Grenzen und Grenzpolitik oder Ein russisches Ei des Kolumbus
An Finnlands Ostgrenze, einst Reichsgrenze zwischen Schweden und Nowgorod sowie kulturelle Trennlinie zwischen Rom und Byzanz, treffen noch heute West und Ost aufeinander. Das Christentum erreichte die finnischsprachigen Stämme zunächst aus dem Osten. Feindschaften und Kriege entzündeten sich am Kampf um Handelswege und den Zugang zum Meer. Einen historischen Meilenstein markiert die Schlacht an der Newa im Jahr 1240, bei der Alexander, Fürst von Nowgorod, das schwedische Heer schlug. Der Grenzverlauf war unklar und umstritten. Zeitgleich drängten Brandschwendung betreibende finnische Bauern immer weiter gen Osten. Zwar verlief die Grenze lange zwischen zwei Konfessionen, doch war sie nie eine Sprachgrenze. Auf beiden Seiten sprach man finnische Dialekte.
Der Friede von Teusina (Täyssinä) im Jahr 1595 führte zu einer in gegenseitigem Einvernehmen gezogenen Grenze zwischen Schweden und Russland – der ersten seit über 270 Jahren. Die Verteidigung von Schwedens Ostgrenze und die „unhaltbaren Zustände“ in der Grenzregion hatten Gustav I. Wasa und seinen Söhnen unentwegt Kopfzerbrechen bereitet. Besonders schwer lastete die Verantwortung dabei auf dem Schlossvogt von Wiborg. Bei einer Zusammenkunft des Adels 1547 in Åbo, einberufen von Gustav I. Wasa, wurde der Vorschlag laut, eine breite Zone verbrannter Erde entlang der Ostgrenze zu schaffen, die jeden russischen Angriff vereiteln würde. Diese Abwehrmaßnahme sollte es dem Feind unmöglich machen, seine Versorgung in dem verwüsteten Land sicherzustellen. Kari Tarkiainen formuliert es in seinem bemerkenswerten Buch „Der Moskowiter“ folgendermaßen: „Selbstverständlich missfiel dieser Vorschlag dem König.“ (Tarkiainen 2017, S. 60)
Die Lage änderte sich durch den Frieden von Stolbowo im Jahr 1617, der Gustav II. Adolf zu der Aussage bewegte „Schweden könne nun zum ersten Mal in seiner Geschichte glücklich und in Frieden leben, ohne Bedrohung aus dem Osten.“ (Tarkiainen S. 134) Der Friede von Stolbowo und die Russlandpolitik des Jahres 1812 weisen viele Gemeinsamkeiten auf. Beide sorgten für langanhaltende Ruhe an Schwedens Ostgrenze, ganz gleich, ob diese am Ladogasee oder am Torneälv verlief. Noch in den 1930er-Jahren wurde Juho Kusti Paasikivi, finnischer Gesandter in Stockholm und später Staatspräsident, von manchen Schweden darauf aufmerksam gemacht, welch guter Nachbar Russland ihnen gewesen sei.
Zwar gelang es Schweden mit dem Frieden von Stolbowo nicht, sein erklärtes Ziel zu erreichen – die Herrschaft über die Halbinsel Kola sowie die Weißmeerküste inklusive Archangelsk. Doch erfuhr das Reich, indem es sich Kexholms Län, Nöteborg und Ingermanland als Außengebiete (voittomaa) einverleibte, einen erheblichen Zuwachs an karelisch-orthodoxer Bevölkerung. Im Grenzgebiet wurde die Stimmung gegenüber dem Schwedischen Reich immer feindseliger. Seine neuen Untertanen in Kexholms Län und Ingermanland bewiesen nach wie vor große Loyalität zu Russland. Da man also im Fall eines Zerwürfnisses mit Russland nicht auf die orthodoxen Karelier zählen konnte, erwog Gustav II. Adolf 1619, den gesamten karelischen Stamm nach Estland zu deportieren und die menschenleeren Gebiete in den östlichen Provinzen mit folgsamen lutherischen Finnen zu besiedeln (Tarkiainen S. 140). Unter dem wachsenden Druck lutherischer Pastoren und einer steigenden Steuerlast verließ ein großer Teil der karelischen Bevölkerung Kexholm und Ingermanland auch ohne Deportation und ließ sich in Nowgorod und Twer nieder, vor allem nach dem sogenannten „Rupturkrieg“ 1656-58. An ihrer Stelle kamen protestantische Bauern aus Savolax und Karelien (savakot ja äyrämö) nach Ingermanland.
