Die Ostsee und ihre Mythologie in der polnischen Literatur
Das Meer hat in der polnischen Geschichte nie die gleiche Bedeutung erlangt, die es für die Menschen in Griechenland, Italien, Nordeuropa und England gehabt hat. Dies zeigt sich auch in der Symbolwelt unserer Kultur. Obwohl die Ostsee spätestens seit der Renaissance in der polnischen Literatur auftaucht, nimmt sie dort insgesamt nur wenig Raum ein – anders als in volkstümlichen Überlieferungen. So ist die Kultur der kaschubischen Bevölkerungsgruppe seit urslawischen Zeiten stark von der Landschaft und ihrem Lebensraum an der Südküste der Ostsee beeinflusst worden, weswegen ihre Beziehung zu dem mächtigen Element Meer eine wichtige Rolle in ihrer Mythologie und Symbolik spielt. Kaschubische Überlieferung wird allerdings nicht Teil meiner Betrachtungen sein.
Die für die polnische Kultur so wichtige Raumsymbolik basiert vor allem auf Bildern von Ebenen und Hügeln, von Feldern, Wiesen, Wäldern und Steppen, die sich weitläufig zwischen der Ostsee und den Karpaten erstrecken. Die Ästhetik des Meeres und der Berge wurde erst in der Romantik entdeckt, und noch später, erst im Positivismus, gewannen Stadtlandschaften an Bedeutung. Die Gesellschaft, die hauptsächlich aus Adel und Bauern bestand, bezog ihre Bilderwelt vor allem aus Landschaften und deren Vegetation. Die wichtigste literarische Figur war der Landadelige – in Friedenszeiten der auf seinem Gut lebende Landbesitzer, in Kriegszeiten der für seine Heimat kämpfende Ritter. Seeleute erschienen dagegen nur selten auf den Seiten der polnischen Literatur, beispielsweise als Entdecker fremder Länder, als Kaufleute oder Fischer. Um weite Räume zu überbrücken, nutzten meine Vorfahren nicht das Schiff, sondern das Pferd. Es repräsentierte den Traum von Freiheit und das Glück der Geschwindigkeit. Werke, in denen literarische Topoi wie das Meer, das Schiff, Seeleute und Reisen auftauchten, ähnelten eher griechischer und römischer Literatur und entstammten kaum den persönlichen Erfahrungen und Beobachtungen ihrer Autoren.
Aufgrund ihrer gemeinsamen Liebe zur Antike war noch im 19. Jahrhundert Rom der Ort, an dem sich die verschiedenen Ostseeanrainer trafen, sowohl metaphorisch als auch real. Ich möchte dies anhand eines Beispiels verdeutlichen, das nicht aus der Literatur, sondern aus der Kunstgeschichte stammt. Der dänische Bildhauer Bertel Thorvaldsen lernte in der italienischen Hauptstadt polnische Künstler und Mäzene kennen und reiste daraufhin nach Polen. Viele seiner Werke haben in Polen eine bleibende Heimat gefunden. Einige davon stehen an Orten, die besonders wichtig für unsere Kultur sind. So befindet sich in der Krakauer Wawel-Kathedrale, in der die polnischen Könige gekrönt wurden, der von Thorvaldsen gefertigte Grabstein für einen der bedeutendsten polnischen Adeligen, Włodzimierz Potocki. Zwei seiner berühmten Statuen, die von Kopernikus und die von Prinz Józef Poniatowski, stehen an zentralen Stellen in Warschau. Letztere ist besonders aufschlussreich. Poniatowski war der Neffe des letzten Königs von Polen und einer der herausragenden Militärführer in Napoleons Armee. Er starb auf tragische Weise während der Völkerschlacht von Leipzig. Verwundet trieb er sein Pferd durch die Strömung des Flusses Elster, um seine Soldaten in einen Angriff zu führen, und ertrank dabei. In der kollektiven Erinnerung der Polen wurde er praktisch über Nacht zu einer mythischen Figur, nicht nur aufgrund der emotionalen Aura, die ihn umgab, sondern auch aufgrund seines Heldenmuts im Kampf. Der Prinz war ein äußerst attraktiver Mann und berühmt für seine zahlreichen Affären. Das machte ihn zu einem idealen Kandidaten für die Heldenfigur. Männer wie Frauen bewunderten ihn – ganz unverhohlen für seine Mannhaftigkeit, unterschwellig aber für seine Männlichkeit. Die patriotischen und erotischen Ideale vereinten sich in ihm zu einem Ganzen mit einzigartig mächtiger Wirkung. Dieser romantischen Figur setzten die Polen ein Denkmal, dessen Standbild ein der Antike zu geneigter, in Rom arbeitender, dänischer Bildhauer in ein römisches Gewand kleidete. Der Poniatowski des Warschauer Denkmals springt nicht in einen Fluss, sondern trägt stattdessen, stolz und in friedlicher Pose auf seinem Pferd sitzend, römische Tunika und Harnisch – ganz wie die Reiterstatue von Marc Aurel auf dem römischen Kapitolsplatz.
