Diese unerklärliche Stille. Jon Fosses Dichtung

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    Cornelia Jentzsch
Jon Fosse ist ein Dichter am Rand einer ungeheuren zivilisatorischen Bruchkante. Er steht wie wir alle an dieser Bruchkante, den dahinter sich zeigenden Abgrund spiegelt er jedoch in seiner Poesie auf besondere Weise. In seinen Gedichten bewahrt er, was bei den nächst zu vermutenden Schritten der Zivilisation zurückzubleiben und letztlich zu verschwinden droht.

Die Moderne beginne, wenn die Philosophie nicht mehr von Engeln spreche - mit dieser Feststellung soll ein Philosoph das 21. Jahrhundert eingeläutet haben. Bei Jon Fosse finden sich in seinem jetzt erstmals auf deutsch erschienenen Gedichtband „Diese unerklärliche Stille“ (Übersetzung Hinrich Schmidt-Henkel, Kleinheinrich Münster 2016) nicht nur Engel, sondern ausnehmend viele Engel. Als Mittler zwischen göttlicher und menschlicher Welt, Begleiter von Erschütterungen und Symbole von Hoffnung gehören sie zur Grundausstattung seiner Poesie. Engel erscheinen selten in Schall und Rauch, ihre Botschaft kommt von der Innenseite des menschlichen Lebens. Sie begegnen uns in Stille, einer unerklärlichen, weil unerklärbaren Stille, in der die Sprache an ihre Grenzen gestoßen ist. Der Mensch kann eintauchen in diese Stille, auch ohne Sprache, denn seine Existenz ist umfassender. Er spürt diese Stille, die ihn aufnimmt, ohne dass er sie erklären könnte. Erklären muss.

„so still kann es sein / …/ wie eine gnade / die wir … atmen können“

Genau hier beginnt die Bruchkante der Moderne, die es als Fortschritt ansieht, alles zu untersuchen und offenzulegen, um besser eingreifen und Jegliches verändern zu können.

„Der Sinn der Welt ist verloren gegangen. Wir sind beim Buchstaben stehen geblieben. Wir haben das Erscheinende über der Erscheinung verloren“, klagte 1799 der Dichter Novalis. Zweihundert Jahre nach Novalis sind nicht nur die menschlichen Gene entschlüsselt, sondern darüber hinaus auch die Gene der drei Milliarden in jedem Menschen lebenden Bakterien, das sind mehr als er Körperzellen besitzt. Die einst trotz ihrer Komplexität einheitliche Schöpfung zerfällt in Bruchstücke von Tatsachen. Gigantische Finanzen und Kapazitäten werden eingesetzt, nur um ein Wissen zu erlangen, das den Wissenden möglicherweise überflüssig machen wird.

Hier ist enormer Klärungsbedarf, sagt uns die Poesie von Jon Fosse in ihrer stillen, ruhigen und wunderbar klaren Art. Indem sie zeigt, was wir verlieren, wenn wir unser Denken und Empfinden, unser gesamtes Menschsein radikal dieser Entwicklung anpassen. Am Ende dieser Entwicklung könnten Rechner soweit mit menschlichen Fähigkeiten programmiert und ausgestattet sein, dass unweigerlich die Frage steht: Wozu braucht es überhaupt noch: den Menschen? Und in diesem Zusammenhang: Wozu braucht es noch Sprache?

Eine ganze Kultur des Staunens und Zweifelns ist durch diese Entwicklung im Verschwinden begriffen. Gefährdet war sie allerdings schon immer. Antonin Artaud, der radikale französische Theatererneuerer, dem der vor allem als Dramatiker bekannte Norweger Jon Fosse in seiner Sicht auf menschliche Unzulänglichkeiten und Verlorenheiten in seinen Theaterstücken nicht unähnlich ist, schrieb, die Heiden unterscheide von uns, „dass am Anfang ihrer Religionen eine unheimliche Anstrengung steht, nicht als Menschen zu denken, um den Kontakt mit der ganzen Schöpfung zu wahren“. Wir leiden, wie der Dichter Christian Lehnert sagt, an einer Störung des spirituellen Gleichgewichtsinns. Denn mit der Kultur des Staunens verschwinden auch die das Rätselhafte liebenden Götter.

