In der Kammer, in der die Truhen und Brotsäcke der Schüler aufbewahrt werden, sitzt ganz hinten ein dickes gesundes Mütterchen, ein braunes eigengewebtes Tuch um die Schultern, ein wollenes in der Stadt gekauftes auf dem Kopf, und sieht zu, wie ihr Sohn seine Bohnensuppe schlürft. Am Fenster, dessen Scheiben bestaubt und trüb sind, steht ein Knabe im grauen Rock aus hausgewebtem Stoff, die Hosen sind an den Knien geflickt, an den Füßen hat er Pasteln, die abgetragen und ihm zu groß sind. Er blickt durchs Fenster auf den Hof, wo sich eine Schar von Knaben tummelt, und schielt bisweilen auf das Kübelchen, aus dem sein wohlgenährter Kamerad ißt.

„Hat mir der Vater etwas aus Riga mitgebracht?‟ fragt der Knabe, der im Kübel nach Bohnen fischt, seine Mutter.

„Da ist es ja, fast hätte ich's vergessen ...‟ Die Mutter zieht ein Messer aus der Tasche.

Der Knabe wirft den Löffel hin, wischt die Hände an einem Zipfel des Tuchs ab, auf dem der Suppenkübel steht, und greift nach dem Messer.

„Ist es nur auch ein Fiskars? Ich habe dem Vater eingeschärft, daß er ja ein Fiskars kauft, die anderen Messer taugen nichts.‟

Die Mutter lacht, sammelt die Brotkrümchen vom Tuch und schüttet sie in den Mund.

Der Knabe öffnet die Klinge, die sich blitzend aus der schwarzglänzenden Scheide hebt.

„Es ist ein Fiskars! Man muß es nur gut schleifen. Zibin, sieh nur, wie herrlich!‟

Der bleiche Knabe tritt nachdenklich näher, sieht mit einem Auge das Messer an, aber es scheint, die Bohnensuppe gefällt ihm mehr.

„Bist du der Sohn des Dachdeckers Zibin?‟ fragte das Mütterchen.

Der Knabe schweigt, seine Lippen zittern; er will sich entfernen.

„Was bist du so ängstlich? Komm nur, iß auch etwas!‟

Der blasse Knabe setzt sich und greift unsicher nach dem Löffel, seine Hand bebt.

„Was tust du! meinen Löffel... ich will selbst noch essen...‟

Der rotbäckige Knabe mit dem geblümten Halstuch, im neuen, fast modern genähten Rock, mit den hohen Stiefeln, steckt das Messer in die Tasche und fängt wieder an zu essen.

„Iß nur, iß, Söhnchen, es wird schon für beide reichen...‟

Der bleiche Knabe steht auf und entfernt sich still.

„Warum behandelst du ihn so, Söhnchen?‟ fragt die Mutter bedauernd.

„Ach was, so ein Lümmel.‟

Eine Weile herrscht Stille.

„Gestern kam Vater nach Hause,‟ erzählte die Mutter, „wir aßen gerade zu Abend, da begann Sultan zu bellen. Nun ist der Vater aus Riga zurück, dachten wir. Und so war es auch.‟

„Hat er Ernst eine Violine mitgebracht?‟

Die Mutter lacht.

„Diesmal wahrscheinlich wohl nicht.‟

„Dann ist es im Sommer wieder nichts mit dem Pferdehüten zur Nacht, man kann nicht einmal ein Liedchen spielen. Und Sonntags am Abend ebenso. Karl Breedit spielt wie ein Rigascher Musikant. Nun, wir werden dem Burschen schon zeigen!... Geht umher wie ein großer Mann, die Mütze auf dem Ohr!... Übrigens, was ist mit der Mütze? Hat Vater mir eine neue gebracht?‟

„Nein, mein Sohn, er hat Ernst eine gekauft. Ernst ist doch älter und verdient schon selbst sein Brot. Im nächsten Herbst muß er zum Abendmahl gehen.‟

„Was? Ernst? Wenn die Mühe mir paßt, werde ich sie ihm schon wegnehmen. Ernst hat Mützen genug. Im Winter ist die Schaffellmütze sehr gut, ganz wie neu, und für den Sommer hat er ja eine ausgezeichnete Sommermütze.‟

„Tut, wie ihr wollt,‟ sagte die Mutter, „ich habe nichts darüber zu sagen, mag der Vater entscheiden. Aber du, Peterchen, könntest mit der Mütze sehr gut noch ein Jahr auskommen.‟

„Ja, ja, ich bin immer der Schlechtere. Ich brauche nichts. Alles für Ernst.‟

Peterchen wirft den Löffel weg und verzieht ärgerlich sein Gesicht.

„Ich werde nicht lernen, ich werde einfach nicht lernen! Werde Unfug treiben und aus vollem Halse schreien. Nicht einmal eine Mütze kann man mir kaufen.‟

„Pfui, Söhnchen, wie du bist! Der Lehrer wird dich in den Winkel stellen.‟

„Eh, solch ein Winkelsteller... er selbst...‟ Peterchen sieht sich um, ob nicht jemand da ist.

„Wenn nur nicht der Zibin horcht.‟

„Warum hast du ihn denn vertrieben, Peterchen? Was hat er dir getan?‟

„Er ist ein Aas! Wenn der Lehrer ihm sagt: gut, gut, so ist er selig, dann blinzelt er nur so mit den Augen.‟

„Er lernt wahrscheinlich gut, du aber, scheint mir, bist faul geworden.‟

„Ich?‟ schrie Peterchen wütend. „Was sagtest du, ich?‟

„Ja, du!‟

„Ich?!‟

„Ja, du bist faul... Der Schuster hat dir im Herbst neue Stiefel gemacht, der Schneider einen Rock genäht... Und der Vater freute sich so: jetzt wird der Peter gut lernen! Aber nichts davon! Mein Peterchen tanzt nur auf einem Bein!‟

„Was sind denn das für Stiefel? Die müssen Wilnit über den Kopf gezogen werden. Die Hacken sind schief, das Leder rot. Gott weiß, ob er Bindsohlen hineingelegt hat?...‟

„Was schimpfst du über Wilnit? Er ist gewiß ein guter Schuhmacher, und die Stiefel hat er dir auch gut genäht. Aber du reibst sie so lange auf den Steinen, rennst über die Felder, bis es aus mit den Stiefeln ist. Meine Stiefel halten schon das dritte Jahr... knarren nur so, wenn man auftritt.‟

Peterchen lachte.