Man könnte also sagen, dass das Mittelmeer eine besondere und vermittelnde Rolle in der Begegnung der Ostseeanrainer spielte, was auf der vorherrschenden Vorstellung des Mittelmeers als kultureller Wiege aller europäischen Nationen beruhte. In geringerem Maße hat auch das Schwarze Meer die polnische Bilderwelt beeinflusst, vor allem durch dramatische historische Ereignisse, wie die Eroberungskriege der Krimtataren. Durch Politik und Wirtschaft war Polen eng mit seinen östlichen Nachbarn verbunden, zuerst mit den Kiewer Rus und der Türkei, und später auch mit dem zaristischen Russland. Doch die wichtigsten Quellen unserer Kultur stammten zweifellos zunächst aus Italien und später aus Frankreich.
Bevor die raue Landschaft des Meeres im Norden ein ästhetisches Staatsbürgerrecht in der polnischen Literatur erhalten konnte, musste die kulturelle Anziehungskraft der Regionen jenseits der traditionellen europäischen Mitte am Mittelmeer entdeckt werden. Eingeleitet wurde der Perspektivwechsel in der Romantik durch Madame de Staël, die den Wert der Kultur des Nordens gegenüber der Kultur des Südens ergründete. Diese Entdeckung führte dazu, dass man sich in der polnischen Literatur an die Existenz der Ostsee erinnerte. Mit dem Wechsel vom 19. ins 20. Jahrhundert wurde dieser romantische Impuls noch bestärkt. Künstler des Jungen Polen schlossen sich mit anderen nationalen Bewegungen des Jungen Europa zusammen und begründeten gemeinsam den „Jugendstil”. Kontakte zu skandinavischen Künstlern spielten dabei eine besonders wichtige Rolle. Diese Begegnungen waren nun nicht mehr nur Randerscheinungen, sondern standen im Mittelpunkt der künstlerischen Aktivitäten.
Einer der einflussreichsten Künstler dieser Zeit war der Dramatiker und Autor von Novellen und Essays Stanisław Przybyszewski (1868-1927). Der Autor lebte viele Jahre in Berlin und schrieb sowohl auf Polnisch als auch auf Deutsch. Innerhalb der internationalen Künstlerkreise der Berliner Bohème galt er zur Jahrhundertwende als der wichtigste Prophet der neuen Kunst. Die leidenschaftliche, aber auch stürmische Freundschaft mit August Strindberg und Edvard Munch hat in den Arbeiten aller drei Künstler Spuren hinterlassen. Auch die Werke von Henrik Ibsen waren von großer Bedeutung für Przybyszewskis Arbeit als Dramatiker. Seine Reisen nach Dänemark und Norwegen ebenso wie seine Kontakte zu den dort lebenden Autoren verarbeitete er in zahllosen Artikeln über die norwegische Kunst für die deutsche und polnische Presse, die sich damals in hohem Maße mit künstlerischen Themen beschäftigte, die auch die Künstler der Ostseeregion bewegten.
Etwas jünger als Przybyszewski war Stanisław Ignacy Witkiewicz (1885-1939), der auch unter dem selbst erfundenen Pseudonym Witkacy bekannt ist. Die Bedeutung seiner Arbeiten übersteigt die seines Vorgängers erheblich. Er war Maler und einer der ersten Fotografen Polens, aber auch Philosoph, Kunsttheoretiker, Romanautor und Essayist. Seine größten Erfolge feierte er jedoch mit seinen Dramen. In den Nachkriegsjahren, nach seinem Tod, betrachtete man ihn als Wegbereiter des absurden französischen Theaters. Seine Stücke wurden in viele Sprachen übersetzt und in Theatern auf beiden Seiten des Atlantiks aufgeführt. In vielen seiner Dramen spielen parodistische Anspielungen auf Ibsen und Strindberg eine große Rolle. Für eine kurze Zeit war sein Leben nicht nur mit der Kultur der Ostseeländer, sondern auch mit ihrer Küstenlandschaft verbunden. Witkacys Interesse an der Fotografie hatte sicherlich eine geringere Bedeutung als seine anderen kreativen Leidenschaften. Aber die Fotografien seines Nachlasses sind Teil der frühen polnischen Kunstfotografie. Unter seinen frühen Werken gibt es einige interessante Küstenlandschaften aus der Ostseestadt Palanga (dt. Polangen, pl. Połąga), die heute in Litauen liegt. Schon zur Jahrhundertwende war Palanga ein angesagter Kurort, der besonders bei polnischen Malern sehr beliebt war, so auch bei Witkacys Vater, Stanisław Witkiewicz, und bei Leon Wyczółkowski.
