sind und nun im Regen und Sonnenschein schnell ausgelaugt und gebleicht werden. So stehen hier auch die Todten auf, und sie mögen nächtlich ihre über die Sandflächen gewehten Gebeine zusammensuchen, und ihre Tänze aufführen, gleich dem „Sturmnarren", der nach dem Glauben der Indianer über die Dünen des Obern-See's in Nordamerika tanzt. Ich weiß nicht, wie die Scenerie dieses Kirchhofes und seiner Umgebung sich darstellen mag, wenn der Sturm über die Berge zieht, der Kirchhof ruhig im Grunde liegt, und der Mond zuweilen hinter den flatternden Wolken hervortritt. Ich habe ihn im strahlenden Sonnenlichte gesehen, das grell von der glühenden Sturzdüne reflektirt wurde und darüber den Himmel in einem so unerhörten Lichtblau, daß die größten Farbeneffekte Hildebrands dagegen matt und abgeschwächt erschienen. Selbst der Himmel Südeuropas kann mit dieser Erscheinung nicht wetteifern.
Ich wanderte weiter am Fuße der Düne auf der Ostseite, die hie und da einen Ausläufer nach dem Haffe zu sendet und die Ebene ganz mit Sand bedeckt hat. Kein Leben, kein Ton in der Stille, nicht einmal eine Möve.

Auf der ganzen Nehrung geben sich die Bewohner gerne dem Krähenfange hin und müssen es sich dafür gefallen lassen, als „Krähenfresser" verschrieen zu werden, während ihren Genossen auf der andern Seite des Haffs von den reichen Bewohnern der Niederung die Bezeichnung púkiu skrándei, Kaulbarschpelze, zu Theil geworden ist. Seit ich aber weiß, daß Krähen auch auf Bornholm gefangen werden und daß ihr Fleisch dem junger Hühner gleicht, glaube ich, daß die Lacher auf der Seite der Krähenesser sein dürfen.
Der Fang der Krähen geschieht in folgender Art. Es wird auf der Haide ein langes Zugnetz ausgebreitet und an einer der beiden Langseiten mit Pflöcken an dem Boden befestigt. Die beiden schmalen Seiten werden durch Stangen ausgespannt. Es gehen von diesen schmalen Netzenden Taue aus, welche an dem einen Ende an einem Pfahl befestigt sind. An der andern Seite laufen die Taue in eine aus Fichtenzweigen gebildete Hütte, in welcher sich der Vogelfänger befindet. Auf das ausgebreitete Netz werden als Köder Fische geschüttet, oder im weitern Verlaufe des Fanges, neben diesem Köder auch Krähen angebunden. Sobald die ziehenden Krähen sich auf die Fische niederlassen oder zu den gefesselten Genossen gesellen, zieht der Fänger in seiner Hütte die Stricke mit einem starken Ruck an; die an den Enden befindlichen Stangen bewirken, daß sich das Netz, seiner ganzen Länge nach, erhebt, überschlägt und die überraschten Krähen bedeckt. Auf diese Weise fangen sie an einem Tage nicht blos eine große Zahl von Krähen, oft zwei Schock und mehr, es kommt auch vor, daß Adler sich auf das Netz niederlassen und in die Hände des „vielbegabten" Menschen fallen.
