Blumen aus der Hölle. Die epochale Anthologie "Finnlandschwedische Literatur der Avantgarde"
Auf einem ärmlichen Fleckchen Erde in Karelien, unweit einer russischen Holzkirche mit grünen Zwiebelkuppeln, entstand 1916 die große Weltpoesie des Nordens. In ihrem karelischen Heimatdorf Raivola, das damals zum Großfürstentum Russland gehörte, schloss die damals 24jährige Edith Södergran ihren bildmächtigen Gedichtband „Dikter“ ab. Ein halbes Jahrhundert später schwärmte der junge Peter Hamm: „Die skandinavische Moderne wurde von einer Frau eröffnet, von Edith Södergran, einer der grandiosesten Dichterinnen der Welt. Ihr war auferlegt, in wenigen Jahren das wichtigste lyrische Werk zu schaffen, das der gesamte Norden heute besitzt.“ Auf einem Foto von 1912 sieht man die Dichterin auf dem Krankenbett im schweizerischen Davos, wo sie zur Erholung weilte, der Blick der Lungenkranken ist in eine unbestimmte Ferne gerichtet. Die Lichtgestalt der skandinavischen Poesie wurde nur 31 Jahre alt, die Todeserwartung ist in fast alle ihre Gedichte eingeschrieben. Im deutschen Sprachraum hat Hans Magnus Enzensberger bereits 1960 Södergran übersetzt und in sein „Museum der modernen Poesie“ aufgenommen. Aber es dauerte - nach einem weiteren Anlauf unter der Regie von Richard Pietraß, der 1988 mit einigen Lyriker-Kollegen für den Band „Klauenspur“ (Reclam Leipzig) Södergran übersetzte - noch ein weiteres Vierteljahrhundert, bis jetzt endlich die angemessene Würdigung ihres Werks erscheinen konnte.
Diese editorische Großtat ist dem Übersetzer und Dichter Klaus-Jürgen Liedtke zu verdanken, der dank der Unterstützung durch die „Schwedische Literaturgesellschaft in Finnland“ ein großes Panorama der skandinavischen Weltpoesie vorgelegt hat. Edith Södergran ist die Portalfigur der von ihm herausgegebenen und auch komplett (!) übersetzten fünfbändigen Anthologie „Finnlandschwedische Literatur der Avantgarde“. Allein schon durch die feine bibliophile Ausstattung der Leinenbände, die mit der gewohnten Sorgfalt vom Verleger Josef Kleinheinrich gestaltet wurden, gehört diese durchweg Original wie Übersetzung präsentierende Anthologie zu den größten poetischen Ereignissen der letzten Jahre. Neben Edith Södergran hat Liedtke den entscheidend von der Spätromantikerin beeinflussten Dichtern Elmer Diktonius, Raabe Enckell, Henry Parland und Gunnar Björling je einen Band der Anthologie gewidmet. Alles Dichter, die der schwedischsprachigen Minderheit in Finnland angehören und die hierzulande – mit Ausnahme von Björling – bislang nahezu unbekannt waren und zum größten Teil in dieser Anthologie erstmals auf Deutsch vorliegen. Zu den frühverstorbenen Lichtgestalten aus der finnlandschwedischen Hemisphäre gehört auch Henry Parland (1908-1930) aus Wiborg, der 1929 mit lakonischen Dinggedichten im Stil der Neuen Sachlichkeit Aufmerksamkeit erregte. Nur im Fall von Gunnar Björling (1887-1960), der mit seiner Verwandlungsfähigkeit und seinen ironischen Selbstzuschreibungen neben Edith Södergran die herausragende Figur der Anthologie ist, hat Hans Magnus Enzensberger einige Vorarbeit geleistet. In seinem epochalen „Museum der modernen Poesie“ hatte er schon auf die Sonderstellung Björlings hingewiesen und darauf aufmerksam gemacht, dass sich Björling bereits 1921 als „Dada-Universalist“ bezeichnet und damit „zweifellos eine Irreführung“ erdacht hat. Liest man die faszinierenden Aphorismen Björlings, besteht ein nicht geringes Vergnügen darin, sich von seinen Finten und plötzlichen ästhetischen Richtungswechseln überraschen zu lassen. Auf die scheinbar auftrumpfende Behauptung, er sei ein „Dada-Universalist“, folgt alsbald die weniger schmeichelhafte Einsicht: „Ich alter Schwülstling/ bin nicht sehr begabt/...Ich bin ein neuer Bazillus/Ich bin Dadaonkel...“ Diese Wendigkeit des „Dadaonkels“ Björling ist aber allemal den Kraftmeiereien des kulturrevolutionär aufgelegten Elmer Diktonius (1896-1961) vorzuziehen, der in vielen seiner Gedichte wie ein pathetisch überhitzter Verwandter Johannes R. Bechers auftritt. Der wohl schönste Aphorismus der Anthologie stammt aber ebenfalls von Elmer Diktonius: „Ich schreibe, denn ich bin schwach. Besser wäre es, mit einer Axt in die Welt hinauszugehen und um sich zu hauen.“ Über die ästhetischen Eigenheiten von Elmer Diktonius, Henry Parland und Raabe Enckell geben auch die vorzüglichen Einleitungen (von Klaus-Jürgen Liedtke) und die Nachworte (von Anders Olsson) Auskunft, die den Bänden jeweils beigegeben sind. Hier ergreift denn auch Klaus-Jürgen Liedtke die Gelegenheit, die herbe Kritik zurückzuweisen, die vor einigen Jahren Heinrich Detering an Liedtkes Södergran-Übersetzungen geübt hat.