Die Fokussierung auf den Norden, die von der Romantik angestoßen und zur Jahrhundertwende verstärkt wurde, erhielt nach dem Ersten Weltkrieg eine völlig neue Bedeutung. Polen hatte nach mehr als einem Jahrhundert der Unterdrückung seine Unabhängigkeit wiedergewonnen und damit auch wieder einen direkten Zugang zum Meer. Das kulturelle Interesse an der Ostsee wurde politisch stark gefördert und führte zu einer lebhaften Entwicklung von Unterhaltungs- und Jugendliteratur sowie zu publizistischen Werken über Meeresthemen. Einen wichtigen Beitrag zur Popularisierung der pommerschen Geschichte und der slawischen Gegenwart im Ostseeraum leistete insbesondere das Buch Wiatr od morza (Wind vom Meer, 1922), das nicht besonders umfangreich war, aber aufgrund seines Autors Bedeutung erlangte. Stefan Żeromski (1864–1925) galt damals als der wichtigste polnische Prosaautor und war zu dem Zeitpunkt eine Autorität in Fragen der polnischen Kultur. Der Autor erzählt in dem Buch ausgewählte historische Episoden von frühesten Zeiten bis zu seiner Gegenwart und konzentriert sich dabei auf die Momente dramatischer Konflikte zwischen den an der pommerschen Küste lebenden Slawen und den jeweiligen Eindringlingen, wie den Wikingern, den Rittern des deutschen Ordens und den Deutschen. Die einzelnen Episoden werden durch die Figur des Smȩtek verbunden, der in der Volksmythologie die Personifizierung des historischen Bösen darstellt. Sein Name ist eine archaische Version des Wortes „smutek”, Traurigkeit. Am Ende des Buches beschreibt der Autor, angefeuert vom Enthusiasmus der wiedergewonnenen Unabhängigkeit Polens, wie Smȩtek die Ostseeküste für immer verlässt. Zu dem Zeitpunkt konnte niemand vorhersehen, dass Smȩtek nach weniger als zwanzig Jahren, am 1. September 1939, in diese Region zurückkehren würde.
Ein anderes wichtiges Buch Żeromskis aus der gleichen Zeit ist Miȩdzymorze (Zwischen den Meeren). Dieses Prosawerk über die Halbinsel Hela (auf die sich der Titel bezieht) drückt die Faszination von der Schönheit der Küstenlandschaft aus, die sich so stark von den flachen polnischen Ebenen mit ihren Wäldern, Wiesen und Feldern unterscheidet. Żeromskis Art, die wechselnden Farben des Wassers und des Himmels über dem Meer zu beschreiben, hat eindeutig impressionistische Züge. Er kannte die Ostseelandschaft aus eigener Erfahrung, weil er in den letzten Jahren seines Lebens mehrere Sommer in Orłowo nahe Gdynia (Gdingen) in einem kleinen Haus direkt am Strand am Fuße einer hohen Klippe verbracht hatte. Heute beherbergt es ein nach ihm benanntes Museum.
In den frühen Novellen dieses Autors gibt es zahlreiche ausführliche und vielfältige Beschreibungen in einer emotionalen Sprache, die dicht mit Metaphern und zahllosen raffinierten und schmückenden Beiwörtern durchzogen ist und auf das heutige Lesepublikum übertrieben wirkt. Jüngere Autoren haben sich schon in den 1920er Jahren ausdrücklich von Żeromskis gekünstelter Prosa distanziert. Dennoch war der Autor viele Jahre bei einer großen Leserschaft beliebt, sodass seine Werke über die Ostsee und ihre Küste bedeutend für die Entwicklung einer Meeressymbolik in der polnischen Literatur waren.
Unter den Autoren, die in der Zeit zwischen Erstem und Zweitem Weltkrieg bekannt wurden, ragt Jarosław Iwaszkiewicz (1894–1980) heraus. Seine, wenn auch kurzen, Begegnungen mit der kulturellen und natürlichen Umgebung der Ostseeregion hinterließen interessante Spuren in seinen Werken. Iwaszkiewicz wurde in der (heutigen) Ukraine geboren und verbrachte die meiste Zeit seines Lebens in Zentralpolen. Er war Experte für Italien, das er bewunderte und fast zwanzig Mal besuchte. In seiner persönlichen Mythologie des Raums spielt der Vergleich zwischen der Ukraine und Sizilien eine Schlüsselrolle. Sein Aufenthalt an der Ostsee war eine Ausnahme, die mit seiner Arbeit im diplomatischen Dienst zu tun hatte. Schon vor dem Krieg war Iwaszkiewicz mehrere Jahre Kulturattaché an der polnischen Botschaft in Kopenhagen. Er übersetzte mehrere Werke von Kierkegaard ins Polnische und schrieb Skizzen über die Landschaft, Kultur und Literatur Dänemarks, deren Titel er von Andersens Märchen auslieh: Gniazdo łabȩdzi (Das Schwanennest). Viel wichtiger aber war die Einbeziehung Dänemarks und der Ostseelandschaft in seine eigene kreative Arbeit. Die bekanntesten Arbeiten seines reichhaltigen Schaffens aus Dichtung, Prosa, Dramen und Essays, sind neben seinen Gedichten kurze Prosaformen. Eine seiner besten Kurzgeschichten wurde in Słońce w kuchni (Sonne in der Küche, 1939) veröffentlicht. Es