Karelienmythologie in der finnlandschwedischen Literatur

 

Zwischen Dichtern, Dichterinnen und ihren Landschaften besteht eine deutliche Verbindung. Das bedeutet oft, dass Herkunft und die Landschaften der Kindheit oder auch andere erlebte als literarisches Milieu wiederkehren. Die literarischen Landschaften werden ebensowohl von realen Eindrücken wie von Träumen und fiktiven Visionen geformt. Der finnlandschwedische Psychoanalytiker Mikael Enckell bezeichnet die literarische Landschaft als „eine Umarmung, in der Dichtung und Dichter ruhen, sehen und entdecken”. Diesen Satz möchte ich gern als Motto über diesen Vortrag setzen: Die literarische Landschaft. Eine Umarmung, in der Dichtung und Dichter ruhen, sehen und entdecken.

Eine Landschaft, die für Kunst und Kultur Finnlands geradezu mythische Dimensionen angenommen hat, ist Karelien. Schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts interessierte man sich, wie damals vielerorts in Europa auf der Jagd nach einer eigenen nationalen Identität, für die Kultur Kareliens und das ursprünglichste Zeugnis der finnischen Kultur, die Kalevala-Runen. Der Arzt und Forscher Elias Lönnrot legte in den 1830er Jahren, im Sommer zu Fuß und im Winter auf Skiern, Tausende von Kilometern durch das weite Karelien zurück, von West nach Ost und von Süd nach Nord, um die mündlich überlieferten Gesänge über Väinämöinen und die anderen altfinnischen Helden für das aufzuzeichnen, was einmal Finnlands Nationalepos Kalevala werden sollte. In der nationalromantischen Epoche der finnischen Kunstgeschichte um die Wende zum zwanzigsten Jahrhundert wurden sowohl diese Helden als auch ihre karelische Kalevalawelt von dem berühmten finnländischen1 Maler Axel Gallén-Kallela in Bilder umgesetzt. In seinen Gemälden und Fresken findet man die Vorstellung des Künstlers vom Ur-Karelier und seiner natürlichen Verlängerung, dem Ur-Finnen.

Doch lässt sich das Kalevala auch als Grundlage der finnlandschwedischen Kultur ansehen? Die Frage muss man womöglich verneinen. Anfangs wurde das Epos natürlich auf Finnisch, aber nur von den gebildeten Kreisen in Finnland gelesen, und die sprachen mehr oder weniger das ganze neunzehnte Jahrhundert hindurch bis zu seinem Ende nur Schwedisch. Große finnische Volksausgaben erschienen erst seit den 1880er Jahren und später, mehr als fünfzig Jahre nach der Erstausgabe. Außerdem wurde das Finnlandschwedische nicht vor dem zweiten Jahrzehnt des zwanzigsten Jahrhunderts ein Begriff, als die Sprachenfrage in Finnland immer mehr zum Thema wurde. Bis dahin sprachen die akademisch Gebildeten überwiegend Schwedisch, verstanden sich aber als Finnen, ein Erbe der sogenannten Schwedenzeit vor 1809, in der Finnland ein Teil Schwedens war.

Warum ist dann aber Karelien für die finnlandschwedische Literatur so wichtig, wenn man in ihr keine wirklichen Spuren von Kalevalaromantik findet? Die Antwort muss in anderer Richtung, in einer anderen Zeit und einer anderen literarischen Tradition gesucht werden: In den 1920er Jahren, als der aufkeimende literarische Modernismus seinen Durchbruch vor allem durch Autoren mit Wurzeln in Karelien erlebte. Als Landschaft muss man Karelien als eine Grenzregion betrachten, mit den ganz spezifischen Besonderheiten eines Grenzlandes, in dem sich verschiedene Sprachen und Kulturen begegnen und aufeinander Einfluss nehmen.

Um pädagogisch solide vorzugehen, möchte ich damit beginnen, wo Karelien eigentlich liegt. Für Finnländer von heute ist der Begriff Karelien nämlich keineswegs leicht und eindeutig geografisch zu lokalisieren. Für viele von ihnen ist Karelien die Landschaft Karelen im nordöstlichen Finnland, da, wo es am breitesten ist. Viele, vor allem jüngere Generationen, haben vergessen, dass Karelien noch so viel mehr ist, ein riesiges Gebiet nämlich, das sich vom Finnischen Meerbusen im Südwesten bis über den Ladoga-See und weiter bis ans Weiße Meer im Nordosten erstreckt. Tatsächlich umfasst das kulturgeschichtlich ursprüngliche Karelien ein Gebiet, das ebenso groß ist wie ganz Finnland.