Inmitten dieser Tradition des Staunens und Zweifelns steht die Dichtung Jon Fosses. Ja, sie beschwört geradezu das Geheimnis der Schöpfung, dem sich der Mensch auf der Spur wähnt, einer Entschlüsselung immer näher. Doch das Wunder der Schöpfung ist: Dass Dinge ungesagt, unerforscht bleiben werden. Davon zeugen nicht nur jene Engel in Jon Fosses Poesie. Für das Geheimnis findet Fosse eine einfache Formel. Er schreibe

„auf ein grünes Wort zu / das er nicht versteht / (aber wenn, dann grün)“

Codewort, Türoffner zurück zum Unsprachlichen und eigentlichen Sein ist das parmenidische NICHTS, ungeprägt vom Menschen, seinem Denken und Tun, seinen Vorstellungen und den darauf fußenden Handlungen. „Nichtsein kannst Du nicht erkennen noch sagen – es ist nicht zu greifen“, schrieb der antike Philosoph. Es geht nicht nur um Vernunft, sondern immer um eine Existenz zur Gänze. Es geht, aus menschlicher Position heraus formuliert, um die unerklärliche Stille außerhalb der Sprache, die Jon Fosse in seiner Poesie aufgehoben hat, ohne sie vollends aussprechen zu müssen. Es genügen wenige Worte, einzelne Zeilen wie:

„so weisst du dass es / das unbegreifliche gibt / das alle begreifen / denn das gesagte / ist immer das gegenteil / aber genau dann ist es da / dann begreifen wir / dann sind wir umgekehrt zugegen“

Das Großartige an der Dichtung Jon Fosses ist, dass er genau jenes Sprachferne, Sprachlose einzufangen und uns zu vermitteln vermag. Denn er denkt und spürt das Nichtsprachliche ebenso klar und intensiv wie das von der Sprache Umfassbare. Er weiss in jeder von ihm beschriebenen Anwesenheit zugleich jenes „Umgekehrte“, dessen so deutliche wie bedeutsame Präsenz aus purer Sprachfixiertheit ignoriert wird. Fosse gelingt es, sehr weit über Sprachgrenzen hinauszugehen. Das ist eine enorme poetische Leistung, wenn man bedenkt, dass genau an diesem Punkt immer wieder Dichter und Philosophen scheiterten, weil sie die existenzielle Not des schier unlösbar mit der Sprache vertäuten Menschen spürten. Sei es Maurice Blanchot, der erschauderte angesichts dieses Desasters des - aufgrund seines Wissens mit Einsamkeit inmitten des Universums geschlagenen - Menschen. Sei es Mallarmé, der in seinem dreißig Jahre lang erarbeiteten Gedicht „Un coup de dés“ erstmals versuchte, das weiße, unbeschriebene Papier mitsprechen zu lassen, der aber letztlich an seinem Hauptprojekt eines „Buches der Bücher“ Schiffbruch, naufrage, erleiden musste.

Einer der Gründe für dieses immer wieder erlebte Scheitern ist die primäre Funktionalität von Sprache, die jeden zwingt, unter seinen „Vorstellungen dieselben scharfen und genauen Unterscheidungen, dieselbe Diskontinuität herzustellen wie zwischen den materiellen Gegenständen“, wie der französische Dichterphilosoph Henri Bergson notierte. Der Intellekt sei eine Folgeerscheinung des Lebens und vermag daher nicht, das Leben in seinem vollständigen Wesen zu erfassen. An diesem fehlenden Vermögen, alles sagen zu können, was der Fall ist, leidet der Mensch. Das heisst, er leidet genaugenommen an sich selbst, denn erst der Mensch hat die Sprache zur Welt gebracht, sie zur Verfehlung und zum Frevel werden lassen. Seine Sprache wird nicht nur zum Ursprung seines Fragens und zum Ausdruck seiner Verwunderung, sie ist vor allem Grund seiner Verwundung, seiner ihm von der Vernunft beigebrachten Wunde. Am Schluss seines Tractatus verwies Ludwig Wittgenstein deshalb auf das notwendige Schweigen, das die Begrenztheit der menschlichen Sprache auffängt und in eine andere Art der Kommunikation oder besser eines Weltverständnisses umwandelt.

„der wahnsinn / hängt in dem grünen // und der apfel ist rot / ohne sünde“

Das Dilemma der menschlichen Limitierung durch Sprache ist so gesehen auch eine Kapitulation vor der Fülle der Welt.

