Zu Besuch bei Jurij Dmitrijew
Ich betrete diesen Raum im Herbst. Er scheint schon seit Jahren leer zu stehen. Diese Leere ist abgestanden, veraltet. Ihre Quelle, ihr Epizentrum, befindet sich unter dem Tisch, wo der von Ermittlern beschlagnahmte Computerturm gestanden hat; ein Leck, zu dem durchtrennte, sinnlose Drähte führen.
Nun steht ein neuer Computerturm auf dem Tisch. Ständig klingelt das Telefon, aufdringlich: Verbindungen werden neu geknüpft, die Stimmen von Freunden kehren zurück. Am Telefon ist Juri Brodski, der über Solowki forscht und dessen Buch über die schmerzliche Geschichte der ersten Insel des Archipel GULAG gerade einer Prüfung auf extremistische Inhalte unterzogen wird. Ein Juri sagt zum anderen Juri, er werde ihn nach Kräften unterstützen; auch ist es kein Zufall, dass beide befreundet sind und beide verfolgt werden.
Durchs Haus streift die Katze Dascha, miaut, als sei sie beunruhigt, geht immer wieder zur Tür. Scheinbar riecht sie noch das Gefängnis, das Eingesperrtsein. Dieser Geruch fällt Menschen nicht auf, weil Juri Dmitrijew fröhlich und gesprächig ist, als habe es das Jahr Gefängnis nicht gegeben. Dahinter verbirgt sich jedoch die stille Tragödie der Trennung: Seine Tochter Natascha ist weit weg, er darf sie weder sehen noch sprechen. Sie blieb für ihn dort – im sonnenreichen Sommer des Jahres 2016, als Dmitrijew mit einer Kamera auf Expedition nach Solowki ging, den Sekirnaja-Berg filmte, von dessen Namen, der an ein scharfes Henkerbeil denken lässt, einem das Blut gefriert; Recherchen, überwucherte Waldwege, Schürfgruben zur Entnahme von Proben - und seine Tochter: fröhlich, glücklich.
Weiter folgt hinter diesen Aufnahmen ein verlorenes Jahr, eine Lücke; das Jahr, in dem Dmitrijew selbst nichts filmte, sondern selbst gefilmt wurde - mit Handschellen im Gerichtsflur.
Dmitrijew legt immer neue CDs ein - und wir tauchen ein in die Vergangenheit, wie in eine Ausgrabungsstätte. In Tausenden authentischen, aber forschend zupackenden Aufnahmen zeigt sich der Umfang des Raums, der Umfang der Nachforschungen. Wald-Wald-Wald-Grube - Rasen entfernt - Steine-Sand-Schädel …
Dmitrijew will gleichsam die zeitliche Verbindung wiederherstellen, die Schicksalsbeziehung, will ihr auf die Spur kommen. Und er raucht, raucht „Belomor“. Ich hingegen schaue zum Wald auf dem Bildschirm; Büsche flimmern auf, eine Schaufel steckt im Boden, und ein unsichtbarer Dmitrijew sagt zu seinem Helfer:
„Wenn du was findest, dann bekommst du keinen Schreck? Nein? Dann los!“
Wir beginnen mit dem Interview.
Wie sind Sie überhaupt zu diesem Thema gekommen? Was brachte Sie darauf? Gab es einen besonderen Moment der Erkenntnis der eigenen Lebensaufgabe, wo Sie gemerkt haben – ja, das ist es, das ist meine Pflicht, das ist Geschichte, das Sujet meines Lebens?
Als ich Kind war, wurde überhaupt nicht über dieses Thema gesprochen. Erst 1991 erzählte mir mein Vater bei einem Spaziergang, man habe seinen Vater im Strafvollzug erledigt. Aber wenn ich davor fragte - wo ist Opa? - dann hieß es: Gestorben zweiundvierzig. Da herrschten Kälte und Hunger, es war Krieg. Der Opa meines Mütterchens hat auch am Belomorkanal gegraben, der starb 1932. Aber das kam erst später heraus.
Und trotzdem wurde ich seit meiner Kindheit herangeführt.
Können Sie das genauer beschreiben?