Die Grenze zwischen Finnland und Russland blieb jahrhundertelang veränderlich, verlief aber in der Regel mitten durch Karelien. Geschichte und Kultur Kareliens werden teilweise noch heute davon geprägt, dass es ein Grenzland mit eigenen Besonderheiten ist. Die Kultur Kareliens ist keineswegs homogen, sondern besteht aus vielen verschiedenen kulturellen und sprachlichen Dimensionen, die oft miteinander verschmolzen sind oder einander beeinflussten. Heutzutage existieren viele Einstellungen und Meinungen zu Karelien und dem, was es ausmacht.

Eine Definition hängt davon ab, welche Position oder Perspektive man jeweils einnimmt. Aus finnländischer Perspektive sind besonders Weißmeerkarelien und die Karelische Landenge wichtige Regionen für unsere kulturelle Eigenart. Weißmeer- oder Ostkarelien gilt als Land des Kalevalavolks und ist literarisch, ethnografisch und sprachgeschichtlich für die finnische Kultur von Bedeutung. Nach dem Moskauer Friedensschluss von 1940 blieb Ostkarelien russisch-sowjetisches Territorium, und die Karelische Landenge, die lange als ein Teil Finnlands galt, wurde abgetreten und ein Teil der Sowjetunion. Gerade diese Landenge aber stellte eine kulturelle Wiege für viele finnlandschwedische und finnische Künstler und Literaten dar. Doch stammten ebenso viele berühmte russische Künstler und Autoren von dort; so lebten dort für längere Zeit zum Beispiel Ilja Repin, Leonid Andrejew und Anna Achmatowa.

Karelien ist nicht nur eine geografisch schwer zu definierende Region, sondern auch eine mythische Landschaft im Bewusstsein der Menschen. Das Karelien, das 1944 endgültig an die Sowjetunion abgetreten wurde, lebt bei denen, die damals nach Finnland evakuiert wurden, als auf ewig verwüstete Landschaft ihrer Kindheit fort. Durch mehrere Generationen haben viele Finnen das Trauma zu verarbeiten gesucht, das durch den Friedensschluss entstanden ist, dem zufolge große Teile des kulturell und wirtschaftlich bedeutenden Karelien an die Sowjetunion abgegeben wurden. Der Krieg hatte zur Folge, dass ein großer Teil der Bevölkerung in diesen Gebieten (vor allem die Finnisch und Schwedisch sprechende) auf immer seine Heimat verließ und nach Finnland floh. Es handelte sich um mehr als 400.000 Menschen. Die heutige Bevölkerung dieser karelischen Gebiete setzt sich zum großen Teil zusammen aus den Nachfahren derer, die damals blieben, und derer, die in der Stalinzeit dorthin zwangsumgesiedelt wurden. Zirka 100.000 Kolchosfamilien aus verschiedenen Teilen der Sowjetunion zogen nach Karelien.

Die Karelische Landenge, also das Gebiet zwischen dem Finnischen Meerbusen und dem Ladoga-See, war vor 1940 die weltoffenste Gegend Finnlands und Wiborg die kosmopolitischste Stadt des Landes, vor allem weil es eine lebhafte Handelsstadt war. Finnische, schwedische, russische, deutsche und baltische Volksgruppen lebten auf der Karelischen Landenge einträchtig beieinander. Vertreter der russischen Ober- und Mittelschicht hatten sich im Lauf des neunzehnten Jahrhunderts vor allem an der Küste aber auch an Seen im Binnenland Sommervillen errichten lassen, die eine bis heute sichtbare Besonderheit dieser Region ausmachen. Der Großteil der Bevölkerung auf der Landenge bestand jedoch bis 1940 vor allem aus finnischen und teils aus russischsprachigen Bauern.

