Die Fotografie hinter Johannes Bobrowskis Gedicht "Bericht"
1. Einleitung
1960 publizierte Gerhard Schoenberner unter dem Titel «Der gelbe Stern, Die Judenverfolgung in Europa 1933 bis 1945» ein vielbeachtetes Buch mit zahlreichen Foto- und Textdokumenten. Johannes Bobrowskis Gedicht «Bericht», das er am 17. Januar 1961 kurz nach dem Erscheinen des Buches schrieb, liegen die dort abgebildete fotografische Aufnahme des Verhörs einer jungen jüdischen Polin durch deutsche Offiziere in Brest-Litowsk sowie die zu dieser Aufnahme gehörende Bildlegende zugrunde.
BERICHT
Bajla Gelblung,
entflohen in Warschau
einem Transport aus dem Ghetto,
das Mädchen
ist gegangen durch Wälder,
bewaffnet, die Partisanin wurde ergriffen
in Brest-Litowsk,
trug einen Militärmantel (polnisch),
wurde verhört von deutschen
Offizieren, es gibt
ein Foto, die Offiziere sind junge
Leute, tadellos uniformiert,
mit tadellosen Gesichtern,
ihre Haltung
ist einwandfrei.1
Das Gedicht, das durch die Vermittlung von Klaus Völker2 noch im Entstehungsjahr in der kurzlebigen, belgischen Zeitschrift «NUL» erstmals publiziert und anschließend in den Gedichtband «Schattenland Ströme» aufgenommen wurde, zählt zu den eher leicht verständlichen in Bobrowskis lyrischem Werk. Die für seine späten Gedichte charakteristische Dunkelheit ist dem Gedicht «Bericht» nicht eigen, was ihm eine besondere Stellung innerhalb von Bobrowskis dichterischem Oeuvre einräumt. Interessant erscheint die Rezeptionsgeschichte des Gedichts, das schon mehrmals Gegenstand von Interpretationen und linguistischen Analysen geworden ist. Auch heute noch haben sich mitunter Gymnasiasten mit dem Gedicht «Bericht» auseinanderzusetzen.
Der Literaturkritiker, Autor und Publizist Marcel Reich-Ranicki nahm das Gedicht zusammen mit der Interpretation von Andreas F. Kelletat in die im Jahr 2000 erschienene Anthologie mit hundert bedeutenden Gedichten des 20. Jahrhunderts auf.3 Da Reich-Ranicki selbst Überlebender des Warschauer Ghettos war, dürfte er von der Thematik der einem Todestransport entflohenen Partisanin ganz persönlich betroffen gewesen sein. Auch ihm war es kurz vor der Deportation gelungen, mit seiner Ehefrau aus dem Warschauer Ghetto zu flüchten.
Die Fotografie, auf die sich Bobrowskis sechzehn Verszeilen beziehen, und deren Entstehung, Rezeptionsgeschichte und Legendenbildung im Folgenden beleuchtet werden sollen, ist ebenso ikonisch wie das Gedicht. Der Charakter eines memento mori, den Susan Sontag, wie sie in ihren fototheoretischen Essays ausführt, letztlich in jeder Fotografie zu erkennen glaubt, tritt bei der Betrachtung der Aufnahmen des Verhörs von Bajla Gelblung mit besonderer Deutlichkeit und Eindringlichkeit zutage.
Fotografieren bedeutet teilnehmen an der Sterblichkeit, Verletzlichkeit und Wandelbarkeit anderer Menschen (oder Dinge). Eben dadurch, dass sie diesen einen Moment herausgreifen und erstarren lassen, bezeugen alle Fotografien das unerbittliche Verfließen der Zeit.4
2. Die Fotografen Heinz Boesig und Max Ehlert
Als am 1. September 1939 über eine Million deutsche Soldaten die Grenze zu Polen überschritten, war jeder der eingerückten Armeen der Wehrmacht eine Propagandakompanie, abgekürzt PK, zugeteilt worden, die je rund 150 Mann umfasste. Mit den deutschen Streitkräften drangen fünf von sieben Propagandakompanien des Heeres, zwei Kriegsberichter-Kompanien der Luftwaffe und eine PK der Marine in das polnische Staatsgebiet ein. Es wurden in der Folge weitere Kompanien gebildet, so dass der Gesamtbestand bis 1942 auf 15‘000 Mann anwuchs. Die Propagandakompanien machten insgesamt rund 3 Millionen fotografische Aufnahmen, von denen sich 1,7 Millionen in verschiedenen Archiven erhalten haben. Rund 25‘000 von ihnen stammen aus dem besetzten Polen. Nur ein Bruchteil dieser Aufnahmen war zur Veröffentlichung bestimmt und wurde, nach Genehmigung durch die Zensurbehörde, über Presseagenturen an deutsche und ausländische Zeitungen und Illustrierte verkauft.5
Zu den Fotografen, die schon in den ersten Tagen und Wochen vom Kriegsgeschehen berichteten, gehörten Heinz Boesig und Max Ehlert (PK 689). Eine Fotografie aus den ersten Kriegstagen, die das Grab eines deutschen Soldaten zeigt, stammt von Heinz Boesig: Ein Wehrmachtssoldat erweist seinem gefallenen Kameraden die letzte Ehre. Den Helm hat er abgenommen, er steht aufrecht, aber nicht steif, vor dem soeben zugeschütteten Grabhügel, auf dem ein schwarzes Eisernes Kreuz steht. Weder der Soldat noch das Kreuz des Gefallenen befinden sich in der Mittelachse der Fotografie. Diese liegt zwischen ihnen, zwischen dem Lebenden und dem Kreuz für den Toten. Rechts ist eine Straße zu sehen, links im Hintergrund wohl ein Motorrad mit Beiwagen. Das Innehalten des Soldaten zu Ehren seines Kameraden kann den Vormarsch der Truppen der deutschen Wehrmacht nicht aufhalten – so die Botschaft des Bildes. Die Fotografie wurde am 6. September von der Zensur zur Publikation freigegeben. Die Bildlegende lautet:
Das Eiserne Kreuz geht auf König Friedrich Wilhelm III von Preußen zurück, der Entwurf stammt von Karl Friedrich Schinkel. Es wurde erstmals 1813 als Orden verliehen und kam dann im Deutsch-Französischen Krieg und im Ersten Weltkrieg wieder zum Einsatz, wo es auch Flugzeuge zierte. Hitler führte am 1. September 1939 das Eiserne Kreuz als in erster Linie militärische Verdienstauszeichnung erneut wieder ein. Einen Tag später steht es schon auf dem Grab eines gefallen Soldaten. Der Betrachter sieht das Kreuz von hinten: Ob auf der Vorderseite der Name des Gefallenen steht oder ob im Zentrum ein Hakenkreuz prangt wie auf den soeben eingeführten neuen Verdienstkreuzen, bleibt offen. Die Fotografie von Heinz Boesig betont geschickt und für jeden Betrachter verständlich, dass das Kreuz die Dreiheit von christlichem Glauben, Ehre und Wehrmacht verkörpert. Und gleichzeitig sind die Wehrmachtssoldaten, wie die Bildlegende festhält, in ihrem Kampf und ihrem Tod untrennbar mit Führer und Vaterland verbunden. Die Fotografie ist ein perfides Meisterwerk der Propaganda, und so stellt sich letztlich die Frage, ob unter dem Tumulus, vor dem der Kamerad steht, auch tatsächlich ein toter Soldat liegt, oder ob alles nur eine Inszenierung sein könnte. Und diese Frage nach der Authentizität der Darstellung wird uns auch im Zusammenhang mit den fotografischen Aufnahmen des Verhörs von Bajla Gelblung beschäftigen.