Wir saßen vor der Thüre neben einem Mörser von Eisen, den Niddener Fischer von einem gestrandeten Schiffe geborgen und für den Düneninspektor in Kranz hieher gebracht hatten. Vor uns stand ein mächtiger Haufen Rohr, welches zum Decken des Wohnhauses bestimmt war. Bevor ein „Gang" ganz vollendet worden, war der Decker vom Dache gestürzt und hatte die Arbeit einstellen müssen. Plötzlich ertönte durch die stille Luft des Abends ein Krach, wie wenn in weiter Ferne eine Kanone abgeschossen würde. Mein Wirth sagte, es gebe an Sommerabenden, wenn See und Haff ganz ruhig, oft einen solchen „Rucken," er wußte ihn mir aber nicht zu erklären. Ich glaube er rührte von einer Schaar ziehender Vögel her, welche bei plötzlicher Schwenkung diesen seltsamen Laut erzeugen. Es kamen andere Personen hinzu; es handelte sich um einen Pferdekauf. Ob Diplomaten im Stande sind, eine größere Schlauheit zu offenbaren, als diese einfachen Fischer, wird mir immer fraglich bleiben. Meine Wirthin schälte mittlerweile die für mich bestimmten Kartoffeln und betheiligte sich lebhaft bei den diplomatischen Verhandlungen. Es wurde dunkler. Vögel liefen geschäftig am Haffstrande hin und her und achteten kaum der Wellen, welche von dem stärker werdenden Südwind über die Sandbänke und Zungen geweht wurden. Farblos, fast unkörperlich lag Land und Wasser, Himmel und Sand vor mir. Ich hatte die Empfindung, es könne über diese Einsamkeit die Sonne nicht wieder aufgehen. [...]

Von allen Dünenbergen der Kurischen Nehrung kommt keiner an Schönheit und Charakter dem schwarzen Berge gleich. Er steht nicht bloß einsam und majestätisch da wie ein König, er erfreut auch durch die unsagbare Feinheit seiner Linien, die mit nichts besser zu vergleichen, als mit den Formen einer antiken Statue. Der Sand duldet keine scharfen, gebrochenen Linien. Nur wenn er naß ist, kommt es zur Bildung von Spitzen und Kanten, die zuweilen an Felsen erinnern. Indem er überall einfließt, ausgleicht, vermittelt, sind ihm recht eigentlich die weichen Formen nothwendig. Dennoch darf man die Gebilde des Sandes keineswegs einförmig oder charakterlos nennen. Schon das allmähliche Aussteigen der Dünen aus der Westseite und der plötzliche Absturz im Osten bilden einen stets neuen, überraschenden Gegensatz, einen Klimax und Antiklimax. Ich möchte dieses rhythmische Auf- und Niedersteigen am ehesten mit dem melodischen Leben des Pentameters vergleichen. Meist erscheinen die Flüchen monoton, durch nichts unterbrochen, aber beim aufmerksamen Betrachten tritt ein reizendes Wellenspiel vor das Auge, ein oft unmerkliches Auf- und Niederwallen, das der Ausdruck eines feingeistigen inneren Lebens scheint. Was die Maler Modulation nennen, die Unterscheidung von Höhe und Vertiefung, Licht und Schatten, — nicht durch bestimmte Flächen — sondern durch ein oft unmerkliches Abstimmen, Abtönen der Lichter und Schatten, kann vielleicht nirgends mehr empfunden, gelernt werden, als bei den Dünen. Auch bilden die Flächen nicht immer eine ununterbrochene Ebene. Wie auf der Wasserwelle ein zweites Leben sich entwickelt: die kleinen Wellen und Wellchen, welche sich kräuseln, entstehen und vergehen, so überzieht oft ein seltsames erstarrtes Wellennetz die öden Flächen und deutet das Leben dieser Welt des Sandes an. Gegenwärtig und doch der Vergangenheit angehörig, ein Resultat des letzten Wehens, das über diese Sandwogen gegangen, erscheint uns dieses erstarrte Leben so grauenvoll wie das Antlitz einer Medusa, so ertödtend wie ihr kaltes Lächeln. Der nächste Wind, der aus einer andern