Man darf folglich behaupten, die Karelische Landenge sei die Wiege der wachsenden modernistischen Tendenzen insbesondere in der finnlandschwedischen, aber auch in der finnischen Literatur gewesen. Die Schriftstellerin Hagar Olsson verbrachte ihre ersten Jahre zwar in Åbo, doch ihre Jugendzeit und die Sommer des frühen Erwachsenenlebens bis zum Kriegsjahr 1939 verlebte sie in Räisälä auf der Karelischen Landenge, wo ihr Vater Pfarrer war. Die Brüder Henry, Ralf und Oscar Parland, alle drei betätigten sich literarisch, verbrachten ihre Kindheit und Jugend auf dem Gut Tikkala außerhalb von Wiborg. In den 1930er Jahren wurde die Villa Golicke im Dorf Kuokkala bei Kivinebb an der Küste des Finnischen Meerbusens zu einem Zentrum für mehrere bedeutende Künstler. Das Haus gehörte dem Maler Sven Grönvall und seiner Cousine Ina Colliander, geborene Behrsen. Das Künstlerehepaar Ina und Tito Colliander ließ sich für einige Jahre in der Villa nieder und erhielt dort in den Sommermonaten oft Besuch von schwedischen und finnlandschwedischen Schriftstellern und Künstlern, die auf die eigentümlich verträumte Atmosphäre in diesem abgelegenen Winkel neugierig waren, der noch immer an die Glanzzeiten der Zarenzeit erinnerte. Bei guter Sicht konnte man vom Ufer die schreckeinflößende Festungsinsel Kronstadt sehen, die Schauplatz so vieler Revolten gewesen war. Die finnlandschwedischen Autoren Elmer Diktonius, Ralf und Oscar Parland waren ebenso häufig in der Villa Golicke zu Gast wie ihre schwedischen Kollegen Gunnar Ekelöf, Erik Lindegren und Ebbe Linde. Nicht selten unternahmen sie Ausflüge zum nicht weit entfernten Dorf Raivola, wo sie Edith Södergrans Mutter Helena besuchten, die ihnen gern die Lieblingsplätze und das Grab ihrer Tochter zeigte.

Mehrere literarische Werke von Autoren mit Wurzeln in Karelien vor dem Zweiten Weltkrieg lassen sich als Verarbeitungen oder auch Abrechnungen mit der idyllischen und sagenumwobenen Landschaft ihrer Kindheit und Jugend beschreiben. Tito Colliander, der 1918 aus Petersburg nach Finnland floh, hat in mehreren Büchern seine Lieblingsgegend, die Sommerhaussiedlungen in der Gemeinde Terijoki an der Küste des Finnischen Meerbusens beschrieben, u.a. in dem Roman Huset där det dracks (Das Haus in dem getrunken wurde, 1932), der im Terijoki der 1920er und 1930er Jahre unter russischen Emigranten, gelegentlichen Sommerfrischlern und anderen entwurzelten Existenzen spielt. Noch in den Dreißigerjahren war Terijoki einer der lebendigsten Badeorte Finnlands. Der Roman Taina (1935) ist in Kuokkala in Terijoki angesiedelt und handelt von einer jungen Russin, die von Kronstadt flieht, wo die russische Flotte stationiert war. In den Bänden seiner Memoiren beschreibt Colliander sehr eindringlich die konkrete Entwurzelung, die Unruhe und Angst, die durch den Verlust des eigenen Hauses und der Heimat ausgelöst werden. Der Hunger der Menschen, die in Warteschlangen nach Brot anstanden und das Leben als Flüchtling brachten ihn dazu, als Schriftsteller zu einem sozial engagierten Außenseiter zu werden.

Der Autor und spätere Literaturprofessor Olof Enckell debütierte mit dem Roman Ett klosteräventyr (Ein Klosterabenteuer, 1930), in dem er schildert, wie ein des Lebens in Helsingfors überdrüssiger junger Mann auf der Suche nach Ruhe das Kloster Valamo aufsucht und dort auf eine fremde orthodoxe Welt trifft, die mal seine Neugier weckt, ihn mal abstößt. Seine späteren, sozial engagierteren Bücher spielen in zum Teil russischen Milieus im nördlichen Teil der Karelischen Landenge oder in Ladogakarelien.
Auch Hagar Olson beschreibt die karelische Landschaft ihrer Kindheit in Träsnidaren och döden (Der Holzschnitzer und der Tod, 1940), einem Dokument ihrer Reaktion auf den Friedensvertrag von 1940 und das Abtreten der Karelischen Landenge an die Sowjetunion. Ihre Romanfiguren suchen Frieden in den Klöstern von Valamo, Konevitsa und Lintula.