Das Ziel der Fotos der Propagandakompanien bestand nicht in einer neutralen Dokumentation der Kriegsereignisse, vielmehr stellten sie eine Waffe dar, mit der dieser Krieg psychologisch geführt wurde. Dabei war das Arrangieren des Bildes fester Bestandteil der fotografischen Arbeit, wenngleich die Aufnahmen nicht gestellt wirken durften. Ein Befehl der Propagandakompanie 612 vom 18. Januar 1940 dokumentiert dies anschaulich:
Der Bildbericht ist nicht das zufällige Ergebnis einer Bildberichterstattung, sondern verlangt vorherige Überlegungen und gedankenmäßige Festlegung der zu fotografierenden Aufnahmen. Ein regelmäßiges Nachhelfen durch Herbeiführen bestimmter Vorgänge wird zur Herstellung eines Bildberichts oft nötig sein. Es muss dabei aber unbedingt beachtet werden, dass die Hauptbedingung eines Bildberichts die Lebendigkeit ist. Gestellt wirkende und „tote“ Aufnahmen zerstören die publizistische Wirkung des Bildberichts.7
In der dritten Kriegswoche hält sich Heinz Boesig in der Umgebung von Brest-Litowks auf. Der Name der einst polnischen, heute in Belarus gelegenen Stadt steht einerseits für den Friedensvertrag zwischen Sowjetrussland und den Mittelmächten vom 3. März 1918, aber auch und insbesondere für das geheime Zusatzprotokoll des Hitler-Stalin-Paktes vom 23. August 1939. In jenen Tagen im September 1939 treffen die deutsche Wehrmacht und die Rote Armee in Brest-Litowsk friedlich aufeinander, um - wie das in Artikel 2 im geheimen Zusatzprotokoll vorgesehen ist - Polen untereinander aufzuteilen. Dort, und nur dort in Brest-Litowsk, arbeitet Heinz Boesig mit seinem Fotografenkollegen Max Ehlert zusammen, wo sie gemeinsam fotografisch ein Stück Weltgeschichte dokumentieren: Sie halten die Verhandlungen der über Kartenblättern gebeugten Offiziere beider Eroberungsarmeen an der Demarkationslinie fest, und sie fotografieren Soldaten der deutschen Wehrmacht und der Roten Armee, die einträchtig zusammenstehen und Zigaretten rauchen. Heinz Boesig und Max Ehlert dokumentieren in jenen Tagen aber auch das Verhör einer polnisch-jüdischen Partisanin in einem Militärmantel, die in der Retrospektive für die heroische, aber erfolglose militärische und zivile Verteidigung Polens gegen die übermächtigen Aggressoren steht.
Bajla Gelblung entfloh also nicht 1943 dem Warschauer Ghetto, wie lange vermutet wurde, und wie dies auch Johannes Bobrowski annahm, sondern sie kämpfte und starb schon im September 1939. Als die Fotografie entstand, existierten weder das ummauerte Warschauer Ghetto noch das 1942 erbaute Vernichtungslager Treblinka. Warschau wurde zudem erst eine Woche später, am 28. September 1939 durch die deutsche Wehrmacht besetzt. Warum Bobrowski einem Irrtum ausaß und wie dieser zustande kam, wird im Folgenden noch zu beleuchten sein. Auch auf das Verhör werden wir noch einmal zurückkommen. Doch zunächst beschäftigt uns die Frage, was aus den Fotografen Heinz Boesig und Max Ehlert geworden ist.
Boesig war 1941, wie Bobrowski auch, in Frankreich, wo er vor dem Moulin Rouge in Paris zwei Soldaten der deutschen Wehrmacht fotografierte, die mit Französinnen plauderten. Die Aufnahme ist eine der bekanntesten von Heinz Boesig. Am 1. September 1943 fotografierte er Josef Goebbels bei der Übergabe eines Verdienstordens. Zu jenem Zeitpunkt muss sich Boesig also in Berlin und nicht im Feld befunden haben und er scheint auch nicht ganz unbekannt gewesen zu sein, sonst hätte sich der Propagandaminister nicht von ihm porträtieren lassen. Dann jedoch erlischt die Spur des Fotografen. Es finden sich keine späteren Fotografien von ihm und auch nach dem Krieg taucht er nirgends mehr auf. Die Vermutung liegt nahe, dass Heinz Boesig entweder bei einem Fronteinsatz fiel oder im Bombenhagel Berlins getötet wurde.
Anders Max Ehlert. Der 1904 in Berlin geborene Fotograf war während der Zeit des Nationalsozialismus Mitglied der NSDAP. Er fotografierte Reichsparteitage, Aufmärsche und die olympischen Spiele 1936. Während des 2. Weltkriegs wurde Ehlert 1940 Zeuge des Untergangs des von Torpedos getroffenen Schweren Kreuzers Blücher vor der norwegischen Küste. Die Fotos machten ihn schon während des Kriegs sehr bekannt. Ab 1948 arbeitete Ehlert für den Spiegel, bei dem er für die Fotografien der Titelseite verantwortlich war. Herausgeber Rudolf Augstein lobte in der Ausgabe vom 27. Juli 19538 seine professionelle Arbeit und hob hervor, dass es für Prominente in Europa zum guten Ton gehöre, sich von Ehlert fotografieren zu lassen. Die ethischen Aspekte im Zusammenhang mit dem Engagement für die NSDAP und die Tätigkeit als Fotograf einer Propagandakompanie während des Kriegs wurden von keiner Seite beleuchtet, die Integrität von Max Ehlert von niemandem je in Frage gestellt. Zu jenen, die sich damals von Max Ehlert porträtieren ließen, gehörten auch Thomas Mann und Winston Churchill.
3. Die Fotografien des Verhörs
Vom Verhör existieren mehrere Aufnahmen aus zwei unterschiedlichen Räumen. Zunächst soll jene ikonische Fotografie betrachtet werden, auf die sich auch Bobrowski in seinem Gedicht «Bericht» bezieht.