Es ist ja so: Ich setze mich dafür ein, dass die verschiedenen Nationalitäten der Diaspora ihre Denkmäler in Sandarmoch bekommen. Und dabei denke ich mir: Vielleicht suche ich auf diese Weise nach meinen Wurzeln? Ich weiß ja gar nichts von meiner Abstammung. Meine richtigen Eltern kannte ich nicht. Bis ich anderthalb Jahre war, wuchs ich ohne Eltern auf. Mein Ziehvater kam aus Sibirien, war an der Front. Nach dem Krieg zog er nach Petrosawodsk. Und meine Ziehmutter stammt wie ihre Schwestern aus Wologda, die gerieten ebenfalls hierher. Aber nach dem Krieg bekamen die beiden keine Kinder, sie nahmen mich an. Das war 1957. Jeden Tag, wenn ich bete, gedenke ich ihrer.
Deshalb trete ich jeder Nation mit liebevoller Aufmerksamkeit entgegen. Vermutlich suche ich auf unbewusster Ebene meine Landsleute. Ich weiß, alles fing damit an, dass irgendwann einmal ein Affe einen Stock in die Hand genommen hat, aber das ist doch sehr lange her. Ich möchte wissen, welche Kultur meine Vorfahren genährt hat. Und wahrscheinlich ist es kein Zufall, dass viele Nationalitäten mich für einen von ihnen halten. Wenn ich hingehe und sage: Lasst uns ein Denkmal für jene Ukrainer, Polen, Weißrussen, Tschetschenen, Tataren errichten – dann hören sie auf mich. Einige reagieren etwas früher, andere später. Aber sie reagieren in jedem Fall.
Erinnern Sie sich, von kleinauf nach dem eigenen Selbst in verschiedenen Kulturen gesucht zu haben?
Nein. Das kam erst später. Mit ungefähr vierzehn Jahren erfuhr ich, dass ich adoptiert wurde … Aber alle meine kindlichen Unternehmungen haben mich schon vorbereitet und gerüstet. Ich ging noch nicht zur Schule, ballerte aber mit allem herum, was ein Junge an Schießgeräten zur Verfügung hat. Später fuhr ich Motorrad, trieb Sport, reiste, leistete meinen Wehrdienst in so schlauen Einheiten, dass auch das nützlich war. In der Schule mochte ich Geschichte, Erdkunde, Literatur, Aufsätze schreiben, da hatte ich immer eine Eins. Literarisch war mein Kopf immer aktiv. Meine Beharrlichkeit habe ich vom Vater, außerdem den Spruch: Besser die bittere Wahrheit, als eine süße Lüge. All das führte mich auf meinen heutigen Weg, von dem ich wohl nicht mehr abkommen werde. Ich gehe langsam voran.
Bleiben nur zwei Dinge: Ich fuhr auch noch Kajak und trainierte Fechten. Das hat bisher keinen Nutzen gebracht. (lacht)
Wann und wie stießen Sie konkret auf Repressionen?
Das war 1988, als in Bessowez Massengräber entdeckt wurden. Bei Erdarbeiten stießen sie zufällig auf Knochenreste mit Anzeichen eines gewaltsamen Todes. Ich arbeitete damals als Assistent des Volksabgeordneten der UdSSR, Michail Senko. Es war unsere Region. Wir fuhren hin, ein Haufen Leute war da, die Staatsanwaltschaft, die Miliz … Und alle fragten sich: Was machen wir jetzt damit? Und schon kam der Vorschlag: Wir legen’s wieder rein und schütten zu.
Ich fühlte jedoch ganz deutlich, dass es ein würdiges Begräbnis geben musste. Wer kümmert sich darum? Wieder schauten sich alle an. Nicht unsere Aufgabe, unsere auch nicht, und auch nicht unsere … Ich sagte: Nun gut. Und so arbeiteten wir mit der Staatsanwaltschaft, dem KGB und Forensikern zusammen. Ich habe damals viel gelernt. Aber ich wiederhole mich: Ich war nur an einer Beisetzung interessiert. Zwei Jahre später, noch vor dem Putsch, wurde von der Staatsanwaltschaft eine Bescheinigung ausgestellt. Wir hatten den Ort der Grabstätte festgelegt - der alte städtische Friedhof, weil dort deren Verwandte und Freunde lagen. Die Särge wurden in offenen Autos transportiert, und Menschen gingen hinterher, die Prozession erstreckte sich über einen Kilometer.
Später wurden an einem anderen Ort weitere Überreste gefunden. Ich fuhr dorthin, sammelte sie ein und begrub sie. Damals suchten bereits viele nach ihren Verwandten, aber jeder kam nur mit seiner Frage, mit seinem eigenen Unglück.
