Franz Kafka im Ostseebad Müritz [1923]

12. VI. 23
»Die schrecklichen letzten Zeiten,
unaufzählbar, fast ununterbrochen.
[…] Spaziergänge, Nächte, Tage,
für alles unfähig außer für Schmerzen.«
Franz Kafka: Tagebücher

Unter den Stempeln und Sichtvermerken in Franz Kafkas letztem Pass, ausgestellt von der Prager Polizeidirektion am 19. Juli 1922, findet sich zuerst ein Eintrag zu einer Reise ins Ostseebad Müritz im Sommer 1923: »Einmalige Reise nach Deutschland und zurück über jede amtlich zugelassene Grenzstelle« – »Reisezweck: Kur i. Seebad«.

Gabriele [›Elli‹] Hermann [1889– 1942], Kafkas älteste Schwester, plante 1923, mit ihren Kindern ›Gerti‹ [1912–1972], Felix [1911–1940] und der erst zweieinhalbjährigen Hanna [1919–1942] wie schon im Jahr zuvor im Juli und August für einige Wochen an die Ostsee zu fahren. Das ›Fräulein‹ der Familie, Marie Wernerová [1884–1942], würde sie begleiten, ihr Mann Karl Hermann [1883–1939], den seine Geschäfte gewöhnlich länger in Prag hielten, dann später nachkommen. 1922 war sie mit der Familie in Brunshaupten gewesen, ein kleines Seebad an der Mecklenburger Bucht, 25 km westlich von Rostock [1937 mit Arendsee und Fulgen zum Ort Kühlungsborn verbunden].

Im Prager Tagblatt hatte es immer wieder Hinweise auf die kleineren, weniger bekannten Bäder gegeben. Möglich, dass die Wahl des neuen Ferienortes an der Ostsee davon nicht unbeeinflusst war. »Es kommt ganz auf Ihren persönlichen Geschmack an, ob Sie den ausgetretenen Weg der bekannten Seebäder wählen, oder abseits ’mal was Neues sehen wollen. An der Ostsee: Brunshaupten, Müritz, Heiligenhafen […].« In diesem Jahr sollte die Reise nach Müritz gehen. Eine Charakteristik des Ortes ließ sich den gängigen Reiseführern entnehmen: »Das Leben in Müritz ist einfach und verhältnismäßig billig, doch fehlt es nicht an Geselligkeit. Große Promenade auf den beiden 320 u. 350 m langen Landungsbrücken. Der Ort besitzt Zentralwasserleitung und elektr. Licht. Schöne Dünenpromenade.« – »Meer und Wald – in diesen beiden Worten liegt der Zauber Müritz […] Still und friedlich ist Müritz, kein Luxusbad, doch auch nicht altmodisch, sondern ein wirkliches Erholungsbad. Die heilkräftigen Seebäder, die Sonnenbäder am Strande sowie die reine See- und Waldluft haben für viele Tausende von Kranken und Erholungsbedürftigen die besten Erfolge gezeitigt.« Schließlich waren auch vom Verkehrs-Bureau des Verbandes Deutscher Ostseebäder in Prag Informationen zu haben. Es befand sich in der Hyberner Gasse [Hybernská] 12.

Franz Kafka hat im Mai 1923 einige Zeit auf dem Land verbracht und braucht weitere Erholung. Vor einem Jahr war er vorläufig pensioniert worden. Regelmäßige Büroarbeit ist ihm nicht mehr möglich. Immer wieder kommt es zu Fieberanfällen. Er leidet an Magen- und Darmkrämpfen. Die Kuren der letzten Jahre haben keine Linderung seiner Tuberkulose-Erkrankung gebracht. Ein weiterer Aufenthalt in einem Sanatorium wirkt kaum verlockend. Soll er sich der Schwester anschließen und mit ihr und den Kindern an die See reisen? Schließlich nimmt der ›Familienrat‹ dem Zögernden die Entscheidung ab. Am 3. Juli feiert Kafka in Prag seinen 40. Geburtstag. Die kommenden Wochen wird er an der Ostsee verbringen.