Während spätere Wiedergaben an den Rändern beschnitten worden sind, zeigt die Originalaufnahme die Oberkörper der vier Personen vollständig, einzig ihre Beine werden von einem Tisch verdeckt. Die bogenförmige Bildkomposition wird größtenteils von den drei deutschen Offizieren, zwei von ihnen stehend, einer sitzend, ausgefüllt. Die Haltung der drei Offiziere drückt Konzentration aus, ihre Blicke sind auf die Gefangene ausgerichtet, der hinterste von ihnen macht sich Notizen. Auch jener, der neben ihr steht, hält Notizpapier und zudem ein Paar Handschuhe in den Händen. Kopf- und Schulterpartie von Bajla Gelblung sind leicht nach vorn geneigt, ihr Mund scheint geöffnet zu sein. Sie vermittelt den Eindruck, als ob sie mit den Offizieren spräche. Das Foto trägt den Titel «Jüdisches Flintenweib als Anführerin gemeiner Mordbanditen» und ist mit folgender Legende versehen:
Von den deutschen Truppen wurde in der Nähe von Brest-Litowsk diese Warschauer Ghettojüdin Bajla Gelblung aufgegriffen. Sie versuchte in der Uniform eines polnischen Soldaten zu flüchten und wurde als Anführerin einer der grausamsten Mordbanden wiedererkannt. Trotz ihrer echt jüdischen Frechheit gelang es ihr nicht, die Verbrechen abzuleugnen.9
Abb. 2: Verhör von Bajla Gelblung, September 1939, Fotografie von Heinz Boesig und Max Ehlert, Bundesarchiv Koblenz, Bild 146-1974-057-51.
Fotografie und Legende unterscheiden sich grundsätzlich. Die von Bobrowski zutreffend im Gedicht «Bericht» vermerkte, äußerlich «einwandfreie Haltung» der Offiziere steht im Widerspruch zum propagandistischen, antisemitischen Bildtext. Im Titel werden die drei aus nationalsozialistischer Sicht negativ konnotierten Begriffe «jüdisch», «Flintenweib« und «Mordbanditen» miteinander verbunden, wobei auch das an sich positiv konnotierte Wort «Anführerin» ebenfalls ins Negative kippt: Bajla Gelblung wird, indem sie eine Gruppe von Mordbanditen anführt, zum Inbegriff einer bösen, verbrecherischen und hinterhältigen Frau. Der Hinweis, dass es der Gefangenen nicht gelungen sei, die Verbrechen abzuleugnen, spielt indirekt auf ihre spätere Hinrichtung an, wobei die Bildlegende keinen Zweifel offenlässt, dass sie, die freche Ghettojüdin, den Tod verdient habe. Das Nomen «Ghettojüdin» ist wohl so zu verstehen, dass Bajla Gelblung aus einem der jüdischen Quartiere Warschaus stammte. Diese wurden schon vor dem Krieg als «Warschauer Ghetto» bezeichnet. Sogenannte «Ghettojuden» unterschieden sich durch ihre traditionelle Kleidung von den assimilierten Juden in anderen Stadtvierteln.
Die Fotografie des Verhörs bezweckte offensichtlich mehrere propagandistische Ziele: Sie sollte die rassische Überlegenheit der deutschen Offiziere gegenüber der jüdischen Anführerin deutlich machen und dem Verhör zudem einen Anstrich von Rechtmäßigkeit geben. Darüber hinaus diente vorab die Bildlegende ganz grundsätzlich der Diffamierung und Kriminalisierung der jüdischen Bevölkerung und rückte durch die Erwähnung der polnischen Militäruniform und dem Hinweis auf Mordbanden Polen und Juden zusammen. Ein mündlicher Befehl in der Reichspressekonferenz im Oktober 1939 umfasste unter anderem den journalistischen Grundsatz: «Polen, Juden und Zigeuner sind in einem Atemzug zu nennen.»
Angesichts der Männern der deutschen Wehrmacht ausgelieferten jungen Frau drängt sich eine weitere Frage auf: Drohten der Verhafteten auch sexuelle Gewalt oder Versklavung? Maren Röger, die Intimität, Gewalt und Prostitution im besetzten Polen 1939 bis 1945 erforscht hat, hält dazu fest:
Der deutschen Militärführung war bewusst, dass es nach dem Einmarsch in Polen zu sexuellen Kontakten mit Einheimischen kommen würde – sowohl zu einvernehmlichen und erzwungenen Kontakten als auch zu Geschlechtsverkehr gegen Bezahlung. Die Militärführung hatte Erfahrungswerte aus vorangegangenen Kriegen, vor allem dem erst zwei Jahrzehnte zurückliegenden Ersten Weltkrieg, und räumte deshalb dem Aufbau eines kontrollierten Prostitutionswesens große Aufmerksamkeit ein.11
Doch die Zwangsprostitution von Jüdinnen schließt Maren Röger aus:
Die meisten Frauen in den Bordellen waren Polinnen, vereinzelt fanden sich auch Ukrainerinnen oder (Volks-)Deutsche darunter. Jüdische Polinnen als Prostituierte waren von Seiten der deutschen Behörden streng verboten. «Jüdinnen sind auszuschließen», heißt es in den Wehrmachtsanweisungen immer wieder. Und daran hielten sich die umsetzenden Institutionen auch penibel, entgegen der in der populärwissenschaftlichen und wissenschaftlichen Literatur wiederholten Behauptung von der sexuellen Versklavung jüdischer Frauen.12
Hingegen kam es, wie Polizei- und Gerichtsakten belegen, durchaus zu Vergewaltigungen von Jüdinnen durch deutsche Armeeangehörige. Gewisse Klagen führten anfänglich zur Verurteilung der entsprechenden Beschuldigten, in vielen Fällen wurden die Opfer aber der Verleumdun bezichtigt. Die Frage, ob Bajla Gelblung in Brest-Litowsk sexuelle Gewalt erleiden musste, kann nicht abschließend beantwortet werden.13
Die fotografische Dokumentation des Verhörs von Bajla Gelblung weist einige Übereinstimmung mit der Fotografie eines gefangenen Russen auf der Frontseite der Wochenzeitschrift «Berliner illustrirte Zeitung» vom 4. Oktober 1914 auf. Dargestellt sind als Ganzfiguren der zerlumpt wirkende Festgenommene in einem hellen, hoch geschlossenen und verschmutzen Hemd zwischen zwei tadellos uniformierten deutschen Soldaten, die Helme tragen und Gewehre mit aufgepflanzten Bajonetten halten. Im Hintergrund, leicht unscharf, steht ein dritter Soldat. Alle vier Abgebildeten blicken direkt in die Kamera, auch der Gefangene, der leicht nach vorn gebeugt ist und erschöpft wirkt, während die deutschen Offiziere völlig aufrecht stehen. Die Bildlegende lautet:
Ein Bundesbruder der Franzosen und Engländer.
Russischer Soldat (Mongole), der in Ostpreußen gefangen und durch Funde im Tornister barbarischer Schandtaten überführt wurde.