Richtung weht, wird diese Wellen auflösen, zerstören, die Körner in alle Winde streuen. Aber bis dahin bleiben sie, fest und unbeweglich, mit dem lebenhöhnenden Ausdruck der marmornen Todtenmaske. Auch an Farben sind diese Bildungen nicht arm. Wohl geht durch diese Sandflur ein einziger Ton, der im Schatten bläulich, in den Mitteltönen graulichgelb, im Sonnenlichte hellgelb, fast goldig erscheint; aber mit jeder leisesten Luft- und Lichtveränderung wandelt sich die Farbe. Während der Sand von jeder Lichteinwirkung so abhängig bleibt wie das Wasser, bewahrt er zugleich sein individuelles Leben, seinen „Lokalton", und erscheint uns darum in einem unbegreiflichen und seltsamen Doppelleben. Ich möchte daher sagen, ich habe bei den Dünen noch niemals eine oder die andere Farbe in gleicher Wiederholung gesehen. Auch bei wochenlangem Aufenthalte und in den verschiedenen Jahreszeiten findet man diese Welt ewig sich wandelnd und immer überraschend neu, wie das ebenso vielgestaltige Meer, das die Griechen ihre Sage vom Proteus erfinden ließ. Ich müßte die ganze Skala der Farben-Töne und -Stimmungen erschöpfen, wollte ich eine Vorstellung geben von diesem Leben der Düne, deren Schatten Licht sind, während ihre Lichter oft nur einen Augenreiz hervorrufen. Vielleicht genügt es, wenn ich später einzelne Erscheinungen, als Beispiele gleichsam, vorführe. Der schwarze Berg, dessen Namen ich mir nicht zu erklären vermag, da die helle, fast strahlende Erscheinung diese Bezeichnung nicht rechtfertigt, weshalb ich eher an das slavische czarny (schwarz) denken möchte, das bei den Littauern für „Zauber" vorkommt — dieser Berg trägt nicht bloß alle jene seltsamen Farben Phänomene zur Schau, er stellt auch jene Form dar, welche ich für die den Dünen am meisten charakteristische ansehe. Zwar kommen hier die verschiedensten vor, vom abgeflachten Hügel bis zur Kette und zum monotonen Wall; es herrscht allerdings die Kuppe vor; aber zuweilen bringt es der Sand auch zu Bildungen, zu Spitzen, die ein Alpenbewohner unbedenklich als „Hörner" bezeichnen würde. Zumal dann, wenn wir in der Richtung einer scharfen Kante blicken — und eine solche ist bei allen Sturzdünen vorhanden — verläuft und gipfelt dieselbe schließlich in einem solchen Hörne. Wenn aber ein Dünenberg isolirt auf einer weiten Fläche steht, wie der schwarze Berg, so werden von dem herrschenden Westwinde seine beiden Flanken stärker getroffen und der Sand an ihnen schneller fortgeweht als sein Rücken. Dort dürfen die Körner einfach nur vorwärts eilen, hier aber werden sie erst den ganzen Rücken hinaufgetrieben, was eine bei weitem größere Kraft des Windes voraussetzt. Die Flanken müssen sich also schon bei einem schwächeren Winde weiter bewegen, während der Rücken des Berges noch in Ruhe verharrt. Es werden sich also nothwendig — immer in der Richtung des herrschenden (West-) Windes — zwei Flügel vorschieben, die der Hauptmasse des Berges vorauseilen, ohne sich von ihm loszulösen. Mit dem Hauptkörper zusammen werden sie aber eine cirkusartige Vertiefung bilden, die man am ehesten mit den Sitzreihen eines offenen antiken Theaters vergleichen könnte. Da nun die der Hauptwindesrichtung abgewandte (östliche) Seite eines Dünenberges zur Sturzdüne werden muß, weil die vom Winde über den Gipfel des Berges geführten Sandkörner hier, wo die Kraft des Windes sofort nachläßt, nur ihrem Gewichte folgend, hinabrieseln, also einen vollkommnen gleichen Abhang bilden, und die beiden vorgeschobenen Flanken sich diesem Abstürze unmittelbar anschließen, so besteht ein solcher