„Gott weiß, wozu du die Knarren brauchst... Du bist doch kein junges Mädchen.‟

Die Mutter lachte auch.

„Sag Ernst, er soll nicht daran denken, die neue Mütze zu nehmen. Sie ist mein!‟

„Nun gut, gut. Aber lerne nur, Söhnchen, lerne! Mache uns Eltern keine Schande, wie damals, als der Pastor die Kinder examinierte . .. Hier sind 20 Kopeken, um Papier zu kaufen.‟

Peterchen greift nach dem Gelde, wischt sich schnell den Mund.

„Ach was, der Pastor! ich werde schon wissen!‟

Peterchen ist mit einem Sprung hinaus, ohne der Mutter Adieu gesagt zu haben.

„Ach Söhnchen, Söhnchen,‟ seufzt die Mutter, „du hast noch dein Leben vor dir!‟

Sie verschließt das Kübelchen, bindet es ins Tuch und geht mit dem Bündel in der Hand.

In der Schulstube hinter dem Ofen spielt Peterchen heute in der Pause eine große Rolle. Sein Messer geht von Hand zu Hand und wird bewundert.

„Ein feines Fiskars‟, lobt einer, haucht auf die Klinge, und sie läuft an.

Peterchen stößt ihm die Faust in die Seite.

„Was machst du? Weißt du nicht, daß das Messer geglüht ist, und du hauchst ihm Wärme drauf!‟

„Gott weiß, ob es nur ein Fiskars ist?‟ zweifelt ein anderer und versteckt sich hinter dem Rücken eines Kameraden, aus Angst, daß Peter Bungis die Echtheit seines Messers mit der Faust beweisen könnte.

„Was weißt du,‟ ärgert sich Bungis, „glaubst du, daß alle solche Messer haben, wie du, aus einfachem Eisen? Das ist ein Messerchen!‟

„Wieviel kostet es eigentlich?‟ fragt ein Knabe im grauen Rock, an den verschiedene Knöpfe genäht sind — auf der Brust ein großer weißgelber aus Knochen, etwas tiefer ein schwarzer aus Hartgummi und auf dem Bauch ein Hosenknopf aus Blech.

Bungis klappt das Messer auf und zu, wie um die Feder zu erproben, und währenddessen denkt er darüber nach, wieviel wohl das Messer gekostet haben könnte.

„Ein Rubel wird zuviel sein‟, denkt er bei sich.

„Achtzig Kopeken,‟ sagt er mit Bestimmtheit, „es ist in Riga gekauft.‟

„Achtzig! O-ho!‟ lacht der Knabe mit den verschiedenen Knöpfen. „Achtzig!... Für achtzig Kopeken kann man zwei solche Fiskars haben und noch bessere. Man muß nur zu dingen verstehen. Der Jude verlangt einen Rubel, biete ihm dreißig Kopeken, schließlich gibt er es dafür.‟

„Geh nur, kaufe für dreißig Kopeken ein echtes Fiskars‟, brummt Bungis.

Er steckt das Messer in die Tasche.

„Nun, Genger, was ist? Gehen wir!‟ ruft Bungis, der seinen Mantel anzieht und die Mütze aufsetzt.

„Wohin?‟ fragt der Knabe mit den verschiedenen Knöpfen.

„Was geht es dich an? Das wissen wir selbst. Nun, Genger, Platais, gehen wir!‟

Bungis, Genger und Platais ziehen, geheimnisvoll flüsternd, ab.

Genger ist der Sohn des Guts-Halbkörners, ein langer, bleicher Knabe mit flachsweißem, langem Haar. Beim Gehen schwankt er, als wollte er umfallen.

Platais ist ein Wirtssohn mit braunem Haar, finsterem Gesicht, frechen Augen. Seine Manteltaschen sind ganz geschwollen. Er hat darin verschiedene Papiere und alte Kattuntücher, die er als Taschentücher benutzt. Er hat immer einen großen Kampf mit seinen Hosen, die abzurutschen drohen.

Alle drei gehen zum nahen Wäldchen hinter dem Armenhause, kriechen ins Dickicht und setzen sich auf eine abgehauene Fichte. Genger und Platais ziehen Tonpfeifchen aus den Taschen.

„Ich habe hier noch Papyros‟, sagt Bungis und gräbt in der Brusttasche.

„Ah, Papyros, gib her!‟ Genger streckt die Hand aus. „So ein Betrüger! Gestern sagtest du, du hättest keine mehr.‟

„Gestern? Das war gestern! Aber heute habe ich!‟ sagt Bungis, „heute brauche ich nicht mehr zu sparen, die Mutter hat mir einen Griwennik gegeben. Man kann wieder neue anschaffen. Genger, besorge mir am Montag welche, wenn du längs dem Kruge kommst.‟

Bungis zieht ein Päckchen Papyros hervor, und alle drei rauchen an.

„Es stümt ein wenig, morgen wird gut Schneeballwerfen sein,‟ sagt Bungis und spuckt nach der neuen Mode aus, zwischen den Zähnen, die Oberlippe heraufgezogen, „man muß dem ‚Türken‛ wieder das Fell gerben.‟

„Im vorigen Jahr warst du ja selbst Türke‟, lacht Genger.