Es ist wohl kaum zumutbar, noch weiter finnlandschwedische Schriftsteller nur aufzuzählen, die an der Mythisierung Kareliens mitgewirkt haben. Darum werde ich mich auf zwei Beispiele beschränken, die mir wichtig gewesen sind, die aber auch in einer sehr speziellen Beziehung zu ihrer je eigenen realen karelischen Landschaft standen, nämlich Edith Södergran und Oscar Parland.

Wenn man an mein Motto von der literarischen Landschaft als einer Umarmung, in der Dichtung und Dichter ruhen, sehen und entdecken, anknüpft, dann lässt sich sagen, dass dies weitreichende Folgen für die Interpretation von Edith Södergrans Werk hat. Gern hat man sie oberflächlich und schablonenhaft mit ihrem Haus im karelischen Raivola verbunden. In ihren Gedichten beschrieb sie und nahm sie ihren Ausgangspunkt in ihrem eigenen Mikrokosmos im Garten des Hauses, und nachdem die Legendenbildung um ihre Person und ihr Werk so allumfassend geworden war, sind manche so weit gegangen, sogar die Bäume und Hügel real ausfindig machen zu wollen, über die Edith Södergran in ihren Gedichten schrieb. Ihre Werke wurden mehr als die der meisten anderen Autoren den Nachteilen einer biografischen Deutung ausgesetzt. Der Dichtermythos um Edith Södergran ist nicht leicht zu durchdringen. Sie war eine Frau, unverheiratet, eine Bahnbrecherin, zum Teil unverstanden, krank, einsam und starb jung – alles Zutaten zu einem Künstlermythos, wie man ihn sich nicht besser ausmalen könnte. Deutung und Verständnis ihrer Gedichte wurden auch dadurch beeinflusst, dass die reale Landschaft, in der sie lebte und schrieb, zu den Gebieten gehört, die an die Sowjetunion abgetreten wurden; auch wenn das erst zwanzig Jahre nach ihrem Tod geschah. Bemerkenswert auch, dass sie und ihre Gedichte als von einem karelischen Exotismus getrieben aufgefasst wurden, obwohl sie selbst sich kaum als Karelierin verstand und der Begriff Karelien in ihren Gedichten nicht vorkommt

Edith Södergran wurde 1892 in Sankt Petersburg geboren und wuchs in einer finnlandschwedischen Familie der bürgerlichen Mittelschicht auf. Sie besuchte in Sankt Petersburg die deutsche Mädchenschule und verbrachte den größten Teil ihres Lebens in dem überwiegend finnischsprachigen Dorf Raivola, einem Eisenbahnhaltepunkt an der Strecke zwischen Sankt Petersburg und Wiborg. Heute wird ihr Werk als Paradigmenwechsel gesehen; mit ihrer ersten Gedichtsammlung, Dikter, von 1916 erlebte der literarische Modernismus seinen Durchbruch im Norden.

Es wurde diskutiert, wie isoliert Edith Södergran auf der Karelischen Landenge gelebt habe, doch man darf behaupten, dass sie bis zur Russischen Revolution 1917 in Wiborg und Sankt Petersburg durchaus Zugang zu neuester Avantgardeliteratur hatte. Es war eher das literarische Establishment in Helsingfors, das vom Rest Europas abgekoppelt war. Dort waren Informationen über neue europäische Strömungen schwerer zu beschaffen, und darum ist es keineswegs so merkwürdig, dass der literarische Modernismus in Finnland und überhaupt im Norden von einer exzeptionellen und scheinbar isolierten Dichterin in Raivola eingeführt wurde, die jedoch Zugang zu neuen literarischen Werken russischer Futuristen und deutscher Expressionisten besaß. Södergran bezog ihre Einflüsse aus mehreren Sprachgebieten, sie verfügte über umfangreiche Sprachkenntnisse und konnte die gesamte brandneue Literatur jeweils in der Originalsprache lesen. So las sie Sewerjanin und Balmont auf Russisch, Nietzsche, Max Dauthendey, Mombert und Else Laske-Schüler auf Deutsch, Rimbaud und Maeterlinck auf Französisch, Walt Whitman auf Englisch, und Eino Leino und Frans Eemil Sillanpää versuchte sie auf Finnisch zu lesen. Ihre Sanatoriumsaufenthalte in Nummela in Mittelfinnland und ihre zwei Jahre in einem Sanatorium im Schweizer Davos dürften als Katalysatoren für ihre literarische Entwicklung gewirkt haben.