Dünencirkus immer aus einer rings steil abfallenden Fläche. Dieses Gesetz der Bildung bleibt dasselbe und immer erkennbar, obwohl der ganze Berg sich in einer dauernden, vorschreitenden Bewegung befindet. Es ist denkbar, daß der eine Flügel sich einmal schneller vorschiebt als der andere, sich wohl gar von der Hauptmasse loslöst und nun auf eigene Hand hastig weiter eilt, — und als einen solchen losgelösten Flügel möchte ich den flachen Dünenhügel ansehen, welcher sich gegenwärtig östlich von dem schwarzen Berge befindet, — in den meisten Fällen wird der ganze Berg aber in geschlossener Ordnung wandern. Ruhig schiebt sich die Masse weiter; und wie gleichmäßig dieses geschieht, erkennt man daran, daß der untere Saum des Cirkus eine stete scharfe Grenze gegen den frischen Rasen bildet, über welchen die Düne wandelt. Man glaubt kein Spiel des Windes, sondern ein mathematisch konstruirtes Menschenwerk zu sehen. — Bei vielen dieser Dünenberge hat sich in der Mitte des Cirkus, wahrscheinlich von dem Drucke, welchen der Berg auf den Sandboden ausübt, ein Teich gebildet, von Schilf umkränzt, die gefährlichsten Triebsandstellen bildend, sobald das Wasser verdunstet. In diesen Teichen spiegeln sich die hellen Abhänge und erzeugen ein sonderbares Doppelbild. Das Schicksal des schwarzen Berges ist unschwer zu erkennen. Er wandert wie alle Sturzdünen, zwar nur langsam, aber er nähert sich mehr und mehr dem Haff, von dem er nur noch wenige hundert Fuß entfernt ist, und wird sich einst in ihm ertränken, wie die Berge vor ihm, wie die ganze Dünenkette, die dem Untergange geweiht ist. Dann werden auch die Weidenbäume der alten Memeler Straße wieder zum Vorschein kommen, welche der schwarze Berg begraben, und von denen noch ein paar an seinem südöstlichen Fuße stehen geblieben sind, zwei noch freundlich grünend, der dritte aber vertrocknet und der vierte im Sande vergraben. Von der anhaltenden Hitze hatte sich über dem lockern Sande eine Kruste gebildet, welche zuweilen von dem Fuße zerbrochen wurde. Auch auf dem Schnee kommt eine solche Kruste vor, als Produkt starker Kälte. Leicht ließ sich der schwarze Berg vom Rücken aus ersteigen. Wohl befindet sich der Wanderer nur 170 Fuß über dem Niveau der See; aber nicht die Dinge an sich bestimmen den Eindruck, sondern die Vorstellung von ihnen, und der Fremde wird sich mit eigentümlichen Empfindungen vergegenwärtigen, daß diese Masse, darauf er steht, aus unzähligen Sandkörnern, also aus Individuen besteht, welche aus dem Meere aufgetaucht, weiter gewandert, sich aneinander geschlossen und endlich diesen Berg gebildet haben. Ein jedes dieser Körner ist eine Stunde lang gewandert, hat Flügel gehabt, ist von der Luft davongetragen und nach kurzem Leben zu Boden gefallen und von den nachfolgenden Genossen begraben worden. So ruht es Jahre lang, erst dicht unter der Oberfläche, dann weiter, tief im Schooße des Berges. Aber wie die Jahre verrinnen, nähert es sich mehr und mehr seiner Auferstehung auf der andern Seite des Berges. Es fällt die Hülle. Der Wind stürzt in den Berg. Wieder das kurze Traumleben. — An dieses Schicksal eines Sandkornes wird der Wanderer gemahnt, wenn er auf der Gipfelkante steht und den Blick rings um sich schweifen läßt. Dort ein Meer, hier das andere. Ein reiches Fruchtland ringsum bedroht von Unholden, die in dem glühenden Nebelduft verschleiert, verschwommen daliegen. Die nächste Nähe wird zur Ferne.


  • Country in which the text is set
    Germany
  • Featured locations
    Pillkoppen / Morskoye
    Curonian Spit / Kurische Nehrung