Da hatte ich bereits einen neuen Vorgesetzten, den Abgeordneten des Obersten Sowjets und später der Duma, Iwan Tschuchin. Und der sagte: Lass uns ein Gedenkbuch machen.
Zuerst blätterte ich nur in den Akten, die brachten mir an die hundert Stücke am Tag, ich kam auf hundert Karteikarten. Ich wusste bereits, an welchen Stellen sich notwendige Informationen finden ließen … Ich konnte mich nicht mal richtig hineinvertiefen. Und da sagte ich mir: Mach langsam. Dann dauert es eben keinen Monat, auch nicht zwei, sondern ein Jahr, aber du musst einiges für dich klären. Ich las die Verhandlungsakten der Militärtribunale, als die Betreffenden rehabilitiert wurden, wie das vor sich ging. Ich erfuhr, wie die Hinrichtungen abliefen …
Und da wusste ich auf einmal, wie das Buch aussehen sollte. In den Dörfern haben es ja schließlich alle gewusst: Ah, gestern wurde der Pjotr geholt, der ist also ein Feind! Dieser Pjotr wurde dreißig Jahre später rehabilitiert, und davon wussten nur seine Verwandten. Deswegen ist das Buch nicht alphabetisch geordnet. Die Grundlage ist der Wohnort zum Zeitpunkt der Festnahme. Von wo jemand geholt wurde. Aus jedem Dorf einer oder zwei oder drei. Um das Ausmaß der Tragödie zu vermitteln, habe ich bei jedem Dorf die Einwohnerzahl mit angegeben. So, wie sie zu jenem Zeitpunkt aussah.
Da lebten, zum Beispiel, in einem Dorf einundvierzig Menschen. Von diesen einundvierzig Menschen holten sie einen, zwei … zehn. Jeden fünfzehnten, jeden vierzehnten. Und so war es überall. Und woanders waren es bei siebenunddreißig Einwohnern – drei …
Viele haben mir vorgeworfen, dass das Buch nicht alphabetisch, sondern nach geographischem Prinzip aufgebaut ist. Andernfalls könnte man es schnell durchblättern, jemanden finden … Ich sage: Nein, liebe Leute, schnell geht nicht. Wenn man nicht weiß, von wo jemand geholt wurde, wo er seine Wurzeln hatte - deine Wurzeln, dann wirst du das Buch dreimal lesen, mich verfluchen, aber nie mehr vergessen können, woher du kommst.
Als ich die Arbeit am Buch beendete, wusste ich, dass es bei uns im Archiv des Innenministeriums Informationen über die Sondersiedler gibt, über Bauern, die hierher vertrieben wurden. Und mir wurde klar, dass auch sie aus der Vergessenheit zurückgeholt werden müssten.
Wie vollzog sich der Übergang von der Archivarbeit zur Suche vor Ort?
Also, erste Erfahrungen mit der Suche vor Ort gab es 1988, gleich zu Beginn. Ich kenne mich mit dem Aufbau des menschlichen Skeletts aus, habe an der medizinischen Fachschule ein wenig Osteologie studiert … Wie gesagt, bekam ich immer von allem ein bisschen mit, genau so viel, wie ich später im Leben brauchte. 1997, im Frühjahr, traf ich auf Irina Flige und Wenjamin Iofe, sie boten mir an, nach Medweschjegorsk zu fahren und dort nach dem Wegegefängnis für Solowki zu suchen. Aus meinen Unterlagen wusste ich bereits, dass es im Rayon Medgora viele Erschießungen gegeben hatte … Und der Wald schreckt mich nicht, da bin ich zu Hause.
Ist es von Bedeutung, dass es Ihr Heimatort ist, dass Sie von dort stammen? Dass sie auf eigenem Boden suchen? Nicht irgendwo weit weg? Dass dieser Boden direkt vor der eigenen Haustür beginnt?
Wohl kaum. Ich denke, mit meinem heutigen Wissen könnte ich mich als Erdarbeiter überall auf der Welt nützlich machen. Ich kann danach rekonstruieren, wie Tote liegen, wie eine Grabstätte angeordnet ist und das Bild des letzten Tages aussah. Vielleicht gibt es anderswo eine bestimmte Spezifik, aber das macht mir nichts …
Haben Sie eine bestimmte Suchmethode? Schließlich bewegt man sich auf jeder Suche zwischen „Heiß“ und „Kalt“ … Gibt es Merkmale, Zeichen?