Als die kleine Gruppe am 5. Juli morgens in Prag in den Schnellzug nach Berlin steigt, ist es noch kühl. Es soll ein heißer Tag werden. In Berlin angekommen, zeigt das Thermometer 32° Celsius. Kafka wird einen Tag in Berlin bleiben und Elli mit dem ›Fräulein‹ und den Kindern allein nach Müritz weiterreisen. Drei Stunden dauert die Fahrt. Auf den letzten Kilometern von Rövershagen nach Müritz verkehrt ein Autobus. Noch gibt es keinen Bahnhof dort. Erst 1925 wird die ›Bäderbahn‹ fertig sein, die Müritz mit dem Netz der Reichsbahn verbindet. Kafka ist in Berlin mit Max Brods Freundin Emmy Salveter [um 1900– ?] verabredet. Am Nachmittag setzt er sich mit ihr in den Zug nach Eberswalde, um Puah Ben-Tovim [1904– 1991], eine junge Studentin aus Palästina, zu treffen, die dort in der Synagoge der jüdischen Gemeinde eine Gruppe jüdischer Kinder aus Polen und der Ukraine betreut. Schließlich scheint die Strapaze doch zu groß und Kafka und Salveter unterbrechen ihre Fahrt in Bernau, um nach Berlin zurückzukehren. Kafka wird Puah Ben-Tovim in Müritz treffen. Sie war in Prag für einige Zeit seine Hebräischlehrerin. Von der Begegnung mit Emmy Salveter erzählt eine Postkarte, die Max Brod aus Müritz erreicht: »Sie ist reizend. Und so ganz und gar auf Dich konzentriert.« Emmy Salveter, die später eine bescheidene Karriere als Schauspielerin macht, gesteht dem Geliebten unbefangen: »Ich hätte ihn beinahe geküßt.«

Bevor 1880 das erste Hotel (›Anastasia‹) eröffnete und in der Folge weitere Logierhäuser, Pensionen und Villen gebaut wurden, bestand Müritz aus nicht mehr als einem Dutzend Büdnereien und einem Meierhof, dessen Geschichte ins 14. Jahrhundert zurückreicht. Die kleinen reetgedeckten Büdnereien sind in den ersten Jahren nach der ›Franzosenzeit‹ errichtet worden. Im Mecklenburg-Schwerinschen Staatskalender erscheint das Dorf zuerst 1819. Anfang der 1870er-Jahre dürfte die Zahl der Sommergäste des seit 1851 ›Seebades‹ Müritz die Zahl der Einwohner des Ortes übertroffen haben. 1884 kommen 470 Gäste, 1890 über 1.000. Um 1900 dann bieten mehr als 30 Pensionen und Hotels Gästezimmer an. »Vom parallel zur Küste am Waldrand angelegten Straßendorf schwenkte nun das Seebad Müritz erst im Westen und dann im Osten dem Strand zu. Die bei Müritz immer wieder gerühmte charakteristische, halbkreisförmig an den Wald gelehnte, zur See hin offene einseitige Bebauung entstand jetzt. Mit dem Hotel ›Anastasia‹ begannen westwärts die Häuslereien.« Die wechselnden Namen des Straßenzuges spiegeln wie die der Villen, Hotels und Pensionen die bewegte politische Geschichte des 20. Jahrhunderts. Als Kafka im Juli 1923 in Müritz ankommt, wehen von den Sandburgen am Strand neben den mecklenburgischen Farben noch die schwarz-weiß-roten Fahnen des Kaiserreichs. »Als wäre nie Revolution gewesen« - wie es in dem 1926 erschienenen Roman Haus Ithaka heißt, der in dem seit 1938 mit Müritz verbundenen Nachbarort Graal spielt, wo der Autor des Buches, Rudolf Presber [1868–1935], mit seiner Familie damals die Sommer verbringt.