Tatsächlich entdeckt man ebenso feine wie signifikante Unterschiede, wenn man die Übersetzungen von Enzensberger oder Richard Pietraß mit denen von Klaus-Jürgen Liedtke vergleicht.
Die Hölle
O wie herrlich die Hölle ist!
In der Hölle spricht niemand vom Tod.
In die Eingeweide der Erde ist die Hölle gemauert
und mit glühenden Blüten geschmückt...
In der Hölle spricht niemand ein hohles Wort...
In der Hölle hat niemand getrunken und niemand geschlafen
niemand ruht aus und niemand sitzt still.
In der Hölle spricht niemand, doch alle schreien,
dort sind Tränen nicht Tränen und ohne Kraft aller Kummer.
In der Hölle wird niemand krank und niemand ermüdet.
Unveränderlich ist die Hölle und ewig.
„In der Hölle sagt keiner ein leeres Wort“, heißt es noch bei Hans-Magnus Enzensberger, „In der Hölle spricht niemand ein hohles Wort“ bei Klaus-Jürgen Liedtke. Nur in Liedtkes Übersetzung ist die mythische Dimension des Pronomens „niemand“ enthalten. Es verweist zurück auf Homers Odyssee und darin auf die Geschichte des blinden Polyphem, der sich von „Niemand“ täuschen lässt.
Auch an einem weiteren Södergran-Gedicht zeigen sich die Vorzüge von Liedtkes Übersetzung. Es ist eins ihrer letzten Gedichte, das auch ihren Grabstein in Raivola ziert, das ergreifende Poem „Ankunft im Hades“:
Sieh den Strand der Ewigkeit,
hier braust der Strom vorbei,
und der Tod spielt in den Büschen
sein immergleiches Tandaradei.
Sieh hier den Strand der Ewigkeit,
vorüber rauscht die Flut,
und in dem Strauchwerk spielt der Tod
sein immergleiches ödes Lied.
Das „Tandaradei“, der betörende Nachtigallengesang, ist vom „öden Lied“ so weit entfernt wie ursprünglich das „Elysium“, die Insel der Seligen, vom antiken „Hades“.
Edith Södergran rückt beides dicht aneinander. In ihrer Dichtung herrscht ein reger Transfer zwischen den Mächten der Unterwelt und den Herrlichkeiten der Gegenwart:
und täglich kommen frische Blumen aus der Hölle.
Aber es kommt der Tag, da die Hölle leer ist, der Himmel schließt
und alles stillsteht –
dann wird nichts übrig sein als der Leib einer Libelle
in einer Blattfalte.
Aber keiner wird es wissen.
Als Leser dieser prophetischen, lebenshungrigen wie todessüchtigen Gedichte von Edith Södergran nehmen wir diese Blumen aus der Hölle dankbar entgegen.
Erstveröffentlichung: Signaturen-Magazin Dezember 2014 © Doris Braun, 2023
Edith Södergran / Elmer Diktonius/ Rabbe Enckell / Gunnar Björling / Henry Parland: Finnlandschwedische Literatur der Avantgarde. Hrsg. von Klaus-Jürgen Liedtke.
Edith Södergran: Ich selbst bin Feuer / Jag själv är elden. Gedichte / Dikter 1907-1922.
Elmer Diktonius: Gras und Granit / Gräs och granit. Aphorismen und Gedichte / Aforismer och dikter 1921-1954.
Rabbe Enckell: Streichholzgedichte / Tändsticksdikter. Gedichte / Dikter 1923-1971.
Gunnar Björling: und japangleich ein Angelboot / och japanlik en metarbät. Aphorismen und Gedichte / Aforismer och dikter 1925-1960.
Henry Parland: Einmal Europa - dankend erhalten / Erhällit Europa - vilket hermed erkännes. Gedichte / Dikter 1926-1930
5 Bände in Kassette. Münster (Kleinheinrich Verlag) 2014. Je 180 Seiten. 90,00 Euro.