„Was, voriges Jahr! Voriges Jahr waren wir alle drei Türken. Jetzt sind wir Russen. Aber wählt mich zum General.‟

„Gib mir noch eine Papyros,‟ sagt Platais mit vollem Munde, „dann gebe ich dir meine Stimme.‟

„Hier,‟ Bungis reicht Platais noch eine Papyros, „aber du weißt: du bekommst noch ...‟

„Gewiß, gewiß,‟ Platais beruhigt Bungis, „wer denn sonst. Du wirst schon General werden.‟

„Teufel!‟ Bungis spuckt aus. „Das wird ein Kampf!‟

Eine Weile schweigen alle still. Der blaue Rauch erhebt sich über die Köpfe der Knaben, nimmt allerhand Formen an, bis der Wind ihn zerreißt und zwischen den Wipfeln der jungen Tannen zerstreut.

Bungis sieht zu, wie das Schneegestöber allmählich den Fußpfad verstümt, und träumt von dem morgigen Ruhm.

„Ja, es stümt, morgen wird der Schnee jedenfalls weich sein.‟

Platais spuckt mehrmals aus und verzieht das Gesicht, als ob er erbrechen wollte.

„Ist es wahr, Bungis,‟ fragt Genger, während er mit einem Stück Holz die Fichtenrinde kratzt, „daß dein Vater dich Brauer werden lassen will? So habe ich gehört.‟

„Was? Brauer? Ach, rede doch nicht. Ich weiß selbst, was ich werden will.‟

„Was denn?‟

„Gutsverwalter!‟

„Oho!‟

Wieder eine Weile Schweigen.

„Wenn nur der Lehrer nicht riecht, daß wir geraucht haben‟, ängstigt sich Platais und sieht sich rundum.

„Man muß nur gut den Mund spülen und Tannennadeln kauen, dann merkt man nicht die Spur.‟

„Das kenne ich schon. Hilft nichts.‟

„Man muß den Atem anhalten, wenn der Lehrer in die Nähe kommt, man muß nach innen atmen‟, bemerkte Genger.

Bungis nickt zustimmend.

Wieder schweigen alle drei. Der Wind pfeift leise im Dickicht. Die Wipfel der Tannen schwanken und rauschen, es klingt bald näher, bald ferner. Die Knaben werfen einer nach dem andern die Stummel in den Schnee und zertreten sie mit den Füßen.

„Mir schien, als hätte Rubuls geläutet‟, sagt Genger besorgt.

„Mir auch‟, stimmt Platais zu.

„Gehen wir.‟

Bungis’ Prophezeiung erfüllte sich. Am nächsten Tage trat Tauwetter ein. Die Luft war neblig. In den Zwischenstunden warfen die Knaben Schneebälle aufs Dach, von dem dann kleine Lawinen herabstürzten. Die Mädchen klatschten in die Hände.

Ein Jude war vor der Schule angefahren und hatte sein Pferd an den Pfosten gebunden. Genger warf als erster mehrere große Schneeklumpen in den Schlitten des Juden, die anderen folgten seinem Beispiel. Der knochige Schwarze des Juden prustete und versuchte sich loszureißen. Jankel, der in der Küche mit des Lehrers Stubenmädchen handelte, kam herausgelaufen und schrie heftig gestikulierend: „Satansbrut! Wartet, ich werde es dem Lehrer sagen!‟ Genger plärrte und versuchte jüdisches Gebet nachzuäffen.

Der Jude ging scheltend wieder ins Haus.

Die Knaben warfen Schneebälle nach einem fremden zottigen Hunde, der mit eingekniffenem Schwanz auf der Landstraße entfloh.

Der Wochendejourant Rubuls läutete, alle Kinder liefen in die Klasse.

Es war die letzte Stunde am Vormittag. Sie schien allen, die sich auf die Schneeballschlacht freuten, außerordentlich langweilig.

Bungis, der auf der zweiten Bank zwischen Genger und Platais saß, sah ganz kurios aus. Er erbebte jedesmal, wenn der Lehrer, der langsam in der Klasse auf und ab ging, sich ihm näherte. Vielmals hatte der Lehrer die Frage der Rechenaufgabe wiederholt: wieviel kosten dann 260 Pud?

Aber es kam keine Antwort. Die Aufgabe war leicht, aber sowohl Bungis als auch Genger und Platais zerbrachen vergeblich ihre Köpfe.

„Wenn nur der Lehrer mich nicht hier behält,‟ ängstigte sich Bungis, „dann wird nichts aus der Schlacht.‟

Er wartete ab, bis der Lehrer sich den kleineren Schülern zuwandte. Ein kleines Mädchen in einer geblümten Kattunjacke, mit flachsweißen Haaren, buchstabierte mit aufgerissenen Augen:

„K-a-t-kat-z-e-ze.‟

Bungis benutzte diesen Augenblick, drehte sich um, beugte sich über den Raum zwischen den Bänken und fragte Zibin, der auf der dritten Bank sah, flüsternd:

„Zibin, wieviel kommt bei dir aus?‟

„Tausend‟ ... Zibin hatte die Zahl noch nicht beendet, als der Lehrer sich umdrehte und ihn anschrie:

„Zibin, was machst du? . .‟

„Bu-bungis ...‟ stotterte Zibin erschrocken.

„Hör mal, Bungis!‟ Der Lehrer zupfte Bungis am Ohr. Bungis errötete vor Scham und stand auf.

„Zibin fragte, wieviel bei mir ausgekommen ist‟, log er, und Zibin erbleichte.

„Still!‟ rief der Lehrer. „Ihr seid beide ungezogen!‟

Zibin zeigte dem Lehrer die Lösung vor, und der Lehrer kontrollierte die Berechnung.