Ich habe einen Vortrag zu diesem Thema geschrieben - Methoden zur Suche und Identifizierung … der Titel ging noch weiter, ich erinnere mich gerade nicht … Einen ausgeklügelten Titel habe ich mir da ausgedacht. Erstens arbeitet man in den Archiven: Vielleicht stößt man da auf Informationen. Zweitens muss man, wenn man an einen bestimmten Ort kommt, die Menschen dort einbeziehen. Sagt mal, welche Orte meiden die Leute hier? Also, wenn ihr Pilze suchen geht, wo gibt es die meisten? Dort, da, hier. Und wohin geht ihr nicht? Na dahin und dorthin. Und was ist da? Gibt es da etwa keine Pilze? Doch, Pilze gibt es da schon … Aber irgendwie zieht es einen nicht in diese Richtung. Das heißt, auf unbewusster Ebene wurde seit jener Zeit über die Großeltern, über die Eltern weitergegeben, wohin man besser nicht geht. Auch wenn es dort Pilze gibt, aber irgendwie ist es kein guter Ort. Natürlich wird man dann zuallererst solche schlechten Orte überprüfen. Außerdem bekommt man einfach ein Auge dafür, wie man so sagt. Für das, was andere nicht bemerken … Oder sie bemerken es vielleicht, können es aber nicht deuten, es gedanklich nicht mit dem zusammenbringen, was da unten ist.
Jemandem, der zu suchen weiß, werden oft übernatürliche Fähigkeiten zugeschrieben, die in der Folklore noch lebendig sind: Dusel, Glück … Fühlen Sie in dieser Hinsicht irgendeine Art von Führung?
Der von mir wenig geliebte Dichter Wladimir Majakowski schrieb: Eines einzigen Wortes wegen verbraucht man Tausende Tonnen von Spracherz. Es ist dasselbe. Manchmal läuft man sich die Füße platt, im wahrsten Sinne des Wortes.
Man beginnt an einem Punkt und erweitert dann den Suchbereich. Man läuft und läuft … Ich habe einmal an einem Tag zwei Paar Schuhe durchgelaufen. Dort, am unglückseligen Einhundertfünfundsechzigsten Kanal, wo Gefangene im Winter 1932/33 schuften mussten. Da gibt es gesprengtes Gestein. Wie Schmirgel.
Wie ein Schleifkörper.
Ja. Und so ist man unterwegs, kommt nach Hause – und irgendwie brennen die Sohlen. Und man sieht - da ist ein Loch im Schuh. Und der Hund humpelt, hinterlässt blutige Spuren. Zwei Paar Schuhe habe ich an einem Tag abgetragen. Turnschuhe und Gummistiefel. Macht nichts, man ist unterwegs, auf der Suche …
Und als Sie Sandarmoch fanden und sich bewusst wurden, was das ist, wie war da das erste, tiefe Gefühl?
Da war keine Freude darüber, dass wir es gefunden haben. So weit das Auge reicht – Mulden, Mulden, Mulden, Mulden, endlos Mulden … Man fühlt die Tiefe dieser Tragödie. Wie viele Menschenleben hier unterbrochen wurden. Keine Freude. Freude - oder vielmehr ein Gefühl der Befriedigung – kam erst auf, als dort ein Denkmal entstand und die Menschen es aufsuchten. Dann sieht man, dass sie es brauchen. Sie brauchen es.
Und wie entstand Sandarmoch eigentlich? Normalerweise sieht das bei uns ja immer so aus: Eine Gedenkstätte, das ist ein Denkmal. Wie entstand die Idee, dass sich dort ein Wald von Denkmälern befinden soll? Dass jeder sein eigenes aufstellt? Und die Denkmäler nicht miteinander konkurrieren?