Sowohl die Fotografie, als auch die Bildlegende stellen den Verhafteten als ethnisch minderwertig dar. Während die fotografische Aufnahme die Überlegenheit der deutschen Offiziere betont, verweist die Legende auf begangene Verbrechen des Festgenommenen, die allerdings, wie jene, die Bajla Gelblung angelastet werden, im Diffusen verbleiben. In der Darstellung sind indes auch grundlegende Unterschiede zwischen der Aufnahme aus dem Ersten Weltkrieg und der Fotografie von Bajla Gelblung auszumachen, welche die Raffinesse der Arbeit der Propagandakompanien belegen. Während die Fotografie von 1914 starr wirkt und der Angeklagte vor der Kamera und letztlich den Lesern der Illustrierten wie eine Trophäe präsentiert wird, gestattet die Aufnahme vom Verhör Bajla Gelblungs scheinbar einen Einblick in die Tätigkeit der Wehrmacht, deren Offiziere – trotz der von der Verhafteten gemäß Bildlende begangenen, entsetzlichen Verbrechen – überlegt und korrekt handeln.
Heinz Boesig und Max Ehlert haben mehrere Fotografien des Verhörs von Bajla Gelblung gemacht, bei deren vergleichender Betrachtung deutlich wird, dass offenbar zwei Verhöre in unterschiedlichen Räumen stattgefunden haben. Warum dem so ist, bleibt im Dunklen. Es könnte sich um ein Verhör und die anschließende Kriegsgerichtsverhandlung handeln.
Abb. 4: Verhör von Bajla Gelblung, September 1939, Fotografie von Heinz Boesig und Max Ehlert, Bundesarchiv Koblenz, Bild 1011-121-0010-24.
Betrachten wir zunächst eine Aufnahme im selben Raum, auf der nebst Bajla Gelblung nur einer der Offiziere dargestellt ist. Die Bildkomposition ist weniger interessant, weil die Bogenform fehlt, vielmehr wird die Fotografie von einer nach rechts absinkenden Linie bestimmt. Bajla Gelblung ist etwas stärker dem Bildbetrachter zugewandt, so dass Wimpern und Braue des rechten Auges sichtbar werden; sie steht aufrecht und scheint zu schweigen. Der einzelne, sie verhörende Offizier legt die Stirn in Runzeln und hat den Mund leicht geöffnet. Die Fragestellung, nicht die Antwort, scheint das Thema dieser Aufnahme zu sein. Bedrohlich wirkt hinter dem Kopf der Befragten ein schwarzes, rundes Loch in der Wand, das von einem abgenommenen Kaminrohr stammen könnte. Besonders deutlich wird auf dieser Aufnahme ein Riss im linken Brustbereich des polnischen Soldatenmantels.
Eine weitere Fotografie von Bajla Gelblung findet sich in Adalbert Forstreuters Publikation «Deutsches Ringen um den Osten» von 1940.14 Das Original des Fotos ist im Bundesarchiv Koblenz nicht vorhanden. Einzig auf dieser Aufnahme blickt Bajla Gelblung aus den Augenwinkeln in die Kamera und erinnert so daran, dass in dem Raum, wo das Verhör stattfand, auch Fotografen zugegen waren. Um den Mund der Verhörten spielt überraschenderweise ein feines Lächeln. Was mag sie in jener Situation zu diesem Gesichtsausdruck bewegt haben? Was gab sie in jenem Augenblick preis? Das photographische Porträt ist nach Roland Barthes ein geschlossenes Kräftefeld:
Vier imaginäre Größen überschneiden sich hier, stoßen aufeinander, verformen sich. Vor dem Objektiv bin ich zugleich der, für den ich mich halte, der, für den ich gehalten werden möchte, der, für den der Photograph mich hält, und der, dessen er sich bedient, um sein Können vorzuzeigen.15
Ist möglicherweise in dieser Aufnahme des Verhörs von Bajla Gelblung, und nur in dieser, das Überscheiden der vier imaginären Größen nach Roland Barthes erkennbar? Oder ist es so, dass das Foto – obschon, oder gerade weil die Verhörte in die Kamera blickt und dabei lächelt – von der Gewalt, die nach Susan Sontag dem Akt der Personenfotografie innewohnt,
Zeugnis ablegt?
Menschen fotografieren heißt, ihnen Gewalt antun, indem man sie so sieht, wie sie sich selbst nie sehen, indem man etwas von ihnen erfährt, was sie selbst nie erfahren; es verwandelt Menschen in Objekte, die man symbolisch besitzen kann.16
Forstreuter verändert in der Bildlegende geringfügig den Vornamen der Gefangenen, hält sich aber weitgehend an den Text der Propagandakompanie, den er verkürzt wiedergibt: «Die Warschauer Ghettojüdin Bayla Gelblung, Anführerin einer der grausamsten Mordbanden, im Verhör». Der von Forstreuter zitierte Bericht des «Oberkommandos über Vorgeschichte, Anlage, Verlauf und Abschluss des Feldzugs in Polen» stellt die Kriegssituation am 23. September 1939 folgendermaßen dar:
Nur Bruchteile einzelner Verbände konnten sich durch die Flucht in die Sumpfgebiete Ostpolens der sofortigen Vernichtung entziehen. Sie erliegen dort den sowjetrussischen Truppen. Von der gesamten polnischen Wehrmacht kämpft zur Zeit nur ein geringfügiger Rest auf hoffnungslosem Posten in Warschau, in Modlin und auf der Halbinsel Hela.17
Dieser Lagebericht verdeutlicht, was in der Bildlegende der Propagandakompanie mit «Mordbanden» gemeint sein könnte: Sich in unwegsames Gelände zurückziehende, zerstreut kämpfende Verbände der polnischen Armee, zu denen vereinzelt auch Zivilpersonen als Partisanen gestoßen sein mochten.
Es existieren auch Aufnahmen von Bajla Gelblung aus einem anderen Raum, dessen Wände weiß gekachelt sind. Diese Situation sowie die harten Schatten wirken bedrohlich, da die Szenerie Assoziationen an einen Exekutionsraum weckt. Alle Personen auf der Fotografie tragen Mützen, auch Bajla Gelblung. Der Offizier am linken Bildrand ist Brillenträger, seine Kopfbedeckung wirkt zerknittert. Demjenigen rechts auf dem Bild fehlt der Leibgurt. Ebenso sucht man vergeblich nach dem schmalen diagonalen Gurt für die Ledertasche. Keiner der drei hat eine Schirmmütze aufgesetzt. Vergleicht man die Aufnahme mit der bekannten aus dem anderen Verhörraum, so fällt auf, wieviel sorgfältiger die Wehrmachtsoffiziere dort gekleidet sind, während man Bajla Gelblung die Mütze abgenommen hat, wodurch sich die Offiziere stärker von der Angeklagten abheben.