„Richtig,‟ sagte er, „lösch die Rechnung sofort ab.‟

Zibin wischte die Ziffern von der Tafel und versank in Nachdenken. Das Herz tat ihm weh, weil der Lehrer ihn ungezogen genannt hatte.

Er sah den Krügerssohn an, den Eltern und Lehrer Louis nannten, die Schüler aber Luhlit schimpften. Luhlit saß am Tisch des Lehrers, neben dem Katheder, saugte an einem Stück Zucker und zappelte unter dem Tisch mit den Füßen, die in neuen Schnürstiefeln prangten.

„Was fehlt solch einem Luhlit!‟ dachte Zibin. „Er ißt, was er will, und den ganzen Winter über braucht er nur Zahlen zu schreiben. Und jeder Schüler muß darauf Rücksicht nehmen, daß Luhlit der Kleinste, der Jüngste ist, mit dem man vorsichtig umzugehen hat. Luhlit hat Rock und Höschen aus Tuch und neue Halbstiefelchen, — ich habe alte Fetzen und ausgetretene Pasteln.

Zibin stützte den Kopf auf die Hand. Ihn überkam eine Wehmut, wie sie ihn ergriff, wenn er im Schullesebuch das Lied las: „Matthis war beim Schweinehüten nicht nach frohem Sang zumut ...‟

Bungis hatte endlich doch die Aufgabe gelöst. Kaum hatte er sie vorgezeigt, als der Lehrer, der schon zum drittenmal nach der Taschenuhr gesehen hatte, schnell aufs Katheder stieg und die Hände faltete. Die Kinder erhoben sich von den Bänken. Der Lehrer betete: „Aller Augen warten auf dich!‟

Aber Bungis schaute zum Fenster hinaus auf die Wiese. Er sah einen hartnäckigen Kampf voraus.

Schnell wurde das Mittagessen eingenommen. Sonst aß Bungis zuweilen mehrere Stücke Schinken und ebensoviel Stücke Brot mit einer dicken Schicht Butter und Käsemilch, das dauerte wenigstens eine halbe Stunde. Später kaute er hinter dem Rücken der anderen, die sich vor der Geographiekarte scharten, an einem vertrockneten fetten Käse, was den Kameraden den Wissensdurst vertrieb.

„Wo ist... wo ist Paris?‟... fragte Zibin, sah aber nicht hin, wenn Rubuls ihm Paris zeigte, sondern beobachtete, wie Bungis Käse knabberte.

Diesmal aber biß Bungis nur ein paar Stückchen von der kalten Grützwurst ab, verschlang ein Butterbrot, wischte die Hände an den Hosen ab, warf den Deckel der Truhe zu und rannte hinaus.

„Wart, wart!‟ schrie Genger. Er hatte gerade Milch getrunken. Eilig setzte er noch die Flasche an die Lippen und schluckte. Die weißen Tropfen liefen ihm auf den Rock.

„Keine Zeit!‟ rief Bungis aus dem Vorraum. „Es geht in den Krieg! Komm bald!‟

Fast alle Knaben waren schon zur Wiese geeilt, wo nach den alten Traditionen der Schule in jedem Winter eine Festung oder ein Schneemann errichtet wurde, um die die Russen mit den Türken hartnäckig kämpften.

Die Letzten, die hinkamen, waren Genger, Zibin und Sapulin.

Sapulin war ein Anfänger, klein und rundlich, mit Pausbacken, einem kleinen Näschen und gutmütigen Äuglein.

Er konnte nicht schnell genug mit. Die Stiefel paßten ihm nicht ganz gut, und Genger und Zibin gingen ihm etwas zu schnell.

Genger, der den Hügel erreicht hatte, bemerkte, daß die Knaben sich schon in zwei Parteien geschieden hatten. Er jauchzte auf, schwenkte die Mütze und lief über das Feld zur Knipska-Wiese.

„Genger, Genger, warte!‟ schrie Sapulin, „komm auf die Seite der Türken!‟

„Ach, geh!‟ antwortete Genger.

„Zibin, Zibin, lauf du nicht mit ihm, komm du uns zu Hilfe!‟

Sapulin und Zibin gingen mit einem Bogen über die Landstraße zur Knipska-Brücke, wohin sich eine Schar eben zurückzog. Beide „Regimenter‟ hatten schon Anführer gewählt. Der Kampf mußte sofort beginnen.

Der Kampfplatz war eine Wiese, durch die von Osten nach Westen das Flüßchen Knipska floß. Im Süden stand eine steile Anhöhe, mit Fichten bewachsen, im Norden ein Birkenwäldchen und im Osten zog sich eine schmale, tiefe Schlucht zwischen steilen, hohen Hängen. Diese Schlucht nannten die Schüler „Schipka‟. Westlich der Wiese lief mit einem Bogen längs dem Acker über die Knipska-Brücke die Landstraße.

Als Zibin und Sapulin an der Brücke ankamen, hatte die Schlacht eben begonnen.

Die Schüler pflegten sich in jedem Winter in zwei Parteien zu scheiden, in Türken und Russen. Im Schlafzimmer der Knaben stand gerade in der Mitte ein Ofen, den eine Wand, die die Wärmeleitung enthielt, mit der Querwand des Hauses verband, wodurch das Zimmer in zwei Hälften geteilt wurde. Die Türken schliefen an der Südseite des Ofens. Zu den Türken gehörten die Anfänger und die weniger begabten Schüler, die wieder von neuem anfangen mußten zu lesen, Zahlen zu schreiben und Gebote aufzusagen.

Die Russen schliefen nach den alten Traditionen der Schule auf der Nordseite. Es waren die älteren Schüler, die schon Russisch sprachen und Gedichte lernten.