handelt sich um die bewegende und dramatische Geschichte eines einfachen Mädchens aus dem Volk, der Tochter von polnischen Emigranten in Dänemark. Die Situation des jungen polnischen Mädchens, das als Dienerin in einer wohlhabenden dänischen Mittelschichtfamilie arbeitet, soll nicht einfach nur die kulturellen und sozialen Unterschiede einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort zeigen. Auch wenn Iwaszkiewicz sich bemüht, die Einzelheiten glaubhaft darzustellen, verwendet er die realistischen Details, um eine darüber hinausgehende, universalistische Perspektive zu entwickeln, und schildert die existenzielle Einsamkeit und Hilflosigkeit eines Menschen gegenüber den Umständen, in die er gerät. Die Helden der Geschichte sind dabei nicht nur Chiffren, die für bestimmte Ideen der existenzialistischen Philosophie stehen. Auch die psychologischen Porträts der Figuren sind sehr wichtig, selbst wenn diese nur sparsam entworfen werden. Ihr Verhalten wird von dem Erzähler einer Fabel geschildert. Doch die Interpretation ihrer Erfahrungen und die tiefere Bedeutung der Geschehnisse werden nur indirekt durch eine Reihe von Bildern mit symbolischem Subtext angedeutet. Die Ereignisse entwickeln sich vor dem Hintergrund einer durchgehend konstruierten Landschaft, deren Natur den Lesenden mehr mitteilt als es ein direkter Kommentar es könnte. Alle für die Geschichte wichtigen Ereignisse finden am Meer statt. Dieses Element ist ständiger Begleiter der Helden, im Glück und Unglück, in der Liebe und im Tod. Die Handlung erstreckt sich über alle vier Jahreszeiten an der Ostsee. Die Geschichte enthält außerdem Beschreibungen des Meeres zu verschiedenen Tages- und Nachtzeiten, bei wechselndem Wetter, im Hafen von Kopenhagen und an der Küste von Jütland, in den Tiefen der Bucht mit der kleinen Stadt, dem hauptsächlichen Ort des Geschehens, ebenso wie an der westlichen Küste der Halbinsel zur Nordsee. In der Erfahrung der Heldin repräsentiert das Meer vor allem ihr Gefühl der Bedrohung und Isolation, ihre unbestimmten Ängste, die Hilflosigkeit und Nostalgie. Ignasia, die Hauptfigur der Geschichte, erlebt in dieser Verfassung den Herbst, den Winter und den Frühlingsanfang. Das Meer ist zu dieser Zeit grau und stürmisch und der Himmel darüber verhangen. Das drohende, dunkle, winterliche Meer steht außerdem für Trennung und Sehnsucht. Denn das Meer trennt in diesen Monaten Torben, der sich auf Grönland aufhält, von jenen, die ihm besonders nahestehen. Er ist der älteste Sohn von Ignasias Arbeitgebern und die einzige Person, die ihr Vertrauen gewinnen konnte. Er wird aber nicht nur von Ignasia vermisst, sondern auch von seinem jüngeren Bruder Kai, der sich von seinen Eltern ungeliebt fühlt und davon träumt, nach Grönland zu fahren. Nur die Güte Ignasias, die ihm mit mütterlicher Zärtlichkeit begegnet, beschützt ihn vor der Gefühlskälte seiner Mutter und der Strenge seines Vaters. In einem verzweifelten Moment rennt der Junge jedoch davon und ertrinkt im Meer. Nach der Rückkehr Torbens aus Grönland erlebt Ignasia während eines herrlichen Sommers am Strand glückliche Momente der Liebe, während die Ostsee im Schein der Sonne türkisblau und warm erstrahlt wie die Südsee. Selbst die Nacht wird dann vom Mond erhellt. Ignasias Angst verwandelt sich in fröhlichen Übermut, und das Mädchen schwimmt weit hinaus ins Meer. Allerdings gibt es für das sommerliche Idyll kein glückliches Ende. Die Eltern von Torben sind nicht damit einverstanden, dass ihr Sohn eine Bedienstete heiratet. Davon abgesehen sind beide Helden gegen ihren Willen in andere Beziehungen verstrickt. Der hübsche Torben weckt ein ambivalentes Interesse bei der jüngeren Schwester seiner Mutter, während Ignasia von einem wesentlich älteren Fremden begehrt wird, der früher Sozialist und Teilnehmer an Arbeiterstreiks war, heute aber eine kleine religiöse Sekte anführt. Das Finale erinnert an antike Tragödien: Als der verworrene Knoten kurz vor dem glücklichen Entwirren steht, führt eine plötzliche, unvorhergesehene Wendung in eine Katastrophe. Ignasia versteht sich selbst nicht. Sie wäre gerne woanders. Allerdings ist nicht der Ort ihr Problem, sondern ihr Gefühl der Entfremdung, das sie weder benennen noch ausdrücken kann, ihr neurotisches Schwanken und ihre existenzielle Unfähigkeit, einen festen Platz zu finden. Am Ende tötet das Mädchen Torben mit einem Pistolenschuss, während er mit dem Kanu fährt, und sein Körper taucht in das Wasser der gleichen Bucht ein, in der im Frühjahr schon sein Bruder ertrunken ist.