Es ist zu vermuten, dass die Offiziere in den beiden Räumen identisch sein könnten und sich nur anders gekleidet haben. Damit stellt sich die nicht abschließend zu klärende Frage, inwieweit die Szene gestellt worden ist. Selbst wenn das abgebildete Verhör im Grundsatz der Realität entsprechen sollte, dürften sich die Offiziere für die Aufnahmen im ungekachelten Raum zumindest zurechtgemacht haben.
4. Veröffentlichung der Fotografien in Zeitschriften und Zeitungen
Die Aufnahmen wurden am 21. September 1939 von der Zensurbehörde zur Publikation freigegeben. Zwei Tage später, am 23. September 1939, einem Samstag, erschien ein Bild Bajla Gelblungs auf der Titelseite der «Rheinsberger Zeitung», dem amtlichen Veröffentlichungsblatt der Stadt Rheinsberg. Am gleichen Tag wurde die Fotografie auch im «Abendblatt (Neueste Zeitung) der Innsbrucker Nachrichten» publiziert. Nach heutigem Forschungsstand sind dies die frühesten Veröffentlichungen von Fotos des Verhörs. Am darauffolgenden Montag, dem 25. September 1939 erschienen Fotos von Bajla Gelblung auf Seite 3 der «Fehrbelliner Zeitung» und der Titelseite des «Jeverschen Wochenblatts». «Der Führer am Sonntag», die Wochenbeilage des «Führer» publizierte eine Fotografie Bajla Gelblungs am 1. Oktober 2021 auf Seite 6. In allen Zeitungen wurde die Legende der Propagandakompanie vollständig und unkommentiert übernommen.18
Die Fotografien vom Verhör Bajla Gelblungs fanden aber auch über die Grenzen Deutschlands hinaus Beachtung: Eine der Aufnahmen wurde am 27. September 1939 großformatig auf der Frontseite einer Schweizer Illustrierten abgebildet. Die «Schweizer Illustrierte Zeitung» als Presseerzeugnis eines kleinen neutralen Staates heroisierte zu Kriegsbeginn den Kampf der polnischen Armee und der Bevölkerung gegen die übermächtige deutsche Wehrmacht. Die Redaktion wählte eine Fotografie aus, welche die Festgenommene von vorn zeigt. Sie ist auf der originalen Aufnahme umringt von drei deutschen Offizieren, und man hat den rechten Bildrand für das Titelblatt beschnitten und den Bildausschnitt zusätzlich verändert, indem die Fotografie nach unten erweitert wurde. Das so entstandene Hochformat verleiht der polnischen Heldin mehr Präsenz. Ihr Nachname wird in der Legende ebenso unterschlagen wie ihre Warschauer Herkunft. Zudem wird auf den Begriff «Ghettojüdin» verzichtet. Offensichtlich war die Illustrierte bestrebt, nicht die Zugehörigkeit zum Judentum der Verhörten, sondern ihre polnische Staatsbürgerschaft hervorzuheben. Und so lautet denn die Bildlegende:
Kampf bis zum letzten Blutstropfen
Unaufhaltsam sind die Deutschen in Polen vorgerückt. Mit wahrer Todesverachtung und ungebrochenem Kampfgeist wird manchenorts noch gekämpft. Angesichts der Übermacht des deutschen Heeres greifen die Verteidiger, um sich erfolgreich behaupten zu können, zu den letzten Mitteln. In der Nähe von Brest-Litowsk organisierte eine Polin zersprengte militärische Truppen, die den Deutschen in erbittertem Kampfe viel zu schaffen machten. Als der Widerstand gebrochen war, versuchte die Anführerin in einer Soldatenuniform zu fliehen, wurde von deutschen Patrouillen aber aufgegriffen und – nach Kriegsrecht – wahrscheinlich erschossen. Die wehrhafte Polin Baila wird von deutschen Offizieren verhört.19
Die Botschaft der Legende in der «Schweizer Illustrierten Zeitung» ist in Bezug auf den Kampf der Polen gegen die übermächtigen Angreifer ambivalent. Einerseits ist von «wahrer Todesverachtung» und «ungebrochenem Kampfgeist» die Rede, zum andern wird mit dem Hinweis, dass «noch» gekämpft und dabei zu den «letzten Mitteln» gegriffen werde, die Leserschaft auf die Niederlage der polnischen Armee vorbereitet. Im Wesentlichen folgt die Bildlegende den zur Verfügung gestellten Informationen, interpretiert sie aber völlig neu. Die antisemischen Aspekte fallen dabei gänzlich weg.
Am 22. September 1939, also dem Tag nach der Freigabe der Fotografie, ist diese bereits in den Vereinigten Staaten eingetroffen und hat von der Fotoagentur «International News Fotos» eine neue Bildlegende erhalten. Die Bildqualität lässt allerdings zu wünschen übrig. Und die Fotografie ist seitenverkehrt; die deutschen Wehrmachtsoffiziere sind hier Linkshänder. Wie konnte das geschehen und warum erscheint die Aufnahme wie gerastert? Die Fotografie wurde offensichtlich bildtelegrafisch übermittelt. Diese Technik war damals noch relativ jung. Der Fehler konnte beim Senden oder beim Empfangen geschehen sein. Da man auch Negative senden konnte, besteht zudem die Möglichkeit, dass das Bildnegativ in den Vereinigten Staaten beim Übertragen auf Fotopapier falsch eingelegt wurde. Absicht war wohl nicht vorhanden. Doch da der westliche Mensch geneigt ist, Bilder dem Schriftverlauf entsprechend von links nach rechts zu betrachten, besteht ein markanter Unterschied, ob man mit den Offizieren auf Bajla Gelblung blickt, was der ursprünglichen Intension des Fotos entspricht, oder mit der Festgenommenen auf die Wehrmachtsvertreter bei Betrachtung der seitenverkehrten Fotografie.
Abb. 7: Verhör von Bajla Gelblung, gerasterte und seitenverkehrte Fotografie von der amerikanischen Fotoagentur «International News Fotos». Eigentum des Autors.
Aufschlussreicher noch als die Vorderseite ist die Rückseite der Fotografie. In der englischen Bildlegende wird Bajla Gelblung als Scharfschützin bezeichnet. Ihr Verfasser dürfte durch den Begriff «Jüdisches Flintenweib» zu dieser Interpretation gelangt sein.