In den Anfangsjahren des zwanzigsten Jahrhunderts war Raivola ein lebendiger Ferienort mit vielen Luxusvillen entlang des langgestreckten Steilufers am See Onkamo. Die meisten gehörten der russischen Oberschicht. Im Ort gab es mehrere Geschäfte, ein Fotoatelier, zwei große Sägewerke und zwei Fabriken, die Zigarettenschachteln produzierten. Die Einwohnerschaft von Raivola setzte sich, wie in vielen anderen Orten auf der Karelischen Landenge, aus Angehörigen verschiedener Sprachen zusammen. Die Bebauung wie das kulturelle Milieu waren durchweg geprägt durch die Begegnung von Russischem, Baltischem, Deutschem, Finnischem und Schwedischem, obwohl die Mehrheit der Bevölkerung aus Finnisch sprechenden Bauern bestand.

Schon hier bekommen wir die Schlüssel zu etwas, das heute viele als „karelischen Exotismus” bei Södergran betrachten: dem Umstand, dass sie über Kontaktflächen zu vielen Sprachen und Kulturen verfügte. Der karelische Exotismus bei Södergran ist also nicht spezifisch karelisch, sondern eher das Resultat des Umstands, dass sie innerhalb einer sprachlichen und gesellschaftlichen Minderheit in einem Grenzgebiet lebte. Finnlandschwedische Schriftstellerkollegen, die sich 1917 in Helsingfors mit ihr trafen, sprachen von ihrem „russinnenhaften Auftreten” und ihrem altertümelnden Schwedisch, kulturelle Eigenheiten, die sie sich als Finnlandschwedin in der Diaspora zugelegt hat.

Da Edith Södergran 1917 die Revolution in Russland und auch die darauf folgenden Kriegsereignisse im finnischen Bürgerkrieg selbst miterlebte, lieferten diese Ereignisse indirekt auch Stoff für ihre Dichtung. Nach 1917 blieb sie mehr oder weniger dauerhaft in Raivola; ihr einstiges Vermögen schmolz im Gefolge der Revolution wie Schnee in der Sonne. Ihre literarische Landschaft wurde am Ende ihr eigener Garten, der – seiner begrenzten Ausdehnung zum Trotz – in den Gedichten eine Spannweite zwischen Mikro- und Makrokosmos erhielt. Aus ihrem Garten konnte sie berühmte Sentenzen herausschreien wie: „Ich bin keine Frau, ich bin ein Neutrum” oder „Es kommt mir nicht zu, mich kleiner zu machen, als ich bin”. Dass Edith Södergran in ihrem Garten in Karelien Gedanken über „Das neue Weib” formulierte, ist kein Beleg für ein isoliertes neukarelisches Frauenbild, sondern Resultat von Koinzidenzen in der Zeit, kulturellem Austausch und literarischen Strömungen, die in Europa überhaupt virulent waren.

Edith Södergran starb am Mittsommertag des Jahres 1923 und wurde, von ihrem Garten aus gesehen, auf der anderen Seite des Zauns bestattet, auf dem griechisch-orthodoxen Friedhof. Raivola wurde im Herbst des Jahres 1939 geräumt, und Edith Södergrans Mutter zog ins östliche Finnland um, wo sie ein paar Monate später starb. Heute ist Raivola Wallfahrtsort für eingefleischte Södergran-Bewunderer. Von ihrer unmittelbaren Lebensumgebung ist nichts geblieben; ihr Haus und ihr Garten existieren nicht mehr, nicht einmal die angrenzende Kirche und ihr Friedhof. Teile von Raivola wurden im Krieg zerstört, und ein neues, anderes Roschtschino ist an gleicher Stelle entstanden. In den 1960er Jahren wurde an dem Platz, an dem man Södergrans Haus vermutete, ein Denkmal errichtet; die Inschrift originellerweise nur auf Schwedisch. Die Wallfahrten nach Raivola erfüllen selbstverständlich eine Funktion. Eine ihrer Ursachen dürfte darin bestehen, dass man noch etwas von der früheren Idylle erleben möchte, vielleicht die gleiche Luft atmen möchte wie Edith Södergran. Oder Anteil haben möchte an dem, was man „karelische Exotik” nennt.

