Kaliningrad. Eine Sekunde der Erleuchtung
Diese eigenartige Stadt wurde geboren, wo die Wasser des Haffs sich mischen mit den Wassern des Flusses und der Nebel der Sümpfe mit dem Dunst der Wiesen und das Wolkenleuchten mit der Glut des Sonnenuntergangs, wenn die Wasser des Himmels und der Erde aus den Ufern steigen, schwellen, strömen. Deshalb gleicht diese angebliche Stadt einem Gespenst, einem Geist, der aus den Nebeln der Geschichte aufsteigt, um in ihnen wieder zu verschwinden. So verhielt es sich mit Tvankstė, jener alten, aus Holz erbauten Festung, die keiner je gesehen hat, und später mit der Stadt Königsberg, deren Gemäuer ewig schienen, jedoch spurlos untergingen, als sie von einem Rattenkönig und anderen Hoffmann-Gestalten mit einer stählernen, dröhnenden Rattensoldateska eingenommen wurden und sich auf ihren Ruinen Slums aus grauen Silikatplatten wie Schimmel ausbreiteten.
Jetzt wird all das von banaler Kosmetik für wertloses Geld verdeckt, von einer geschmacklosen Rubliowka, wo man neben einer vermeintlich luxuriösen Maison in irgendeiner größenwahnsinnigen Gasse Soljanka bekommen kann, während eine Pianistin auf Honorarbasis die Elise spielt.
Und so geht es immer weiter. Deine Augen sehnen sich nach etwas Echtem, nach etwas, was an die Menschen erinnert, die hier gelebt haben, an die Albertina. Dieses Gefühl kann auch der schlecht und recht wiederaufgebaute Dom nicht beschwichtigen, und die reine Vernunft sagt deinem Unterbewusstsein, dass deine Bemühungen umsonst sind, weil das, was du da siehst, ein Trugbild ist, unecht, weil diese Stadt verurteilt ist zu einem Gespensterdasein, zum ewigen Umherirren unter den Wolken, wegen einer metaphysischen Schuld, die die Geschichte längst vergessen hat …
Also was ist das hier in Wirklichkeit, worin besteht das Wesen dieses Anblicks, der an deinem Autofenster vorüberzieht? Und schließlich – wer lebt hier, wo sind die Einwohner dieser Stadt, gibt es hier überhaupt etwas Echtes, etwas Greifbares, irgendetwas, das nicht künstlich ist? Dein Blick schweift langsam durch die schattigen Straßen, und plötzlich begreifst du: Ja – die Bäume! Schlank und hoch und aufrecht wachsen sie in kleinen Inseln, bisweilen auch in größeren Gruppen, besonders hinter den namenlosen, überwucherten Zäunen, die die riesigen Flächen mit den noch an die Nachkriegszeit erinnernden Geheimnissen absperren. Diese edlen Bäume, in denen sich die Seelen der toten Prußen verkörpern, sind die wahren Bewohner dieser toten Stadt. Sie rauschen, sie unterhalten sich miteinander in einer Sprache, die nur sie allein verstehen, und sie beachten die alten und neuen Ruinen zu ihren Füßen nicht, die für sie nur Dünger sind, von der Geschichte zermalmter Untergrund. Er hat nichts gemein mit dem Ernst der Jahrhunderte, den die Bäume bewahren. Abends lassen sich in ihnen schreiend die kreisenden Vogelschwärme nieder, die einzigen, mit denen sie Verständigung und Eintracht finden. Und diese Welt, die Welt der Vögel und Bäume, ist echt, und sie ist wirklicher als die von Schuld gezeichneten Spuren und Bemühungen der Menschen sich einzuleben, zu verankern in dieser einst aus Wolken und Wassern geborenen heiligen Flussniederung, in dieser Aue, diesem Winkel des urzeitlichen Paradieses, des gemordeten …