„Er mit den dummen wörtern / die nie sagen können / was er denkt und fühlt“

Jenes Wissen um diese sprachabhängige Unzulänglichkeit streift permanent die Gedichte Jon Fosses. Um ihr nicht zu unterliegen sondern adäquat zu begegnen, versucht er, in seiner Poesie so wenig wie möglich sich von der Sprache abhängig zu machen und deshalb mit geringem Vokabular auszukommen. Das dafür präzise und wirksam eingesetzt wird. Aus dieser Zurückhaltung gewinnt seine Sprache ihre Genauigkeit, die weder Zweifel noch Irritationen zurücklässt, sondern universelle Resonanz und Deutlichkeit besitzt. Dass Sprache nicht nur redundant, sondern effektiv eingesetzt werden kann, so dass selbst Unsagbares noch in ihrem Echoraum transportiert werden kann – dieses Vermögen verlieren wir zusehends mit der Vergeudung und Abnutzung unserer Sprache in den Medien, in denen die Worte ausgeschüttet werden, als wären sie Abfall. Schlagworte, HashTags sind Verständigungen nur noch über Vorläufigkeiten. Parmenides mahnte: „Es ist alles nur Name, was die Sterblichen da gesetzt haben, vertrauend, es sei wahr...“

Jon Fosses Prämisse also lautet: Wozu mit immer neuen Worten schreiben, wo doch das bestehende Sprachmaterial noch nicht einmal ausgeschöpft ist? Junge, Meer, Boot, Welle, Stein, Hund, Engel, Himmel, Dunkelheit, Licht – Worte, die in den Gedichten von Jon Fosse zuverlässig wiederkehren. Neben den Engeln zieht besonders der Hund als streunendes Zeilenwesen durch seine Verse, er symbolisiere „sprachloses Verstehen“ und im Schreiben versuche Fosse sich diesem sprachlosen Verstehen zu nähern. Sein poetischer Hund ist ein Hermes im Tiergewand, Mittler zwischen Natur und Mensch, zwischen Sprache und Nichtsprache, als irdischer Bote dem himmlischen Engel spiegelbildlich gleich,

„... denn der himmel ist / ein großer weißer hund“

Nicht physikalische, sondern poetische Gleichgewichtspunkte sind diese wiederkehrenden Worte. Sie stabilisieren ein System und halten es in Balance, bilden Kaskaden, Reihen, Sequenzen, letztlich ein Gemeinsames. Weltfülle, in einem einzigen Wort enthalten, offenbart sich Jon Fosse, weil für ihn „ein Wort nie dasselbe“ ist. Mit jeder Sekunde verändern sich dessen Situation, Kontext und Zusammenhang, alles zieht in fortwährendem Wandel. Fosses Gedichte sind deshalb Schöpfungsgedichte, ja in ihrer knappen Art fast Schöpfungsformeln:

„in der bewegung die wir erschaffen / und die uns erschafft, so deutlich, im dunkeln“

Dieses Dunkel meint nicht nur, im Gegensatz zum Taglicht, einen lichtarmen oder unheimlichen, unklaren Zustand, beides schwingt sicherlich in diesem Wort mit. Jon Fosse denkt jedoch vor allem das Dunkel des unendlichen Alls, in dem Tod und Leben vereint sind. Zu dem fortwährenden Schöpfungsprozess gehört zweifellos der Tod, er wird von Generation zu Generation weitergegeben. Für Fosse bedeutet dieses Dunkel das Boot, in dem er sitzt.

Die zahlreichen Wiederholungen und Varianten in seinen Gedichten sind mehr als funktional. Sie symbolisieren die Gesetze eines Kreislaufs in der Natur. Gleichzeitig sind sie Vergewisserungen: Alles bleibt letztlich durch sämtliche Veränderungen hindurch an seinem Platz, weil es zuverlässig wiederkehrt. So wie das in steten Wellen anrollende und sich zurückziehende Meer für die norwegischen Küstenbewohner aller Zeiten Beständigkeit garantiert. Die Fjorde Norwegens, Kindheit, Vater und Mutter, all das findet sich in den Gedichten des am norwegischen Hardangerfjord aufgewachsenen Jon Fosse. Das Westland seiner Herkunft verdichtet sich zur

„erzählung / im körper / ist das linienspiel / der berge / am himmel entlang / dort drinnen“

Jon Fosse schreibt im Minoritätsidiom Nynorsk, die Schriftsprache des norwegischen Westlandes, wenig geschätzt von den städtischen Bewohnern Bergens, die lieber in der urbanen Schriftsprache Bokmål schreiben. Doch nur in Nynorsk lässt sich eine Welt erzählen, die so festgefügt ist wie die schweren Steinplatten auf den alten Bootshäusern in dem kleinen Ort Strandebarm, in dem Jon Fosse aufwuchs. Die Notwendigkeit, Sprache zur Verständigung gebrauchen zu müssen, legt nahe, sie zumindest im Alltag als etwas Verlässliches zu betrachten. Denn sie birgt in dem sich permanent wandelnden Wortmaterial und in dem regional eigenen Entstehungsverlauf einen großen Teil menschlicher Kulturgeschichte. Für die Begriffe Zeit und Wetter kennt das Französische nur ein einziges Wort: temps. In diesem Wort ist die Erfahrung, dass Wachsen und Vergehen der angebauten Kulturpflanzen von den Umweltbedingungen abhängen, zeitlos aufgehoben. Das unglaubliche Wunder der menschlichen Existenz, des Da-Seins, kann aber letztenendes keine einzige Sprache zur Gänze erfassen, es verbleibt ein sprach-loser Rest.