Wenigstens einmal im Monat entbrannte zwischen Türken und Russen nachts ein heftiger Kampf. Als Waffen dienten Handtücher, in deren Enden Knoten gebunden waren. Wer kein Handtuch hatte, ging mit der Faust vor. Der allerunruhigste Winkel war der, in dem Bungis schlief. Manchmal, wenn sich die Schüler, nichts Böses ahnend, zur Ruhe begeben hatten, der Lehrer gute Nacht gesagt und sich entfernt hatte, und Rubuls, der älteste und klügste Schüler, ein stiller, sanfter Knabe, die Lampe gelöscht hatte, fing Bungis an, über den Ofen zu den Türken Papierkugeln, die er vorher tüchtig durchgekaut und befeuchtet hatte, zu werfen, um die Türken zu reizen.

„Wer wirft da Papierkugeln‟, ruft einer von den Kleinen.

„Bungis, wer denn sonst‟, sagt ein anderer.

„Bungis, wirst du wohl Ruhe geben!‟ schilt Rubuls, der getrennt von den anderen in einem eigenen Bett schläft, „morgen wirst du wieder im Winkel stehen müssen.‟

„Was? Ich? Ich schlafe ruhig. Frage Genger, ob ich was getan habe‟, knurrt Bungis, wobei er ein Stück Baumrinde über den Ofen wirft.

„Gerade an die Nase! wer wirft da?‟ schreit ein Kleiner auf.

„Nun, Bungis, du bist wohl der Schuldige,‟ ruft Rubuls, „wart nur, wart, morgen...‟

„Bei Gott, ich tue nichts!‟ schwört Bungis, sich harmlos stellend. Dabei ergreift er im Dunkeln eine Pastel, wickelt Fußtücher herum und schleudert sie über den Ofen.

„Teufel, nun ist der Kopf kaput!‟ jammert ein Knabe auf.

Da erhebt sich von einem Lager eine weiße Gestalt und schwenkt ein geknotetes Handtuch in der Hand. Die Betten und Schlafbänke knarren. Weiße Gestalten aus dem Lager der Türken kriechen zur russischen Seite hinüber.

Rubuls, der sich aufmerksam horchend im Bett aufgesetzt hatte, hat den Kampf vorausgesehen. In seine wollene Decke gehüllt, kriecht er unters Bett und verhält den Atem. Im Dunkel ertönen Schläge, Flüche, Schluchzen. Mancher Wasserkübel, der am Bettende steht, wird umgeworfen. Das Wasser klatscht nur so auf, wenn einer, aus dem Bett springend, auf den Kübel tritt. Wenn der Mond scheint, ist der Kampf noch zäher und dauert länger, denn der Feind kann den Feind besser erspähen.

Schließlich wird es wieder still. Rubuls kriecht leise unterm Bett hervor, legt sich hin und dankt Gott, daß er mit heiler Haut davongekommen ist.

Diese Russen und Türken kämpfen jetzt an der Knipska ...

Die Türken verteidigten die Knipska-Brücke. Vergeblich mühten sich die Russen, aus der Richtung des Schipka anstürmend, sie über die Landstraße zu drängen. Hunderte russischer Schneebälle flogen durch die Luft, aber selten traf einer den Kopf eines Türken, die Feinde waren noch zu weit auseinander. Die Russen hatten Bungis zum General gewählt, und er war in der Tat ein tapferer Kämpfer. An der Spitze des Regiments stehend, näherte er sich den Türken immer mehr.

Der türkische General Osolin hatte gerade einen furchtbaren Schlag auf die Nase erhalten, als Zibin und Sapulin ankamen. Osolin preßte Schnee an die Spitze der Nase, aus welcher Blut träufelte.

„Zu Hilfe, zu Hilfe!‟ schrie er, als er die beiden Ankömmlinge bemerkte, „Zibin, Sapulin, zu Hilfe! Was steht ihr mit offenem Maul da!‟

„Nun geht es los, Zibin!‟ rief Sapulin, bückte sich, knetete Schnee zum Ball und warf. Der Ball fiel etwa zehn Schritt von Sapulin nieder. Zibin lächelte über Sapulins Courage. Er zweifelte immer noch an der Notwendigkeit am Kampfe teilzunehmen. „Wozu‟, dachte er, „einem Kameraden Schnee an den Kopf werfen bis er ein blaues Auge oder Nasenbluten hat?‟

Auch im vorigen Winter hatte er nicht an den Kämpfen teilgenommen. Er hatte noch nie jemanden geschlagen, noch nie die leidenschaftliche Kampfesfreude empfunden, von der seine Kameraden so ganz erfaßt waren. Er zitterte: das war Krieg, was er dort sah.

Aber dann verspürte er wieder den starken Hunger, der ihn tagelang, ja schon jahrelang plagte. Und dann ergriff ihn Zorn: jetzt mußte er kämpfen.

Dort bückte sich gerade sein Feind Bungis, der Ball auf Ball zu den Türken herüberwarf. Gerade kriegte Sapulin einen tüchtigen Klumpen an die Wange und jammerte auf. Zibin empfand es als heilige Pflicht, dem Verfolgten zu helfen.

Einen Schneeball in der Hand näherte er sich dreist Bungis. Die Türken wunderten sich, daß der bleiche, stille Zibin plötzlich so mutig geworden war.

„Da hast du!‟ schrie Zibin und warf einen Ball nach dem andern Bungis ins Gesicht, nur Bungis, Bungis allein, keinem anderen.

Bungis ging Schritt für Schritt zurück, seine Krieger mit ihm. Die Türken jubelten.

„Zibin ist unser General!‟ schrie Sapulin.

„Hurra! Zibin! Vorwärts!‟ riefen die Türken.

Und Sapulin, der eine Beschreibung des Türkenkrieges gelesen hatte, brüllte: „Allah il Allah!‟

„Allah il Allah,‟ wiederholten die Türken, deren Mut den Bungisschen Kriegern Angst machte.