Doch trifft diese auch zu? Als Flintenweiber wurden von deutscher Seite russische Soldatinnen in beiden Weltkriegen bezeichnet, von denen die meisten keine Scharfschützinnen waren. Beim Begriff handelt es sich um ein Stereotyp, mit dem von der NS-Propaganda Frauen, die sich in den besetzten Gebieten als Soldatinnen, aber auch als Partisaninnen gegen die Eroberer wehrten, in dreifacher Weise diffamiert werden sollten: «Solche Wesen seien politisch fehlgeleitet, keine richtigen Frauen und erst recht keine richtigen Kämpfer, sondern irgendetwas Widernatürliches, Eindringlinge in die […] den Männern vorbehaltenen Domänen der Politik und des Krieges.»20
Ebenfalls bemerkenswert ist es, dass von einem Militärgericht gesprochen wird und nicht einfach nur von einem Verhör. Bajlas Fall sei interessant – so wird weiter ausgeführt – weil sie eine Militäruniform trage. Nur als Partisanin, nicht aber als Soldatin drohte ihr nämlich die Hinrichtung. Die Haager Landkriegsordnung in der Version von 1907 galt ausschließlich für Armeeangehörige, nicht aber für Partisanen, die in der Regel kurzerhand erschossen oder, um Abschreckung zu verbreiten, gehängt wurden.
Unterhalb der englischen Legende befindet sich eine spanische. Sie sieht aus, als wäre sie aus einer Zeitschrift ausgeschnitten worden. Offenbar wurde das Verhör von Bajla Gelblung auch in einer spanischsprachigen Zeitung, sei es in den Vereinigten Staaten selbst oder in Mitteloder Südamerika publiziert. Wenig wahrscheinlich erscheint es, dass die Fotografie in Spanien veröffentlicht wurde, weil die fotografische Vorlage dann einen unerklärlichen Umweg über Nordamerika gemacht hätte.21
Die spanische Legende orientiert sich an der englischen, doch wird diese offenbar missverstanden, da am Ende des spanischen Texts der Eindruck erweckt wird, dass Bejla Gelblung – wohl zur Strafe und um ihr zu verunmöglichen, weiterhin als Schaftschützin aktiv zu sein – die Hände abgeschlagen worden seien.
5. Rezeptionsgeschichte der Fotografien nach dem Krieg
Abb. 9 und 10: Fotografien des Verhörs von Bajla Gelblung, Ghetto Fighters‘ House Archives, Naharija, Israel, catalog nr. 39495 und 39494. Die Aufnahmen stammen aus dem gekachelten Verhörraum, wurden aber sekundär überarbeitet und die Kacheln wegretuschiert.
Nach Kriegsende sind es jüdische Institutionen, die sich für Bajla Gelblung interessieren. Diese sehen in ihr eine Heldin, eine jüdische Partisanin, die einem Todestransport aus dem Warschauer Ghetto entflohen ist. Im «Documents Archive» von «Yad Vashem»22 finden sich mehrere Fotografien von ihr, die mittlerweile zutreffend auf September 1939 datiert werden, jene des Archivs von «The Ghetto Figthers’ House»23 sind undatiert. Auf der Website des «Mémorial de la Shoah» in Paris24 findet sich indessen noch immer eine Fotografie des Verhörs von Baila Gelblung, die ohne weitere Angaben 1943 datiert ist. Die Verhörte wird dort als «Combattente du Ghetto de Varsovie» bezeichnet. Zum Autorenkollektiv zählt das Historische Institut von Warschau. Bemerkenswert ist nun, dass die abgebildete Person nicht als «Bajla Gelblung», sondern als «Beila Gelblum» identifiziert worden ist. Eine Beila Gelblum findet sich aber weder auf den Listen der Ermordeten, noch den Listen der polnischen Juden, die die Shoah überlebt haben. Hingegen kam am 10. September 1920 in Warschau ein Mädchen mit dem Namen Bela Gelblum zur Welt. Sie wäre im September 1939 eben 19 Jahre alt geworden.
Die Gelblums, in die Bela hineingeboren wurde, waren eine angesehene und wohlhabende Familie, die eine Brauerei besaß und die in einem jüdischen Quartier, das später als Teil des Ghettos abgesperrt wurde, an der ulica Bazarowa 7 in Otwock, einem Kurort nahe Warschaus, wohnte. Die meisten Familienmitglieder, auch Bela, überlebten die Kriegsjahre, indem sie sich von 1942 bis 1945 an der ulica Sienna 4 versteckten und dem Eigentümer des Hauses dafür monatlich 16'000 Zloty zahlen ließen. Bela heiratete nach dem Krieg, trug fortan den Nachnamen Miodownik, wanderte nach Argentinien aus, hatte zwei Kinder und verbrachte, nachdem ihr Ehemann verstorben war, die letzten Lebensjahre bis zu ihrem Tod 1991 in Israel. Wäre es also möglich, dass Bajla Gelblung, alias Beila Gelblum mit Bela Gelblum identisch sein könnte?
Sollte die junge Frau tatsächlich als Widerstandkämpferin aktiv gewesen sein, hätte sie die deutsche Wehrmacht zweifellos nicht laufen lassen. Und auf einer Fotografie von Bela Gelblum, auf der sie mit ihrem 1943 ermordeten Bruder am Grab ihrer 1939 verstorben Mutter steht, ist eine junge Frau mit rundlichem Gesicht zu erkennen, die kaum an die festgenommene Partisanin in Brest-Litowsk mit ihrer markanten, stärker dreieckigen Gesichtsform erinnert. Auch auf einer 1938 in der Brauerei entstandenen Fotografie erscheint die Kopfform der damals Achtzehnjährigen auffallend rund. Nein, es ist davon auszugehen, dass Heinz Boesig und Max Ehlert in jenen Tagen im September 1939 nebst den Verhandlungen der Offiziere der deutschen Wehrmacht mit jenen der Roten Armee und dem friedlichen Beisammenstehen der deutschen und russischen Soldaten das Verhör einer polnisch-jüdischen Frau dokumentierten, möglicherweise einer Partisanin, die kurz darauf hingerichtet worden sein dürfte.
Auf dem von Gerhard Schoenberner 1960 unter dem Titel «Der gelbe Stern, Die Judenverfolgung in Europa 1933 bis 1945» veröffentlichten Publikation ist das Verhör von Bajla Gelblung auf S. 98 abgebildet, wenngleich nicht vollständig, sondern leicht beschnitten. Die Bildlegende lautet:
Dieses Mädchen ist eine der wenigen, deren Bild und Namen die Henker hinterlassen haben. Bajla Gelblung entfloh einem Todestransport aus dem Warschauer Ghetto und ging zu den Partisanen. Als sie in Brest-Litowsk verhaftet wurde, trug sie einen polnischen Militärmantel. Dieses Foto von ihrem Verhör erschien während des Krieges in einer deutschen Illustrierten.25
Stärker noch als in der Bildlegende auf dem Titelblatt der «Schweizer Illustrierten Zeitung» vom 27. September 1939 wird die Festgenommene in diesem Text heroisiert. Einiges wird dazu frei erfunden. Dabei bleibt nicht mehr viel Zutreffendes zurück. Es stellt sich die Frage, wie Schoenberner dazu kam, die originale Bildlegende in diesem Ausmaß zu verfälschen. Offenbar war ihm nicht bewusst, dass das Verhör im September 1939 stattfand. Ein Blick auf die Bildquelle verrät den Ursprung dieses Irrtums: Schoenberner nennt das «Centre de Documentation Juive Contemporaine» in Paris. Die Nachfolgeorganisation, die «Mémorial de la Shoah» bewahrt, wie bereits festgehalten wurde, exakt diese Fotografie auf, die noch immer 1943 datiert ist, was nachweislich nicht zutrifft. Schoenberner ist also einem Irrtum aufgesessen, und er verstrickt sich zusätzlich in wilde Spekulationen. Die Aufnahme der Fotografie in seinem Buch hat aber trotz und wohl auch dank des unzutreffenden Bildtextes ganz wesentlich zur Legendenbildung beigetragen.