Das Motiv des Todes durch Ertrinken taucht regelmäßig in Novellen und Kurzgeschichten von Iwaszkiewicz auf. Der Autor verwendet dieses Motiv immer in derselben interpretativen Perspektive, denn diese Todesart ist nur den Jungen und Unschuldigen vorbehalten, denen der Autor positive Werte zuschreibt. Wenn der Tod in Iwaszkiewiczs Prosa auf andere Weise eintritt, zum Beispiel durch Erhängen, trifft dies nur Figuren mit eindeutig negativen Attributen. Iwaszkiewicz bleibt dieser Symbolik des Todes auch in dem Werk treu, das ausschließlich an der Ostsee spielt. Wie stark die Meereskulisse vom Autor in das Bedeutungsnetz der Geschichte, in die Entwicklung von Gemütslagen sowie in die psychologischen und philosophischen Subtexte verwoben ist, wird deutlich, wenn wir die Beschreibungen in der Geschichte mit jenen aus dem vorher erwähnten Buch über Dänemark vergleichen. In Gniazdo łabȩdzi werden die gleichen geografischen Orte beschrieben, die den Rahmen für die Prosahandlung bilden. Aber der Autor verleiht ihnen in dem früheren Werk nicht die emotionale Tiefe oder Bedeutung, die die Beschreibung der Küste in dieser Geschichte hat und die immer mit den Erfahrungen der Figuren verknüpft ist.
Nach dem Zweiten Weltkrieg zwangen die Protokolle von Jalta Millionen Polen, ihre Heimat zu verlassen und nach Westen in die Gebiete umzuziehen, die die Deutschen auf der Grundlage des gleichen Abkommens räumen mussten. Zu den Polen, die aus der Gegend von Vilnius (Wilna) kamen, gehörte der Prosaschriftsteller Zbigniew Żakiewicz (1933–2010), der mehrere Jahrzehnte in Gdańsk (Danzig) gelebt hat. Wie viele andere, die aus dieser Gegend stammten, erinnerte ihn die hügelige kaschubische Wald- und Seenlandschaft in Pommern ein wenig an seine verlorene Heimat. In den zahlreichen, aufeinander folgenden Bänden seines literarischen Journals zeigen viele, verstreute Notizen, wie das ursprüngliche Gefühl des Fremdseins an einem neuen Ort nach und nach teilweise ersetzt wird durch die wachsende Vertrautheit mit der kaschubischen Landschaft, mit Danzig und dem Meer. Ein typisches Merkmal seiner Arbeit, sowohl der autobiografischen als auch der fiktionalen, ist die Verbindung von Ernsthaftigkeit mit grobem Humor, des Metaphysischen mit dem Alltäglichen. Philosophische Fragen über den Tod und die Aussicht auf Unsterblichkeit werden in seinem Werk in nüchternen Szenen ausgebreitet, in denen sich die biologischen Seiten des körperlichen Lebens Gehör verschaffen. Der Humor und die Reichhaltigkeit seines Stils bewahren seine Werke vor der Vulgarität. Dafür sorgt ein Erzähler, der aus der Perspektive einer naiven Person berichtet – eines Kindes oder eines gebildeten Erwachsenen, der eine einfache Sicht auf die Dinge bewahrt hat. Dieser Erzähler weiß, wie er das Gelernte anwenden kann und wie man aus Beobachtungen philosophische Schlüsse zieht, aber er hat nicht die Spontaneität und die sorgenfreie Haltung desjenigen verloren, der gerne gut isst und trinkt. Dies trifft zum Beispiel für Żakiewiczs letztes Buch zu, Gorycz i sól morza (Bitterkeit und Salz des Meeres, 2000). Die Helden seiner Geschichten sind widersprüchlich: Sie wissen, wie sie die sinnlichen Vergnügen des Lebens genießen, haben aber auch eine gefährliche Tendenz zu Wahnsinn und Melancholie. Entsprechend sind Żakiewiczs Beschreibungen der Ostseelandschaft modelliert. Das Meer symbolisiert Unendlichkeit, als metaphysische Perspektive wie auch als poetischer Ausdruck. Gleichzeitig ist es aber auch die Kulisse trivialer Ereignisse, die auf humorvolle Weise beschrieben werden, fast wie im Stil der alten Stummfilmkomödien. Der Erzähler mag sich selbst oder seine Helden scherzhaft mit einem mächtigen Bison oder Bären aus den litauischen Wäldern vergleichen, der im Angesicht des sich bis zum Horizont erstreckenden Meeres staunend glaubt, sich am Ende der Welt zu befinden. Eine metaphorische Kurzformel für Żakiewiczs Haltung gegenüber der Ostseelandschaft drückt sich im Titel einer seiner Novellen aus den 1990er Jahren aus. Der Titel bezieht sich auf ein Gedicht von Adam Mickiewicz, in dem der durch Litauen fließende Fluss Wilia (Neris) im Fluss Njemen (Memel) mündet, um dann „in den Tiefen des Meeres”1 zu verschwinden.