Wie Franz Kafka entscheidet sich im Juli 1923 auch der sudetendeutsche Schriftsteller Emil Merker [1888–1972] für eine Reise an die Ostsee nach Müritz. Seine Erinnerungen an die Zugfahrt und die Tage in Müritz werden 1958 im Magazin Merian erscheinen: »Die Mitreisenden sprechen von der Inflation. Wovon sonst! Es geht mich nichts an, und doch bin ich etwas schuldbewußt deswegen, weil es mich nichts anzugehen braucht. Ich habe in meiner Brieftasche zwar nur ein paar armselige tschechoslowakische Hunderter, aber die sind – grotesk dies zu denken – Millionen deutsche Mark.« Seit Juni 1922 ist der Wert der Mark gegenüber dem US-Dollar in jedem Monat um 50 Prozent gefallen, die tschechische Krone dagegen stabil geblieben. Im Sommer 1923 dann scheint die deutsche Währung im freien Fall, die Inflation außer Kontrolle. Die Verschuldung des deutschen Staates hat jedes gekannte Maß überschritten. Mit der Besetzung des Ruhrgebiets durch französische Truppen Anfang des Jahres 1923 ist der Druck gewachsen, die Geldmenge weiter zu vergrößern, um die Last der mit Gewalt eingeforderten Reparationszahlungen auszugleichen. Mehr als 130 Druckereien und 30 Papiermühlen, dazu die 7.500 Arbeiter der Reichsdruckerei arbeiten nun für die Reichsbank. Im Februar 1923 werden die ersten Hunderttausendmarkscheine in Umlauf gebracht. In nur wenigen Wochen folgen Fünfzigmillionenmarkscheine, Zweihundertmilliardenmarkscheine, dann Hundertbillionenmarkscheine. Die Spirale der Geldentwertung dreht sich schneller und schneller. Im Ausland gehört die Lektüre der Wechselkurse bald zu den täglichen Routinen. Das Prager Tagblatt informiert seine Leser in der Rubrik »Was die Krone heute wert ist« über den jeweils neuesten Stand der Devisengeschäfte. [...]

Wie die meisten Reisenden, deren Ziel die mecklenburgischen Seebäder sind, wird auch Franz Kafka am 6. Juli den ersten Zug nach Rostock genommen haben, der vom Stettiner Bahnhof in Berlin kurz nach 8 Uhr abfuhr und gegen 12 Uhr die Station Rövershagen erreicht. Von dort wird er wie schon Elli, das ›Fräulein‹, und die Kinder mit dem Omnibus nach Müritz gelangt sein, wo er um die Mittagszeit ankommt.

Die Akten der Gemeinden von Graal und Müritz aus den Jahren vor 1945 sind vernichtet worden. So fehlen auch die ›Fremdenbücher‹ mit den Listen der Feriengäste, der gezahlten Kurtaxe und den Namen ihrer Quartiere. Welche Pension dort Elli Hermann ausgewählt hat, lässt sich jedoch aus Kafkas Korrespondenz erschließen, wenn auch der Name seines Quartiers in den Briefen und Karten nicht genannt wird. Es ist das Haus ›Glückauf‹ in Müritz-Ost, nahe dem Abzweig der damaligen Ost- von der Haupt-Straße. ein mehrgeschossiges, 1909 errichtetes Gebäude, das über 22 Gästezimmer und einen geräumigen Speisesaal verfügt. Es liegt an einer von Birken gesäumten, noch nicht gepflasterten Chaussee, die über eine Wegstrecke von zehn Minuten Fußweg zur Seebrücke von Müritz-Ost führt. Von den Veranden und Fenstern an der Vorderfront öffnet sich der Blick über Felder, Weiden und Dünen auf das Meer. Die Rückseite des Hauses grenzt unmittelbar an den sich kilometerweit um Müritz ausdehnenden Wald. Einige der zum Wald hin gelegenen Zimmer verfügen über einen überdachten Balkon. Das von Kafka bezogene Zimmer dürfte einer dieser Räume in der zweiten Etage des Hauses sein. Ein »riesengroßes Hotel« ist das Haus ›Glückauf‹ nicht, wenn auch keine bescheidene Bleibe. Es gibt dort elektrisches Licht, fließend warmes und kaltes Wasser in allen Räumen, und, wenn auch auf dem Gang, Toiletten mit Wasserspülung.

»Haus ›Glückauf‹ // Telefon 29 / Pension / Lageplan 29 // Erbaut 1909./ In ruhigster Gegend, am trockenen Hochwald / 8 Minuten vom schönen Oststrand, der Landungsbrücke, den / Badeanstalten sowie dem ausgedehnten Freibadestrand gelegen / Gegen Ost und Nordwind geschützt // Helle, gut eingerichtete, luftige Zimmer, fast / alle mit Veranda oder überdachtem Balkon // Freier Blick auf das Meer // Anerkannt gute Verpflegung. / Solide Preise / Die Mahlzeiten werden im freundlichen, geräumigen Speisesaal an / kleinen Tischen eingenommen // Elektrisches Licht / Wasserleitung / Wasserspülung // Jede weitere Auskunft wird gern erteilt. Prospekt kostenfrei / Tel. Adr.: Glückauf, Ostseebad Müritz // Karl Schütt jun.« [...]

© Quintus-Verlag, 2024

Zur weiteren Lektüre empfohlen: https://www.quintus-verlag.de/Franz-Kafka-im-Ostseebad-Mueritz-1923/978-3-96982-090-2