Faktisch gleichzeitig mit Gerhard Schoenberners bei Rütten&Loening in Hamburg erschienenen «Der Gelbe Stern» publizierte Rütten&Loenig in Ostberlin das Buch «Faschismus - Getto - Massenmord». Der gelbe Stern war zwar nicht Bestandteil des Buchtitels, prangte aber auf dem Buchdeckel. Im Vorwort auf Seite 5 heißt es:
Möge kein Leser den Band aus der Hand legen und sagen, die hier geschilderten schrecklichen Begebenheiten gehören glücklicherweise der Vergangenheit an, seien Geschichte und nur insoweit von Interesse. Die jüngsten antisemitischen Ausschreitungen in Westdeutschland belehren eines anderen.26
Die Rhetorik des Kalten Kriegs ist in diesen Zeilen unverkennbar. Natürlich gab es in der Nachkriegszeit auch in der DDR wie in allen andern Ostblockländern Antisemitismus, über dessen Auswüchse zu sprechen und zu scheiben aber tabu war. Und es gab darüber hinaus einen durch die Sowjetunion beeinflussten staatlichen Antisemitismus und Antizionismus.
Es lohnt sich, die Bildlegenden von «Faschismus - Getto - Massenmord» genauer anzusehen: Auffallend oft ist da von SS und Gestapo die Rede, nie aber von Soldaten oder Offizieren der deutschen Wehrmacht. Wo diese auf den Fotos unübersehbar sind, wird ausschließlich von den Opfern im Passiv berichtet, ohne dass die Täter genannt würden, oder diese werden wider besseres Wissen als Gestapoleute dämonisiert. Das hat offenbar System, und so lautet denn die Bildlegende des Verhörs von Bajla Gelblung:
Gestapoleute haben eine Jüdin, Mitglied der Partisanenbewegung, gefangengenommen.
Der Text ist wesentlich kürzer als bei Schoenberner, und anders als dort wird das Leben der Festgenommenen nicht in heroisierendem Sinne verklärt und verfälscht. Aber die Erwähnung der «Gestapoleute» ist unzutreffend. Bobrowski besaß das Buch «Faschismus - Getto - Massenmord», nach Bukauskaite27 allerdings in der zweiten Auflage von 1961, und so dürfte er, als er das Gedicht «Bericht» im Januar jenes Jahres schrieb, die ostdeutsche Bildlegende nicht gekannt haben.28 Auch in Schoenberners «Der gelbe Stern» sucht man vergeblich nach Hinweisen auf die Wehrmacht. Dort finden sich mehr Begriffe wie «Mörder» oder «Henker», so auch in der Bildlegende des Verhörs von Bajla Gelblung.
In der neuesten Ausgabe der Publikation «Der gelbe Stern" aus dem Jahr 2013 ist in der Bildlegende zur Fotografie von Bajla Gelblung von Henkern mittlerweile nicht mehr die Rede. Und auch etwas anderes hat sich geändert. Die Abbildung hat einen neuen Standort im Buch erhalten. Sie wird nun mit der Hinrichtung von Mascha Bruskina, einer siebzehnjährigen, jüdischen Partisanin in Minsk am 26. Oktober 1941 auf einer Doppelseite gezeigt. Die Fotografien ihrer Exekution durch Erhängen zählen zu den bekanntesten der gesamten Kriegszeit. Das Foto wurde von einem Angehörigen eines litauischen Regiments gemacht, das mit den Deutschen kollaborierte.29 Indem die Fotografie von Bajla Gelblung auf der gleichen Doppelseite mit jener von Mascha Bruskina erscheint, wird weiter an der Legendenbildung gestrickt: Die Schicksale von Bajla und Mascha verwachsen sozusagen, indem Verhör und Hinrichtung als zwei wesentliche Stationen ihres Leidenswegs nebeneinander thematisiert werden.
Was bedeuten die neuen Erkenntnisse für das Gedicht «Bericht»? Es ist davon auszugehen, dass es seine herausragende Stellung in Bobrowskis lyrischem Werk bewahren wird, dass es auch weiterhin Schulstoff an Gymnasien bleibt und in Anthologien aufgenommen wird, doch werden Realität und Fiktionalität klar voneinander zu trennen sein. Dies gilt insbesondere für den ersten intertextuellen Teil des Gedichts, der sich auf Schoenberners Legende bezieht, während der zweite, intermediale über die Fotografie seine historische Relevanz uneingeschränkt beibehält.
6. Epilog
Die Beschäftigung mit der fotografischen Dokumentation der Einvernahme von Bajla Gelblung durch Offiziere der deutschen Wehrmacht hat letztlich mehr Fragen aufgeworfen als gelöst. Wir wissen, dass das Verhör in der dritten Kriegswoche im September 1939 stattgefunden hat. Der Name der Verhafteten war wohl Bajla Gelblung, möglicherweise aber auch Beila Gelblum. Doch ist nicht auszuschließen, dass sie einen anderen Namen trug, denn weder eine Bejla Gelblung noch eine Beila Gelblum lassen sich in Warschau nachweisen. Namentlich bekannt sind hingegen die Fotografen Heinz Boesig und Max Ehlert, die Mitglieder einer Propagandakompanie der deutschen Wehrmacht waren. Unklar ist aber, ob und inwiefern die Fotografien inszeniert sein könnten. Auch bleibt die Frage ungelöst, warum zwei Verhöre in unterschiedlichen Räumen stattfanden. Die Partisanin, wenn sie denn eine war, könnte in Brest-Litowsk bei der verzweifelten Verteidigung polnischen Bodens zwischen die beiden vorrückenden Eroberungsarmeen geraten sein. Doch sicher ist auch das nicht. Worin Bajla Gelblungs «Verbrechen», wie es in der Bildlegende der Propagandakompanie heißt, oder ihre Heldentaten als Partisanin aus anderer Perspektive, konkret bestanden haben, bleibt offen. Wer war Bajla Gelblung und was ist mit ihr geschehen? Letztlich wissen wir es nicht. Einzig das, was aus den Fotografien des Verhörs geworden ist, wie sich ihre Deutung verändert hat, wie und warum sich Legenden um sie bildeten, lässt sich erforschen.