Der Große wie der Kleine Unfrieden brachten deutliche territoriale Verluste auf Seiten Schwedens mit sich. In beiden Fällen basierte die neue Grenze zu Russland weder auf Sprache noch auf Ethnie. Das Gouvernement Ingermanland rund um St. Petersburg sollte bis zu Stalin protestantisch und finnischsprachig bleiben. Nach dem Russisch-Schwedischen Krieg 1788-90 unter Gustav III. wurde der Kommandeur der Savoer Brigade, General Curt von Stedingk – später Graf von Stedingk und letzter Feldmarschall von Schweden – als Botschafter nach St. Petersburg entsandt. In einem Bericht von seinen Reisen im russischen Teil Finnlands, dem sogenannten Alten Finnland, äußerte sich von Stedingk besorgt: „Finnland, das ist unser Schutz, unser Damm, der diesen reißenden Strom [die Russen] aufhalten soll. Fest muss er stehen, doch tut er das nicht. Ohne dieses Land sind wir weniger als nichts.“
Mit Blick auf die Befestigungsarbeiten, die auf der russischen Seite im Gange waren, vermerkte Stedingk in einem Bericht aus dem Jahr 1795 Folgendes: „Die Kaiserin muss nicht mehr fürchten, in ihrer Hauptstadt Krieg zu sehen (...) Einer der irreparablen Schäden des letzten Krieges ist es, dass die Russen erfahren haben, wie übel wir ihnen mitspielen können. Mittlerweile ist die Kaiserin in der Lage, uns großen Schaden zuzufügen, ohne selbst nennenswerte Verluste davonzutragen.“
Noch deutlicher wird Stedingk, als er auf den wichtigsten Ratgeber der Kaiserin, Fürst Potemkin, und dessen Vision vom optimalen Verteidigungsplan gegen Schweden verweist – ein russisches Ei des Kolumbus: „Finnland verwüsten, die Bevölkerung deportieren und sie zwingen, sich in dünnbesiedelten Regionen Russlands niederzulassen.“ (von Platen 208, S. 220-221)
In seiner Potemkin-Biografie zitiert Simon Sebag Montefiore dasselbe Gedankenspiel, als der Krieg bereits voll entbrannt ist: „Doch zu Lande rückte Gustav immer noch vor. In einem jener Momente, in denen sich Potemkin die schonungslose Evakuierung von Menschen ausmalte, machte er halb im Scherz den Vorschlag, Finnland zu entvölkern, seine Menschen zu vertreiben und es in eine Wüste zu verwandeln.“ (Montefiore S. 584)1 Heute würden wir sagen: stalinistische Methoden.
Aus der Wiedervereinigung des Alten Finnlands mit den „durch die Armee Seiner Kaiserlichen Majestät in diesem Krieg vom Königreich Schweden eroberten Provinzen“ im Jahr 1812 ging das Großfürstentum Finnland hervor. Der Friede von Dorpat bestätigte diese Grenze 1920 erneut und sicherte Finnland Petsamo zu. Seine Kritiker schmähten das Ergebnis als „Schandfrieden von Dorpat“: die Friedensunterhändler mit Paasikivi an ihrer Spitze hätten die Gelegenheit versäumt, Ostkarelien mit dem selbstständigen Finnland zu vereinen.
Die Grenze von Dorpat war natürlich keine Sprachgrenze. Und erst mit den Deportationen unter Stalin Mitte der 1930er-Jahre verödete das Grenzgebiet bei Nord-Ingermanland. Dasselbe war in Ladoga-Karelien zu beobachten, dessen Bewohner beiderseits der Grenze russisch-orthodox und meist auch miteinander verwandt waren.
Im Kreml war die Überraschung groß, als die ganze Karelische Landenge während und nach dem Winterkrieg unter dem Schutz der finnischen Armee evakuiert wurde. Paasikivi hält Stalins Irritation in seinem Tagebuch fest, nachdem dieser erfahren hatte, dass die finnische Bevölkerung angeblich gezwungen worden war, ihre Häuser zu verlassen. Als die Rote Armee ein leergefegtes Wiborg vorfand, entfuhr es Molotow vor den Schweden: „Halten sie uns denn für Barbaren?“ Die abgetretenen Gebiete blieben auch nach dem Fortsetzungskrieg und dem Waffenstillstand von Moskau im September 1944 unbewohnt.
Das von Finnland praktizierte „ethnic auto-cleansing“, wie man es heute wohl nennen würde, ist historisch einzigartig. Man könnte sagen, Finnland hat Potemkins Plan in die Tat umgesetzt – notgedrungen. Stalins Nationalitätenpolitik tat ein Übriges, und so war Sowjet-Kareliens Lebensenergie lange vor dem Untergang der Sowjetunion versiegt. Was bleibt, ist eine messerscharf gezogene Grenze – und ein ehemals von Stalin erobertes Territorium, das noch heute verlassen ist (voittomaasta joutomaaksi).
Damit, dass Finnland keine „terra irredenta“ mehr hat, wie Ostkarelien es vor dem Krieg war, ist diese Grenze, die einst so ungerecht erschien, mit der Zeit selbstverständlich geworden und somit essentieller Bestandteil finnisch-russischer Nachbarschaft.
1 Simon Sebag Montefiore: Katharina die Große und Fürst Potemkin: Eine kaiserliche Affäre. Aus dem Englischen von Bernd Rullkötter und Sabine Baumann, erschienen 2009 bei S. Fischer, Frankfurt am Main