General Bungis floh. Ohne Mütze, erhitzt, rot, atemlos, keuchend und schnaufend, hatte er Schipka erreicht und kreischte:

„Schipka muß verteidigt werden. Um keinen Preis die Türken hereinlassen!‟

Aber Zibin näherte sich ohne Furcht, still, ernst, sehr bleich, Bungis und warf seine Bälle nach Bungis allein, nach keinem anderen.

Bungis erschrak. So hatte er Zibin noch nie gesehen. Seine eingefallenen Augen hatten Leben gewonnen, und ihr schneidender Blick drang Bungis wie ein Messer ins Herz. Zibin hatte gleichfalls seine Mütze verloren. Er stand ganz nahe bei Bungis und warf nicht mehr, ungewiß, ob er Bungis die Hand reichen und Frieden schließen oder die Faust ballen und schlagen sollte. Aber er hatte noch nie jemand geschlagen ...

Da runzelte Bungis die Stirn, biß die Zähne zusammen und fiel wie ein Tiger Zibin an.

„Was schreckst du mich, du Heide, mit deinen irrsinnigen Augen! Teufel! Ich werde dir!...‟ brüllte er und schlug, Zibin die Hände festhaltend, mit dem Fuß nach dessen Bein. Zibin fiel in die Knie und wehrte sich kaum. Bungis faßte ihn am Kragen und schleuderte ihn wie eine Feder hin und her. Schließlich warf er ihn ganz zu Boden, kniete auf ihn hin, höhnte ihn, riß ihm das Hemd aus den Hosen und stopfte Schnee hinein.

„Frieden! Frieden!‟ riefen einige. Aber Bungis hörte nicht darauf. Er rieb Zibin das Gesicht mit Schnee.

Zibins Geduld war zu Ende. Er griff Bungis in die Haare.

„Ach du Heide! Du wirst mir die Haare reißen! Ich werde dich lehren!‟

Er ergriff Zibin am Rock und riß aus allen Kräften an ihm.

„Ich werde dir zeigen, Betteljunge!‟

Von Zibins Rock riß der Ärmel ab. Der morsche Stoff, den schon der Vater jahrelang getragen und den die Mutter im Herbst notdürftig für den Sohn zusammengestickt hatte, fiel wie Papier auseinander ...

Zibin stöhnte auf. Bungis ließ ihn los. Zibin setzte sich auf und begann zu schluchzen.

„Sieh, wie der Türkengeneral weint!‟ lachte Bungis, nach seiner Mütze suchend. Der allgemeine Kampf hatte inzwischen aufgehört.

„Weine nicht‟, sagte Sapulin und legte die Hand auf die Schulter des gedemütigten Kameraden. „Bungis ist der reine Räuber.‟

„Was sagst du, Schmutzfink,‟ schrie Bungis Sapulin an, „wisch lieber deine Nase ab.‟

Und Sapulin wischte wirklich seine Nase am Ärmel, worüber alle zu lachen anfingen.

Einige riefen, der Kampf müsse fortgesetzt werden. Da ertönte die Glocke. Rubuls stand auf dem Felde auf einem Stein und läutete zur Stunde. Bungis war einer der ersten, die über den Acker zur Schule liefen. Einer nach dem andern eilte fort. Nur Sapulin blieb bei Zibin.

„Sapulin,‟ sagte Zibin, „geh du zur Stunde. Ich kann nicht. Ich werde zum Armenhause gehen, zum Tischler, und mich erwärmen, dann wird man weiter sehen. Mit solch einem Rock kann ich mich nicht in der Schule zeigen. Wenn der Lehrer nach mir fragt, so sage die Wahrheit.‟

Sapulin watete traurig durch den hohen Schnee zur Schule. Zibin suchte seine Mütze; er fand sie zertreten im Schnee, schüttelte sie aus, setzte sie auf und schlich leise zum Armenhause.

Das Armenhaus befand sich an der Landstraße zwischen der Schule und der Knipskabrücke. Da der größte Teil der Armen zu Bauerwirten in die Pflege gegeben worden war, so war das Armenhaus in zwei Hälften geteilt und die eine davon an einen Tischler als Werkstätte vermietet worden...

Zibin trat beim Tischler ein, der gerade sein Vesperbrot aß.

„Oho, was für ein Krieger! Wahrscheinlich hat die Haut ein Loch!‟ lachte der Tischler.

Zibin sagte kein Wort, setzte sich auf eine Kiste und sah lüstern zu, wie der Tischler Sauerkohl aß.

„Wenn ich doch auch ein paar Löffel voll bekäme‟, dachte er und schlug vor Scham die Augen nieder.

„Nun, wirst du nicht in die Schule gehen?‟ fragte der Tischler.

„Ich kann nicht,‟ flüsterte Zibin, seine Tränen zurückhaltend, „ich kann nicht.‟

„Ja,, warum gehst du denn zur Rauferei? Das ist eine gute Lehre. Wahrscheinlich ist eine Rippe entzwei.‟

Zibin war erfroren und hatte starke Leibschmerzen. Er fühlte den Trieb, sich irgendwo hinzulegen. Zusammengezogen schlich er in den Winkel beim Ofen und legte sich auf einen Haufen Hobelspäne. Aus dem Ofen strömte eine Wärme, deren Milde Zibin betäubte.
„Nun, schlaf, schlaf ein wenig,‟ sagte der Tischler, „ich sehe, du bist krank. Fang nur nicht an zu sterben. Ach du, wer hat dir den Rock so zerrissen?‟

Zibin wollte sagen: „Bungis‟, aber beim Ofen wurde ihm so wohl, so wohl zumut, daß er nicht mehr zürnen konnte. Er schloß die Augen und schlummerte. Im Halbtraum erschienen ihm bald Bungis, bald Sapulin, bald der lange Rubuls mit der Glocke in der Hand, dann der Lehrer, der mit den Händen auf dem Rücken in der Klasse auf und ab ging. Zuletzt erschien ihm die Mutter, gedankenvoll am Spinnrad sitzend. Das Kätzchen hockt zu ihren Füßen, macht einen Buckel und schnurrt. Dann seufzt die Mutter:

Befiehl du deine Wege
Und was dein Herze kränkt
Der allertreusten Pflege
Des, der den Himmel lenkt...