„diese unerklärliche stille ... Vielleicht geht es / darum / ohne darum zu gehen / Das ist was wir tun / Das ist was wir immer wieder erzählen sollen / Und was nie erzählt werden kann / Das ist was wir sind und tun“

Mit seinem Gedichtband Diese unerklärliche Stille schrieb Jon Fosse einen großen Zyklus über Vergangenheit und Anwesenheit. Er reiht sich damit ein in eine lange und reiche poetische Tradition, die die Kraft und Schönheit ihrer Werke eben gerade aus jener Unsagbarkeit schöpft. Der englische Dichter Michael Hamburger bezeichnete als Herkunftsort seiner Gedichte das „Vorsprachliche“, noch nicht zur Sprache Gekommene. Und Angelus Silesius schrieb in seinem Cherubinischen Wandersmann: "Gott ist so über Alls, dass man nichts sprechen kann.... / Gott ist ja lauter Nichts, ihn rührt kein Nun und hier: / Je mehr du nach ihm greifst, je mehr entwird er dir...“. Der als Johann Scheffler geborene Silesius konvertierte vom vernunftorientierten Protestantismus zum Katholizismus, in dem er die ihm eigene mystische Spiritualität besser auszuleben hoffte. Er nannte sich Angelus Silesius, übersetzt „schlesischer Engel“ oder „Bote aus Schlesien“. Dass Jon Fosse, zunächst Protestant und dann Quäker, sich ebenfalls dem Katholizismus zuwandte, mag einen vergleichbaren Grund haben. Die Mystik gesteht dem menschlichen Geist zu, ohne sprachliche und vernunftgesteuerte Vermittlung die Wirklichkeit eines Gottes und also mithin der Schöpfung unmittelbar zu erspüren. Die einzig für einen Mystiker mögliche Sprache sind Poesie und verstörende metaphysische Paradoxien, also Phänomene, die mit sprachlichen Mitteln nicht greifbar sind, sich also einem Begreifen prinzipiell entziehen.

„Was immer ich schreibe, schreibe ich als Lyriker“,

bekennt der weltweit eher als Dramatiker und Prosaautor bekannte Jon Fosse. Seine Poesie enthält nicht wenige mystische Elemente und Anklänge. Sie ist grundiert von der Suche nach göttlichen Spuren im irdischen Dasein, ist gefärbt von „erlernter Einsamkeit“, Trauer und Wehmut und einer Sehnsucht ins Unbestimmte. Weil das Dunkel kommen wird, das Vergängnis und ein unergründlich Anderes,

„dunkelheit... / fast glänzend in ihrer matten schwärze / in der sterne erscheinen / und stumm ihr licht senden / von orten / auch tief in uns“

Lichthelle Botschaften, von uns zur Orientierung empfangen. Mit ihnen norden wir uns ein im ungestümen Meer Welt. Wir sind, was wir sehen und aufnehmen können. Durch Fosses Poesie erkennen wir, was und wer wir außerhalb der Sprache sind.

Doch vor dem Zurückgleiten ins Dunkel gibt es eine Anwesenheit, die getragen wird von einer ruhigen Bestimmtheit und stillen Freude, vom Blau des Himmels, den wiederkehrenden Wellen, von Tagen

„mit ihren klängen von auferstehung“

vom Anderen, der Halt gibt, und von der niemals sicheren Liebe, die

„nicht in der Schwere ist von etwas das ist... die Liebe ist nie etwas das ist! / Sie ist nur zu etwas gewandt das ist“

Der eigentliche Grund für Jon Fosses Schreiben, der hinter all dem letztlich steht, ist die niemals zu klärende, drängende Frage:

„wer ist es, der schreibt, bin das ich / oder ist es etwas das in mir schreibt und das / mein schreiben schreibt / durch mich …. so ist es: wenn ich schreibe / und dem was nicht ist, nah sein soll / muss ein ich deutlich sein / oder spürbar in all seiner undeutlichkeit / … dieses ich ist einfach zugegen“

Originally published in Die Horen Nr. 275 (2019) / Neue Literatur aus Norwegen