Bei einigen der heute in Gdańsk (Danzig) lebenden Prosaautoren lässt sich eine Parallele zu Żakiewiczs Lebensgeschichte feststellen – mit dem Unterschied, dass nicht sie selbst Neuankömmlinge aus den östlichen Grenzgebieten der ehemaligen Republik, aus Vilnius und Lwiw (Lemberg) waren, sondern ihre Väter. Paweł Huelle (geb. 1957) und Stefan Chwin (geb. 1949), von denen hier die Rede ist, wurden nicht nach Gdańsk umgesiedelt; sie wurden hier kurz nach dem Krieg geboren. Die Mythologie der östlichen Grenzgebiete, die so viel Raum in der polnischen Literatur einnimmt, wird in ihrem Werk zwar nicht ausdrücklich thematisiert, sie wird aber auch nicht verworfen. Stattdessen trugen die Autoren zu einer neuen literarischen Mythologie der nördlichen Grenzgebiete bei. Ihr Werk ist Beweis dafür, dass sie ihren Geburtsort als eigene Heimat akzeptieren. Aber sie vernachlässigen auch nicht die Erinnerung an die verwickelte, multinationale und multikulturelle Vergangenheit ihrer Geburtsstadt, die über mehrere Jahrhunderte auch die Heimat der dort lebenden Deutschen und Menschen weiterer Nationalitäten gewesen ist. Ihre Darstellung von Gdańsk, die an anderer Stelle wiederholt diskutiert und analysiert worden ist, ist ein eigenes Problemfeld. Hier möchte ich nur darauf eingehen, inwiefern die Lage von Gdańsk an der Ostsee die Arbeit der beiden Autoren beeinflusst hat.
Huelles Prosa hat zwei unterschiedliche Tonalitäten. Auf der einen Seite enthüllen seine Werke den ausgezeichneten Instinkt eines Beobachters, für den ihn jeder Reporter beneiden würde. Diese Gabe der schnellen Beobachtung ermöglicht es dem Autor, die Wirklichkeiten von Zeit und Ort mit ungewöhnlicher Lebendigkeit darzustellen. Auf der anderen Seite ist sein Werk durch eine reiche Vorstellungskraft geprägt, durch das elementare Naturell eines Erzählers, der es liebt, die fantastischsten Legenden zu erfinden, um seine Leserschaft und sich selbst zu unterhalten.
Inmitten der mit beinahe dokumentarischer Genauigkeit dargestellten Details führt der Autor das Element des Überirdischen ein, das an romantische Fantasyromane erinnert. Er balanciert auf so riskante, aber gleichermaßen gekonnte Weise zwischen Wahrscheinlichkeit und Unwahrscheinlichkeit, dass die Lesenden die erfundene Welt ohne Zögern akzeptieren. Diese doppelte Existenz, die in einem spezifischen geografischen und historischen Kontext verwurzelt ist und sich gleichzeitig auf eine andere Dimension der Realität bezieht, drückt sich in seinem Werk auch in der Darstellung des Meeres und der Strände der Danziger Bucht aus. Die Handlung seines ersten und bekanntesten Romans, Weiser Dawidek (dt. 1990), spielt während der Sommerferien eines elfjährigen Jungen und seiner drei Freunde, die Dinge erleben, die sie für den Rest ihres Lebens prägen werden. Huelle ließ sich von der Tradition des Entwicklungsromans inspirieren und zeichnet nach, wie sich die kindliche Fähigkeit, das Mysterium des Daseins zu berühren, in die bittere Erkenntnis des Erwachsenen verwandelt, dass dieses Mysterium nicht erklärt werden kann.
In der realistischen Dimension ist die Tatsache, dass die Kinder am Anfang des Romans nicht an den Strand gehen können, weil sich im Meer um Danzig eine ökologische Krise abspielt, ein besonderes Merkmal dieser außerordentlichen Ferien. Fische und Algen sterben und bedecken das seichte Wasser und den Sand der Bucht wie ein stinkender Teppich. Dies ist tatsächlich passiert, allerdings zehn Jahre später als der Roman suggeriert, und nicht in diesem Umfang. Zu Anfang ist die Vergiftung der Bucht Thema der üblichen täglichen Nörgelei der gelangweilten Kinder. Während der Erzählung entwickelt sich aber nach und nach ein fast apokalyptischer Ton. Die Situation spitzt sich durch eine Hitzewelle und eine lang andauernde Trockenheit zu, und die Menschen flehen um Regen. Ein Patient entkommt der Psychiatrie (die Beschreibung des Ortes entspricht übrigens dem realen Ort). Der Entkommene ist eine Art grotesker Prophet, der in einer gruseligen Prophezeiung das Ende der Welt voraussagt. Der jugendliche Held wird von einem Alptraum heimgesucht, in dem er beobachtet, wie monströse Märchentiere aus dem Meer steigen. Die riesigen Monster zerstören die Küstenhäuser und verschlingen die Fischer. Sowohl der Traum als auch die Prophezeiung des Verrückten sind eindeutige stilistische Paraphrasen der Offenbarung des Johannes. Der Roman enthält mehrere solcher biblischer und poetischer Anspielungen. Jedoch trifft der gehobene Ton auf einen umgangssprachlichen Stil, sowohl in der Erzählung als auch in den Dialogen der Jungs, die das Wasser in der Bucht an eklige Fischsuppe erinnert.