Mein zweites Beispiel für eine Mythisierung Kareliens in der finnlandschwedischen Literatur liefern Oscar Parlands autobiografische Bücher Den förtrollade vägen (Der verzauberte Weg, 1953), Tjurens år (Das Jahr des Stiers, 1962) und der 2001 postum erschienene Roman Spegelgossen (Der Spiegelknabe). Man darf sagen, dass sie auf persönlichen Erlebnissen beruhen und eine Abrechnung mit der Landschaft der Kindheit darstellen. Oscar Parland lässt sich (neben seinen ebenfalls schreibenden Brüdern Ralf und Henry) als der kosmopolitischste unter den finnlandschwedischen Autoren ansehen. Er bezeichnete sich als Engländer, der, mit Deutsch als Muttersprache, in Russland geboren wurde, eine schwedische Schule besuchte und die finnische Staatsangehörigkeit besaß. Damit wollte er seine Heimatlosigkeit und Verlorenheit in finnischen Kulturkreisen zum Ausdruck bringen. Seine Eltern waren mit einem baltisch-deutsch-englisch-finnisch-russischen kulturellen Hintergrund in St. Petersburg aufgewachsen. Es mag überraschen, dass er sich entschied, seine Bücher auf Schwedisch zu schreiben, doch bei sehr vielen sogenannten „Emigrationsrussen”, die vor der russischen Revolution nach Finnland flohen, fiel in der Frage der Schulsprache und der, die zu Hause gesprochen wurde, die Wahl in vielen Fällen auf das Schwedische, weil sie es als leichter empfanden, sich einer Minorität zu assimilieren, der finnlandschwedischen. Die Familie Parland gehörte streng genommen nicht zu den „Emigrationsrussen”, vielmehr waren ihre Mitglieder finnische Staatsbürger, die lange in Russland gewohnt hatten; allerdings sprachen die Eltern nicht sehr gut Finnisch und Schwedisch und unterhielten sich auf Deutsch oder Russisch. Von 1914 bis 1919 lebten die Parlands auf dem Familiengut Tikkala nahe Wiborg, das für Oscar auch das primäre literarische Milieu seiner Autorschaft abgab. In den drei mehr oder minder autobiografischen Büchern wimmelt es von baltendeutschen und russischen Tanten und Onkeln, in der Realität waren es siebenunddreißig Stück, die auf der Flucht vor der Revolution auf dem Gut einfallen. Sie werden als mehr oder weniger Tschechow'sche Originale dargestellt, von denen einige offen erschreckende mentale Probleme aufwiesen. Streit und Neid innerhalb der Verwandtschaft wurden durch wirtschaftliche Nöte und Hunger noch verstärkt. Zeitweilig verlor die Familie den Kontakt zum Vater, der als Beamter der staatlichen Eisenbahn in St. Petersburg arbeitete und auch in der Stadt geblieben war, als die Grenze zwischen Russland und Finnland geschlossen wurde. 1922 konnte dann doch die ganze Familie glücklicherweise nach Grankulla außerhalb von Helsingfors umziehen. Die Sommer verbrachte sie jedoch bis zum Ende der Dreißigerjahre weiterhin in Karelien.