Er sieht sich selbst im Bette liegend. Als er den Seufzer der Mutter hört, fühlt er sich wunderbar kräftig, springt aus dem Bett und ergreift die Hand der Mutter.

„Sei nicht traurig, Mütterchen, ich bin reich.‟

Die Mutter sieht ihn an und wundert sich. Ihr Sohn ist weiß wie ein Engel, in silberglänzendem Rock mit vergoldeten Knöpfen, hat rote Stiefel aus weichem Leder mit Brillantspangen an.

„Wie schön bist du, Jehzit‟, wundert sich die Mutter. Die Katze schmiegt sich an seine Füße. Da öffnet jemand die Tür. Bungis stürzt keuchend ins Zimmer.

„Gib meinen Rock ab, Betteljunge!‟ brüllt er. Zibin bekommt Angst, daß nicht von Bungis schönem Rock der Ärmel abgerissen wird. Doch er weiß wohl, daß es nicht Bungis’, sondern sein Rock ist. Aber er zieht dennoch den strahlenden Rock aus und gibt ihn Bungis, der ihn schnell anzieht und hinausläuft, wo ihn die Schar der Knaben jubelnd empfängt.

„Bungis ist unser General, hurra!‟

Er hört, wie die Knaben den Kampf beginnen. Einer schlägt auf ein Stück Blech, wie auf eine Trommel. Dann wird es still.

Der Tischler fängt an zu hobeln. Zibin erwacht. Er steht schnell auf und geht hinaus. Die Viertelstunde Schlaf hat ihn gestärkt.

Es dämmerte schon. In den Schulfenstern war Licht. Die Kinder lernten schon ihre Lektionen zu morgen. Der Himmel hatte sich aufgeklärt, nur im Osten waren noch Wolken. Es fror ein wenig. Zibin zitterte und eilte in die Schule.

Im Vorraum blieb er stehen. Er hatte Angst in die Klasse zu gehen, denn der Ärmel war fast ganz abgerissen, und er wußte genau, welch ein Gelächter sich erheben würde, wenn er so die Klasse beträte. Mechanisch faßte er nach der Klinke der Brotkammer und suchte seinen Brotsack auf. Der war ganz zusammengeschrumpft, und es war nichts mehr drin als ein kleines, vertrocknetes Brotendchen und ein fettiges Zeitungsblatt, in das ihm die Mutter am Montag Hanf gewickelt hatte. Den letzten Hanf hatte er schon zu Mittag aufgegessen.

Zibin schnitt mit einem alten Taschenmesser ein Scheibchen Brot ab, setzte sich auf einen Kasten und begann zu essen. Aber ihm schien, daß das vertrocknete Brot seinen Appetit nur mehre, daß diese Rinden ihn an wirkliches Essen — schmackhaftes Brot und Zukost — erinnerten.

„Wird denn dieser Hunger ewig dauern?‟ dachte Zibin, „wird er nie, nie ein Ende nehmen?‟

Er sah nach Bungis’ Lade hin und erbebte. Was war dort nicht alles drin! Da war Schinken, gebraten und gekocht, da war Butter und dicke Milch, und in einem Winkel stand ein Krug, in dem war Honig. Das hatte Zibin alles beobachtet. Ein furchtbarer Hunger zog Zibin, wie eine böse Macht, zu Bungis’ Kasten.

Vor Hunger krampften sich ihm die Eingeweide zusammen ...

Da fiel ihm das Engelsgewand ein, das er im Traum getragen hatte, und er schämte sich. Er sah im Geist seine Mutter, die ebenso trockenes Brot aß, nur selten Kohl wärmte, und die ihm besonders eingeschärft hatte: „Rühre fremdes Eigentum nicht an‟. Er schämte sich, er hatte stehlen wollen.

Aber der furchtbare Hunger ergriff ihn wieder; wie verzaubert erhob er sich, ging an Bungis’ Lade und versuchte den Deckel zu heben. Er öffnete sich leicht, die Lade war nicht verschlossen.

Im ersten Augenblick hatte er das Gefühl, als müsse er alles verschlingen, was in der Lade an Eßbarem war, um seinen Hunger zu stillen. Er wollte schon nach dem Schinken greifen, aber plötzlich bemächtigte sich seiner ein Ekel vor allem, was der Mensch in den Mund steckt, und er wollte nicht mehr essen. Er fühlte eine sonderbare trockene Süße im Munde. Kraftlos sank er auf eine andere Lade und sah in das trübe Licht des Lämpchens. Oben über der Lampe, an der weißen Decke schwankten schwarze Fäden, eine große Spinne kroch mit langen Beinen über die Wand.

„Die Fische haben ihre Höhlen, die Vögel ihre Nester‟, dachte Zibin. Die Mutter hatte diesen Vers oft gelesen und dabei geweint. Auch ihm wurde warm ums Herz, als ihm diese Worte Christi in den Sinn kamen. Aber weinen konnte er nicht mehr. Er empfand Ekel gegen alles.

In der Klasse erhob sich Lärm, die Tür wurde aufgerissen. Einige Knaben kamen lachend und lärmend in den Vorraum gelaufen.

Zibin erschrak. Er wollte den Deckel der Lade schließen, aber ein sonderbarer Ekel ergriff ihn wieder und schüttelte ihn wie Fieber. Er streckte die Hand aus, doch er hatte keine Kraft.