Die Küstenlandschaft in dem Text, der den Band Opowiadania na czas prezprowadzki (Schnecken, Pfützen, Regen und andere Geschichten aus Gdaǹsk, 1996) abschließt, ist durch eine ähnliche Dualität gekennzeichnet, die bestimmte historische Realitäten mit einer allgemeinen Reflexionsebene verbindet. Eine der Figuren ist ein Mann, der tief in der Verzweiflung versunken ist, weil er einen Engel erschossen hat. So stellt sich das Ereignis seinen Gefühlen dar. Die Lesenden lernen schnell eine andere Perspektive kennen. Der arme Unglückliche, der nun Patient in der Psychiatrie ist, hatte vor vielen Jahren als junger Soldat nachts Wachdienst am Strand von Gdańsk. Dies ereignete sich während der stalinistischen Zeit, als die Regierung davon besessen war, die nationalen Grenzen zu bewachen. Zu dieser Zeit wurden die Strände jeden Abend geharkt, damit es einfacher war, die Spuren derjenigen zu entdecken, die die Grenze illegal überqueren und flüchten wollten, zum Beispiel nach Schweden. Dieses Vorgehen entstammt nicht Huelles literarischem Erfindungsgeist, sondern ist historische Tatsache, auch wenn sie wie eine paranoide Illusion wirkt. Der pflichtbewusste junge Wachsoldat findet jeden Morgen die Abdrücke von nackten Füßen, die über den geglätteten Sand von den Dünen zum Wasser verlaufen. Eines Tages dann erhascht er im morgendlichen Nebel eine geflügelte Figur, die auf das Meer zuläuft. Er schießt und tötet ein junges Mädchen. Sowohl die Flügel des Mädchens, das an diesem Morgen zum Strand gekommen ist, als auch die früheren Spuren im Sand sind die Illusionen eines kranken Geistes. Nur der Tod einer zufälligen Fremden ist real. Der im Krankenhaus gealterte Patient harkt nun täglich den Sand vor dem Krankenhausgebäude und schaut genau hin, als suche er nach etwas.
Anstatt der Träume, des Fantastischen oder Übersinnlichen, die ein wichtiges Element in Huelles Vorstellungsvermögen sind, zieht es Stefan Chwin vor, ausschweifende literarische Andeutungen in seine Werke einzubauen. Auch die mystische Perspektive, die in Żakiewiczs Werk ein Gegengewicht zur übermütigen Körperlichkeit darstellt, interessiert Chwin nicht. In seinen Arbeiten geht es um eine intellektuelle Haltung: die subtile und prägnante Reflexion eines Essayisten. Er konstruiert seine Welt aus sehr genauen Beschreibungen, die mit Metaphern durchzogen sind und deren Elemente er mit der Faszination eines echten Gelehrten und Connaisseurs sammelt. Er interessiert sich nicht für die antike Kunstfertigkeit, faszinierende Geschichten zu spinnen. In seiner Prosa kommt es nicht auf die Ereignisse selbst an, sondern darauf, was sie erzählen, die Atmosphäre, die sie umgibt, und die Landschaft, in der sie spielen. Chwin ist ein Maler von Figuren und Objekten, aus deren Erscheinen er eine metaphorische Bedeutung zieht, wie ein Wahrsager, der aus Karten eine Zukunft voraussagt, die für das ungeschulte Auge nicht sichtbar ist. Die Ostseelandschaft in Chwins Roman Tod in Danzig (dt. 1995) hält sich zwar an geografische und historische Tatsachen, durch die aber universelle Bedeutungen hindurchschimmern, die unabhängig von Ort und Zeit sind. Die Handlung in Gdańsk direkt vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg sowie die Gestaltung einer internationalen Galerie von Porträts hätten ihn veranlassen können, ein solide in Politik und Geschichte eingebettetes Sittengemälde zu schreiben. Natürlich enthält das Buch entsprechende Akzente, die bei der Leserschaft auf großes Interesse gestoßen sind. Dennoch wäre es eine Herabwürdigung des Werks, wenn man bei dieser Interpretation stehen bliebe. Chwin hat die politischen und historischen Tatsachen seinen künstlerischen Bedürfnissen angepasst und einen Roman über Liebe und Tod, über die Flucht vor dem Leben und die Rückkehr ins Leben geschrieben. Sein Roman ist Ausdruck des Fortbestehens einer romantischen Haltung in der modernen, humanistischen Philosophie – trotz aller historischer Veränderungen. Die Landschaft der Ostsee entspricht in dem Roman dem Muster der romantischen Melancholie, nicht nur weil Chwin sich mehrfach auf die Malereien von Caspar David Friedrich bezieht, und auch nicht, weil auf den Titelbildern der verschiedenen Auflagen seines Romans Friedrichs Bild „Mondaufgang am Meer” abgebildet war – der perfekte Ausdruck der melancholischen Haltung des Malers gegenüber der Welt. Der Titelheld, Hannemann, wird sowohl in jungen Jahren als Medizinstudent als auch später bei seiner Arbeit als Arzt von der Suche nach der mysteriösen Grenze zwischen Leben und Tod angetrieben. Er ist außerdem ein Professor, der vor Studierenden Autopsie-Vorlesungen hält. Eines Tages bekommt er die Körper der Opfer eines in der Danziger Bucht untergegangenen Vergnügungsdampfers auf den Tisch. Wie das Schicksal es will, entdeckt er zu Beginn der Vorlesung, als er das Laken vom Sektionstisch hebt, den Körper der Frau, die er liebt – ohne dass er vorher von ihrem Tod erfahren hatte.