Was gibt es da zu konkurrieren? Sandarmoch ist unser aller Gedenkort, unser gemeinsamer Schmerz. Jeder Mensch muss unbedingt sein eigenes Grab haben. Und jeder von uns gehört zu einer Familie, zu einem Volk. Für jeden sollte ein Trauergebet gemäß dem Glauben seiner Vorfahren gesprochen werden, wenn es nun schon so eingerichtet ist. Und mich stört es kein bisschen, dass neben dem orthodoxen Kreuz ein katholisches steht, zusammen mit muslimischen Symbolen, mit jüdischen … Dort sind Menschen von sechzig Nationalitäten, elf bekennenden Konfessionen begraben, das habe ich anhand der Dokumente bereits festgestellt. Und ich möchte, dass jeder, der dorthin kommt, auf ein Zeichen des Gedenkens seines Volkes trifft. Seines Volkes! Nicht seiner Bevölkerung, die ist leicht zu regieren: mit Zuckerbrot und Peitsche oder Bajonett im Rücken – damit kriegt man sie dorthin, wo man sie haben will …
„Weil das Urteil über böses Tun nicht sogleich ergeht, wird das Herz der Menschen voll Begier, Böses zu tun.“ Prediger, Kapitel 8, Vers 11. Das ist meine Haltung zu Sandarmoch. Die Einen sind vor nichts zurückgeschreckt, und andere kamen dort unter die Erde.
Dort, in Sandarmoch, gibt es zwischen Blaubeeren und Kiefern nicht nur die Schatten der Opfer. Dort gibt es auch die Schatten jener, die das getan haben. Wie denken Sie über sie – über jene, deren Verbrechen Sie untersuchen? Sollten sie beim Namen genannt werden?
Ich rufe niemanden dazu auf, einen anderen anzuprangern. Der Herr hat uns Vergebung geboten. Erst neulich, das war im Serbski-Institut … da bekam ich immer viel gebracht. So viel kann ich gar nicht essen. Und im benachbarten Isolierraum war ein … so ein Würger. Da bat ich die Krankenschwester, ihm etwas zu bringen. Und sie sagte: Er ist doch ein Mörder! Und ich … Der Herr hat am Kreuz seinem Mörder vergeben und gesagt, er komme in Sein Königreich. Deswegen … Es ist schwer für mich. Ich kann nicht die Rolle von Christus übernehmen und dem einen vergeben, und dem anderen nicht. Und jenen, die in Sandarmoch getötet haben … Ich würde denen nicht die Hand geben, vielleicht aber die Fresse polieren. Da liegen, zum Beispiel, unter anderem auch Menschen, die unser Land in die Katastrophe geführt haben. Da gibt es einen gewissen Schklowski (Grigori Lwowitsch Schklowski. - S.L.), der Lenin in Zürich aushielt, wie auch andere zukünftige Mitglieder des Allrussischen Zentralen Exekutivkomitees, des Politbüros. Er wurde in Sandarmoch erschossen. Übrigens sind seine Verwandten gekommen, die fragten mich, ob ich wüsste, wer er ist. Hätte ich ihnen wegen ihres Großvaters eine reinhauen sollen? Außerdem liegt da noch ein Fräulein, das zusammen mit Béla Kun und Rosalija Semljatschka auf der Krim Menschen erschossen hat … und es waren wohl mehr als in Sandarmoch. Aber auch sie ist da. Und steht ebenfalls in meiner Gedenkliste.
Für mich ist es das Wichtigste, den Namen zu nennen. Später wird die Geschichtsschreibung reinen Tisch machen. Jeder von uns ist Sohn oder Tochter des eigenen Volkes. Und das Volk selbst wird entscheiden, ob es auf jemanden stolz sein will, oder sich für ihn schämen.
Wenn Sie alle Möglichkeiten auf Landesebene hätten - was würden Sie als Erstes tun, von allem Ungetanen?
Es müssen alle Hinrichtungsorte und Grabstätten gefunden werden. Bücher reichen nicht. Wenn jemand an einen solchen Ort kommt, muss dort ein Kreuz sein, damit er es sieht, fühlt – hier war es.
Wie funktionierte es in Karelien? Da sind die Friedhöfe, und selbst die leidenschaftlichsten Kommunisten bestreiten nicht, dass es Repressionen gegeben hat. Man kann nichts mehr verhehlen oder wegreden. Hier ist es wie in der Forschungsarbeit: Die Fakten müssen sich erhärten. Da haben wir den Beschluss des Politbüros, Repressionen einzuleiten, da haben wir als Ergänzung den Beschluss der karelischen „Troika“, und hier sind die Gräber. Die gesamte Kette ist sichtbar und bewiesen.
Außerdem würde ich wahrscheinlich – parallel zu den Gedenkbüchern - alle Rehabilitationsbeschlüsse veröffentlichen. Als separate Buchreihe.