„Ach du Heide!‟ schrie Bungis, der die Tür geöffnet hatte, „das dachte ich mir schon. Wie sollte auch ein Bettler nicht stehlen! Satan!‟

Er gab Zibin einen Stoß in den Rücken, schlug ihn auf die Wange und trat mit dem Fuß nach ihm. Zibin fiel jammernd hin.

„Wer anders hat mein neues Messer gestohlen als Zibin,‟ kreischte Bungis und warf mit großem Getöse den Ladendeckel zu, „sofort gehe ich zum Lehrer.‟

Einige Knaben und Mädchen, die den Lärm vernommen hatten, kamen an die Tür.

„Was ist da?‟ fragte ein Mädchen.

„Ein Dieb!‟ rief Bungis lachend und drängte sich durch die Schar der Schüler.

Nach einer Weile kehrte er mit dem Lehrer in die Kammer zurück. Zibin saß auf der Lade, die Ellbogen auf die Knie gestützt, die Augen mit den Händen bedeckt.

„Genger und ich kamen zum Vesperbrot ... Auf einmal sehe ich, Zibin sitzt an meiner Lade, und sie ist offen. Genger kann es bezeugen‟, klagte Bungis.

„Still, warte bis ich dich frage‟, rief der Lehrer. Er sah Zibin an, der bleich und mit fiebrigen Augen dasaß und dem der abgerissene Ärmel an der Seite herabhing, und empfand Mitleid mit dem armen Jungen.

„Zibin, komm mit mir‟, sagte er.

Zibin erhob sich langsam und ging mit gesenktem Blick durch die Schar der Knaben und Mädchen dem Lehrer nach. Bungis gelang es noch, Zibin mit der Faust eins in die Seite zu versetzen.

„Zibin‟, sagte Sapulin freundlich mit klagender Stimme und faßte Zibins Hand an. In seinen Augen schimmerten Tränen.

Im Schreibzimmer des Lehrers atmete Zibin auf. Die geblümte Tapete, das hell erleuchtete warme Zimmer taten ihm wohl.

Der Lehrer setzte sich an den Tisch und fragte, Zibin streng ansehend:

„Sage, warum gingst du an Bungis Lade? Wolltest du stehlen?‟

Zibin wollte ja sagen, aber er bedachte sich. Er hatte ja nur seinen furchtbaren Hunger stillen wollen.

„Nein‟, antwortete er.

„Was dann?‟

„Ich hatte Hunger.‟

„Nun, so wolltest du doch stehlen.‟

„Ich weiß selbst nicht, wie das alles kam‟, flüsterte Zibin.

„Sage lieber die Wahrheit, bekenne deine Schuld, dann wird die Strafe leichter sein.‟

„Herr Lehrer ... Ich weiß nicht ... Morgen ... mir ist so schlecht zumut ...‟

„Wer hat dir den Rock zerrissen?‟

„Im Kriege zerriß er.‟

Der Lehrer lächelte.

„Wenn du Hunger hattest, warum kamst du nicht zu mir und batest mich?‟

„Ich schämte mich.‟

„Du schämtest dich? Stehlen ist eine Schande, nicht um Hilfe bitten. Zur Strafe wirst du morgen den ganzen Nachmittag im Winkel stehen und am Sonnabend sage der Mutter, daß sie am Montag herkommt. Nun gehe, ich werde Lise sagen, daß sie dir zu essen gibt.‟

Zibin fing an zu weinen. Aber dann nahm er sich zusammen, wischte die Tränen ab und ging in die Klasse. Bungis und dessen Freunde, die Zibin so sehr fürchtete, waren nicht da. Zibin setzte sich auf eine Bank. Ihm schien alles wie Traum, was heute geschehen war. Einige Mädchen guckten um die Ofenecke und lachten spöttisch. Die Kameraden sahen ihn an, als riefen sie: „Dieb, Dieb!‟

Ihm schien, als sähe auch das Christusbild an der Wand ihn an ... Ich bin dein guter Hirte.

„Und ich bin ein Dieb,‟ dachte Zibin, „morgen muß ich im Winkel stehen. Ich will lieber weglaufen.‟

Er erhob sich und ging hinaus. Sapulin ging ihm nach und fragte ihn im Hof: „Wohin gehst du, Zibin, wohin?‟

Aber Zibin hörte nicht mehr darauf. Er floh.

Bis nach Hause, wo die Mutter lebte, waren es etwa sechs Werst auf der Landstraße und vier Werst gerade über das Feld und über Waldwege, durch das Laskumgesinde. Zibin wollte den geraden Weg gehen. Er ging schnell, aber bisweilen überfiel ihn ein Zittern. Hunger spürte er nicht mehr.

Im Gehen überlegte er: „Was wird der Lehrer sagen, wenn er erfährt, daß ich weggelaufen bin, was die Mutter, wenn ich in der Nacht bei ihr ankomme?‟

„Aber wo soll ich denn sonst hin?‟ dachte er und sah sich verzweifelt ringsum. Die Antwort war Nacht, überall Nacht.

Dann lief er weiter.

Als er im Walde anlangte, war er völlig erschöpft. Der Frost nahm zu. Der Schnee knirschte schon unter seinen Füßen. Seine Pasteln waren hart gefroren und preßten seine Zehen wie Kneifzangen. Noch ein paar hundert Schritte lief er im Walde, dann blieb er stehen, er konnte nicht mehr weiter ...

Eine sanfte Schläfrigkeit umfing ihn. Er setzte sich unter eine Tanne, begann zu schluchzen, hörte aber gleich wieder auf, die Schläfrigkeit war so milde und süß ...

Holzfäller fanden Zibin erfroren.

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Griwennik: russisch: Zehnkopekenstück