Wie schwierig es doch ist, den Wahrheitsgehalt der Fotografien auszuloten, die doch scheinbar eine historische Realität wiederzugeben scheinen. Doch die Fotos sind stumm, sind Momentaufnahmen, die das Vorher und Nachher verschweigen, sind Ausschnitte mit einem scharfen Rand, der Sichtbares von Unsichtbarem trennt. Nach Susan Sontag impliziert eine Fotografie,
dass wir über die Welt Bescheid wissen, wenn wir sie so hinnehmen, wie die Kamera sie aufzeichnet. Dies aber ist das Gegenteil von Verstehen, das damit beginnt, dass die Welt nicht so hingenommen wird, wie sie sich dem Betrachter darbietet. Jede mögliche Form des Verstehens wurzelt in der Fähigkeit, nein zu sagen. Genaugenommen lässt sich aus einem Foto nie etwas verstehen.31
Und nach Roland Barthes sind Fotografien Zeichen, denen eine Markierung fehlt, damit sie klassifizierbar würden:
Was immer auch ein Foto dem Auge zeigt und wie immer es gestaltet sein mag, es ist doch allemal unsichtbar: es ist nicht das Foto, das man sieht.32
Erst recht helfen die Bildlegenden den Betrachtenden der Fotografien des Verhörs von Bajla Gelblung nicht weiter, vielmehr dürfen sie ihnen in keiner Weise trauen, denn sie führen, absichtlich wie jene der Propagandakompanie oder unabsichtlich wie jene Schoenberners, auf eine falsche Fährte.
1 Johannes Bobrowski (1987-1999), Gesammelte Werke (GW) in sechs Bänden, hrsg. von Eberhard Haufe (Band 1-V) und Holger Gehle (Band VI). Berlin und Stuttgart. Band I (1987), Die Gedichte, S. 133.
2 GW, Band V, S. 134. Zudem mündliche Mitteilung von Klaus Völker am 23. Oktober 2021. Völker habe zuvor mit Bobrowski über Schoenberners Publikation gesprochen und er, Völker, sei auch der Erste gewesen, dem Bobrowski das Gedicht im Januar 1961 vorlegte.
3 Andreas F. Kelletat (2000), Die Wehrmacht und das Mädchen, Zu Johannes Bobrowskis Gedicht Bericht, in: Marcel Reich-Ranicki, Hundert Gedichte des Jahrhunderts. Mit Interpretationen. Ausgewählt von Marcel Reich-Ranicki. Frankfurt am Main und Leipzig, S. 300-302.
4 Susan Sontag (1978, Neuausgabe 2002), Über Fotografie, ins Deutsche übertragen von Gertrud Baruch und Mark W. Rien. München (Hanser), S.23.
5 Miriam Arani (2011), Die Fotografien der Propagandakompanien der deutschen Wehrmacht als Quellen zu den Ereignissen im besetzten Polen 1939-1945, in: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung 60, H. 1, S. 1-49, hier 2 f.
6 Bundesarchiv Koblenz, Legende von Bild 183-2008-0415-507
7 Zitiert nach Miriam Arani (2011), a. a. O, S. 14
8 Rudolf Augstein, Lieber Spiegelleser, in: Der Spiegel, Ausgabe 31/1953 vom 27. Juli 1953.
9 Bundesarchiv Koblenz, Legende zu Bild 146-1974-057-51.
10 Miriam Arani (2011), a. a. O, S. 30.
11 Maren Röger (2015), Kriegs Beziehungen, Intimität, Gewalt und Prostitution im besetzten Polen 1939 bis 1945. Frankfurt am Main, S. 29.
12 Maren Röger (2015), a. a. O., S 43.
13 Maren Röger (2015), a. a. O., S. 203.
14 Adalbert Forstreuter (1940), Deutsches Ringen um den Osten, Kampf und Anteil der Stämme und Gaue des Reichs“. Berlin, Abbildung S. 309
15 Roland Barthes, (1989, 14. Auflage 2019), Die helle Kammer. Suhrkamp, Frankfurt am Main, S. 22.
16 Susan Sontag (1978, Neuausgabe 2002), Über Fotografie, ins Deutsche übertragen von Gertrud Baruch und Mark W. Rien. München (Hanser), S.22.
17 Adalbert Forstreuter (1940), a. a. O., S. 309
18 Es erscheint wahrscheinlich, dass noch nicht alle Fotos von Bajla Gelblung, die 1939 in deutschsprachigen Zeitungen publiziert wurden, bekannt sind, da das „Deutsche Zeitungsportal“ im Herbst 2021 noch im Aufbau begriffen war.
19 Schweizer Illustrierte Zeitung, 27. September 1939, Titelseite.
20 Martina Thiele (2010), Medial vermittelte Vorurteile, Stereotype und ‚Feindinnenbilder‘, in: Martina Thiele / Tanja Thomas / Fabian Virchow (Hg.), Medien – Krieg – Geschlecht. Affirmationen und Irritationen sozialer Ordnungen. Wiesbaden. S. 61 – 80, hier S. 70/71.
21 Doch auch das lässt sich nicht ausschließen. Denn der Autor dieses Aufsatzes hat die Fotografie im Sommer 2021 bei einem Händler in Madrid erworben.
22 Yad Vashem, Zentrale Namenbank der Namen der Holocaustopfer, ID 14339821, ID 14339823, ID 14339826 und ID 14339828, aufgerufen am 2. November 2011.
23 The Ghetto Figther’s House, catalog nr 39494 bis 39496, aufgerufen am 2. November 2021.
24 Mémorial de la Shoah, aufgerufen unter am 2. November 2021.
25 Gerhard Schoenberner (1960), Der gelbe Stern, Die Judenverfolgung in Europa. Hamburg, S. 98.
26 Jüdisches historisches Institut, Warschau, bearbeitet und erweitert von Tatiana Berenstein, Artur Eisenbach, Bernard Mark und Adam Rutkowski (1960), Faschismus -Getto – Massenmord, Widerstand der Juden in Polen während des zweiten Weltkriegs. Berlin, S. 5.
27 Dalia Bukauskaite (2006), Kommentierter Katalog der nachgelassenen Bibliothek von Johannes Bobrowski. Trier, S. 167.
28 Dies bestätigte Klaus Völker am 23. Oktober 2021 mündlich gegenüber dem Autor dieses Aufsatzes.
29 Martin Gilbert (2001), Das jüdische Jahrhundert. München, S. 210. Fälschlicherweise wird dort das Jahr 1942 statt 1941 angegeben. Bei Schoenberner wiederum stimmt zwar das Jahr, nicht aber das Datum; fälschlicherweise wird dort der 6. September anstelle des 26. Oktobers genannt.
30 Siehe dazu Andreas Degen (2004), Bildgedächtnis, Zur poetischen Funktion der Sinneswahrnehmung im Prosawerk Johannes Bobrowskis. Berlin, S. 369/370.
31 Susan Sontag, a. a. O., S. 31/32.
32 Roland Barthes, a. a. O, S. 14.