Wie hat das letzte Jahr Ihre Einstellung zu dieser Arbeit beeinflusst?
Wahrscheinlich habe ich mich besser in das Leben meiner literarischen Helden eingefühlt. Jener Menschen, die ich ins Gedenken zurückhole, die mir wichtig sind. Dort gibt es genau solche Wände, Böden, Korridore, Gitter …
In Ihrem Brief an Natalja Kljutscharjowa sagten Sie, dass Sie in einer Zelle saßen, wo auch einer von denen war, deren Leben Sie erforschen.
Ja. Ich habe ihre Gedanken, die sie dort hatten, besser gefühlt, die Ungerechtigkeit der Anschuldigungen, die Sehnsucht nach den Verwandten, nach der Arbeit. Alles dasselbe. Nur lief das nun nicht mehr über den Kopf, sondern kam von innen. Sehen wir es also als Studienurlaub. Eine kleine Studienexpedition, wo man nicht viel herumlaufen oder graben muss, sondern sich in sein Inneres versenkt.
Und sind Sie selbst nie entsetzt? Es sind ja keine regelrechten Gräber, wo jemand liegt, der sein Leben gelebt hat und friedlich im Bett gestorben ist … Da tut sich ja ein Abgrund von Schrecken und Schmerz auf. Ist es nicht schrecklich, damit in Berührung zu kommen?
Nein, eigentlich nicht … Ich kann nicht sagen, dass ich eine Art Bestattungsmeister bin, aber ich verstehe - und im Prinzip spüren sie es -, dass mein Eindringen in ihre Grabesruhe nicht aus schaulustiger Neugier erfolgt. Schließlich öffne ich nicht alle Gräber, und ich öffne sie nicht deshalb, weil ich sehen will, wie sie da liegen (das kann ich mir gut vorstellen). Meine Aufgabe ist es, die Behörden davon zu überzeugen, dass es sich um eine Grabstätte von Verfolgten handelt. Und um aus rein religiöser Sicht aus diesen unbegreiflichen Gruben einen Friedhof zu machen. Einen Ort, an den Menschen zum Gedenken kommen.
Sie haben gesagt: Grabesruhe. Was denken Sie: Ist eine solche Grabesruhe möglich, ohne dass diese wilde Grube zum Friedhof geworden ist?
Es gab in Sandarmoch so einen Ort … Mich als furchtlos zu bezeichnen, wäre wahrscheinlich übertrieben … Sagen wir es so: Ich bin nicht kleinmütig. Ich lief dort herum, jede Menge Leute waren da, der Wald wurde gerodet, die Staatsanwaltschaft war tätig, der Inlandsgeheimdienst der Russischen Fröderation FSB. Ich ging von einer Gruppe zur anderen, das Gelände war groß, sechs Hektar. Und da fühlte ich an einer unauffälligen Kuhle: Meine Knie knicken ein. Ich falle und merke, dass ich nicht aufstehen kann, etwas drückt, mir stehen die Haare zu Berge. Langsam kroch ich weg. Ganz weg. Dann ging ich zurück - und wieder drückte mich etwas nieder. Ich dachte: Na gut, vielleicht bin ich gestolpert, hab mir die Muskeln überdehnt. Am nächsten Tag passierte mir an dieser Kuhle dasselbe. Ich fragte mich: Was ist das? Und ganz allmählich tauchte in meinem Kopf ein Gedanke auf: Hier liegt entweder ein großer Heiliger oder ein großer Sünder. Wir hatten schon einen Priester vor Ort, den führte ich dorthin und sagte: Segne ihn aus. Wieso? Ich antwortete: Ich weiß es nicht. Der Priester hat ihn ausgesegnet, aber es hörte nicht auf. Nun, nach Sandarmoch kommen ja viele Leute. Und ich habe viele Priester dorthin geführt. Und es war wohl ein Jahr später, da kamen einige georgische Mönche. Die brachte ich auch dorthin. Beten Sie, sagte ich, nach Ihrem Glauben, in der Sprache Ihrer Vorfahren. Sie haben gebetet, gesungen - und es hörte auf.
Das kann man glauben oder nicht.
Oder dann auf dem Barsutschja Gora … Als ich das erste Grab öffnete. In meiner Dienstkiste fand sich eine Kirchenkerze. Ich stellte ein Kreuz aufs Grab und betete: Gedenke, Herr. Und da war so ein Stöhnen oder das Rascheln des Windes: Und gedenke auch meiner, und meiner, und meiner … Und das kam von überall, aus dem ganzen Wald.