Das Erlebnis des Verlusts, von dem er sich nicht erholen kann, erdrückt ihn in den folgenden Jahren. Hannemann gibt seine Arbeit und die medizinische Forschung für immer auf und gerät auch mental in die Randzonen des Lebens. Am Ende des Kriegs versuchen alle seine Bekannten und Nachbarn, auf einem großen Passagierdampfer nach Deutschland zu flüchten. Diese Episode im Roman basiert auf der tatsächlichen Geschichte des Untergangs der „Wilhelm Gustloff”, einem Schiff, das mit Tausenden Flüchtlingen an Bord von einem sowjetischen U-Boot versenkt wurde. Sowohl der Versuch, an Bord zu gelangen, als auch das Verbleiben in Gdańsk werden so geschildert, als lägen sie außerhalb von Hannemanns Wille und Entscheidung. Wenn es um sein Schicksal geht, verhält er sich absolut passiv. Erst nach dem Krieg erfährt Hannemann aus einem Brief seines Assistenten Retz, einem der wenigen Überlebenden, dass seine Nachbarn und ihre Kinder ertrunken sind. Dieses Ereignis wird sehr kurz und einfach beschrieben, aber auf eine außergewöhnlich berührende Weise. Über den Absender des Briefes erfahren die Lesenden auf den ersten Seiten des Romans, dass er vor dem Krieg am liebsten auf der langen, weit ins Meer hineinreichenden Seebrücke in Sopot (Zoppot) spazieren gegangen ist. Er pflegte dort zu stehen, ohne sich um das kalte Wetter oder den seine Haare zerzausenden Wind zu scheren, und starrte hinaus auf den „dunklen Horizont”2. Retz wird mehrfach einfach als „Melancholiker” beschrieben. Der Erzähler erwähnt, dass er wie einen merkwürdigen Talisman immer einen Gipsabdruck des Antlitzes der „Unbekannten aus der Seine”, des berühmten ertrunkenen Mädchens aus der Romantik, bei sich trägt.
In Chwins Roman ist die Ostsee ein dunkles Meer des Todes. Nur einmal, vor dem Ertrinken von Hannemanns Geliebter, ist sie die Kulisse für ein Treffen der Liebenden. Doch auch dann als abendliche Landschaft, deren Farben bereits den Tod andeuten. Der Erzähler beschreibt „dunkle Umrisse, das schwarze Profil des Mannes und der Frau auf dem silbernen Hintergrund der schimmernden See”. Als Hannemann zum Ende des Romans langsam wieder das Leben entdeckt, hat dies nichts mit der immer noch starken Präsenz des Meeres und mit der Symbolik der Küstenlandschaft zu tun. Im Gegenteil, ein neues Kapitel im Schicksal des Titelhelden beginnt erst nachdem er Gdańsk verlassen hat, worüber wir aber nichts mehr erfahren.
Ich habe nur einige Beispiele vorgestellt, die unterschiedlicher Art und gleichzeitig von hohem literarischem Wert sind. Dabei habe ich über Werke gesprochen, die nicht nur auf ihre regionale Wirkung beschränkt sind. Würden wir die unterschiedlichen lokalen literarischen Traditionen berücksichtigen, gäbe es natürlich erheblich mehr Texte, die aus verständlichen Gründen mit dem Thema der Ostseelandschaft und ihrer Mythologie verknüpft sind. Die Texte, die ich hier besprochen habe, sind mit Blick auf ihren Gegenstand und ihre Poetik Bestandteil der gesamtpolnischen, nationalen Literatur, weil sie ein Potenzial für intellektuelle und künstlerische Verallgemeinerungen in sich tragen, die sich in den von den Autoren geschilderten Erfahrungen widerspiegeln und die wiederum in ihren jeweils eigenen Realitäten von Zeit und Ort verwurzelt sind.
Vortrag gehalten während der Konferenz "Landschaften der Ostsee in Literatur und Kunst" in Visby im November 2002