© Sergej Lebedew, 2. Februar 2018 / Colta, 2018
GLOSSAR:
Solowki – Inselgruppe im Weißen Meer, im 13. Jahrhundert von Mönchen besiedelt, die dort ein Kloster errichteten, das im 18. Jahrhundert vom Zaren zur Festung und zum Gefängnis umfunktioniert wurde und wo ab 1923 das erste Konzentrationslager der Sowjetunion (SLON) entstand.
Sekirnaja-Berg – Hügel auf Solowki, wo sich von 1920-1930 ein Karzer des SLON befand, in dem GULAG-Häftlinge mit besonderer Brutalität gequält wurden, oftmals bis zum Tod. Das alte Wort „Sekira“ bezeichnet eine langstielige Axt.
Belomorkanal - Weißmeer-Ostsee-Kanal, erbaut auf Anweisung von Stalin durch Zehntausende Häftlinge des Gulag-Lagersystems, bei dem zahlreiche Menschen umkamen (25.000, nach anderen, nicht belegten Angaben 250.000).
Sandarmoch – Waldgebiet in der Nähe von Medweschjegorsk in Karelien, Russland. 1937 / 38 wurden hier zur Zeit des Stalinschen Terrors ca. 10.000 Menschen hingerichtet. Die Hinrichtungsstätte wurde 1997 von Juri Dmitrijew aufgefunden. Heute befindet sich hier eine Gedenkstätte.
Petrosawodsk - Hauptstadt der Republik Karelien, Russland, gelegen am Onegasee ca. 400 Kilometer nordöstlich von Sankt Petersburg.
Wologda – russische Stadt am gleichnamigen Fluss, etwa 400 Kilometer nordnordöstlich von Moskau entfernt. Im Zweiten Weltkrieg befand sich hier das Häftlingslager 158 für deutsche Kriegsgefangene.
Rayon Medgora – Bezirk Medweschjegorsk in Karelien, Russland.
Bessowez: Dorf im Bezirk Prioneshski in Karelien, Russland.
Barsutschja Gora – wörtlich: Dachsberg, Bezeichnung für eine neun Hektar große Grabstätte der Erbauer des Weißmeer-Ostsee-Kanals.
Michail F. Senko - (geb. 1954) – Volksabgeordneter der UdSSR von 1989—1991.
Irina A. Flige – (geb. 1960) – sowjetische, russische Menschenrechtsaktivistin, langjährige Direktorin des Memorial Research Center in St. Petersburg (seit 2002).
Wenjamin W. Iofe – (1938 – 2002) - sowjetischer, russischer Menschenrechtsaktivist, Historiker, Publizist. Mit-Initiator der Gründung von Memorial. Studierte die Geschichte der politischen Repressionen im Nordwesten der UdSSR (SLON, Sandarmoch).
Grigori L. Schklowski - (1875 – 1937) – sowjetischer Diplomat, Bolschewik, floh 1909 aus der russischen Verbannung in die Schweiz und beteiligte sich im Exil an der Parteiarbeit der Bolschewiki. Wurde in der Sowjetunion als Trotzkist aus der KPdSU ausgeschlossen und 1937 von einer Sondertroika des NKWD zum Tode verurteilt und in Sandarmoch erschossen.
Béla Kun - (1886 – 1938) - ungarischer Journalist und Politiker, wurde im Russischen Bürgerkrieg 1920 zum Mitglied des Revolutionären Militärrates der Südfront der Roten Arbeiter- und Bauernarmee ernannt sowie zum Vorsitzenden des Krimrevolutionären Komitees, als solcher organisierte er den Roten Terror auf der Krim. Kun wurde 1938 in der Sowjetunion während des Stalinschen Terrors erschossen.
Rosalija Semljatschka - (eigentlich: Rosalija S. Salkind, 1876 – 1947) – Politikerin der KPdSU. Organisierte zusammen mit Béla Kun die Bestrafungsmaßnahmen nach dem Rückzug der Weißen Armee auf der Krim: Es wurden ca. 50 000 Kriegsgefangene und antibolschewistische Zivilisten ermordet.
Natalja L. Kljuscharjowa – (geb. 1981) – russische Journalistin, Lyrikerin und Schriftstellerin (u.a. „Endstation Rußland“).