Oscar Parland kam 1912 in Kiew zur Welt und starb 1997 in Helsingfors. Im Hauptberuf war er Psychiater und Psychoanalytiker, verfasste nebenher aber Musikkritiken und schrieb Romane. Er gehört zu den wenigen Autoren, die explizit die Verbindungen zwischen der erdichteten und der realen Welt aufdecken. In seinem Essayband Kunskap och inlevelse (Erkenntnis und Einfühlung, 1991) präsentiert er eine interessante Theorie darüber, weshalb der Expressionismus in der finnlandschwedischen Literatur so früh und so stark Widerhall fand. Er meint, dass die Finnlandschweden als Minderheitskultur häufiger Mehrsprachigkeit und größerer sprachlicher Unsicherheit ausgesetzt waren, Merkmale, die zeittypisch sind für expressionistische Texte. Er sagt, „die syntaktische Freizügigkeit und der Assoziationsreichtum des Modernismus haben womöglich etwas mit dem Bedürfnis [der Finnlandschweden] zu tun, Ausdrucksmöglichkeiten zu verjüngen, die von Wortarmut und zunehmender Verflachung bedroht sind”, wie es bei Minderheitssprachen seiner Meinung nach häufig der Fall sei. Ich weiß nicht, ob die Argumentation zutrifft, zumindest glaube ich, dass sie sehr gut auf die Beispiele Parland und Södergran passt: Beide waren nicht sattelfest in ihrer Muttersprache, waren atypische Vertreter des Finnlandschwedischen und sind mehrsprachig aufgewachsen.
Und das Karelische bei Parland? In seinen autobiografischen Büchern wird alles aus der Perspektive eines Kindes geschildert; im ersten Band ist der Junge vielleicht 4 oder 5 Jahre alt, im letzten 7-9. Die Romane sind von einer Bewusstseinsebene zwischen Wirklichkeit und Fantasie geschrieben und folgen keiner echten Chronologie. Die Erlebnisse des Kindes werden mit scheinbar psychologischem und wissenschaftlichem Scharfsinn dargestellt, in dem auch Literatur, Kunst und Musik von zentraler Bedeutung sind. Dadurch erscheinen Parlands Texte fragmentarisch, und selten spielen sie in einer konkreten Wirklichkeit, sondern eher in einer Phantasiewelt.

Das Karelische zeigt sich in der Motivwahl der Bücher: sie spielen im Durcheinander von Sprachen und kulturellen Eigenheiten, wie sie während Parlands Kindheit auf dem Gut Tikkala herrschten. Das Leben dort steht in offenbarem Kontrast zum umliegenden finnischen Landleben. Im Übrigen fällt auf, dass Parland die Arbeit an seiner Romantrilogie 1941 begann, als die Landschaft der Kindheit im Krieg endgültig verloren war. Der abschließende Band, Spegelgossen, beginnt mit einer Episode, in der Oscar Parland selbst noch einmal nach Tikkala zurückkehrt; als Soldat im Krieg.

Im Bereich der Kultur verlor Finnland mithin die Region, die in vielfacher Hinsicht als Wiege vieler bedeutender literarischer und künstlerischer Strömungen gelten kann. Alles von der Kalevalatradition bis zu aufkeimenden modernistischen Tendenzen in finnischer wie finnlandschwedischer Literatur bezog seine Nahrung aus der Landschaft und Kultur Kareliens. Der Karelienmythos in der finnlandschwedischen Literatur verdankt sich somit keiner genuin karelischen Tradition, sondern ist vielmehr Produkt historischer Umwälzungen und der Begegnung von Kulturen, wie sie in Grenzregionen häufig stattfindet.

Von daher gesehen stellt sich die Karelische Landenge als etwas anderes dar als das übrige weitläufige Karelien. Ganz Karelien wurde als Kriegsschauplatz großen politischen und sozialen Umwälzungen unterworfen. Auf der Karelischen Landenge fielen die Kontraste besonders groß aus. Im 19. Jahrhundert war die Landenge ein Idyll speziell für reiche Petersburger, die sich zu der heute noch existierenden unerhört schönen Natur hingezogen fühlten, die noch immer Menschen anzieht. 1917 wurde für viele Menschen zu einem Schicksalsjahr. Der Erste Weltkrieg und die Revolution in Russland hatten Folgen für Finnland, das ein unabhängiger Staat mit einer streng bewachten Grenze zu Russland wurde. In den Zwanziger- und Dreißigerjahren des letzten Jahrhunderts wurde die Karelische Landenge ein Zufluchtsort für viele Emigranten aus Russland und ein Sommerparadies für viele finnländische Familien. Die Revolution und der Krieg änderten alles. Flüchtlingsströme durchzogen die Gegend, Internierungslager wurden errichtet, Hungersnot und allgemeiner Notstand nahmen enorme Ausmaße an. Für viele Finnländer ist die blutende Wunde der Karelischen Landenge nach Kriegsende noch immer nicht verheilt.

Neue Generationen wachsen nach und haben ihre eigene Sicht auf die Dinge. Wem gehört Karelien heute? Die Weltgeschichte und Ideologien können schicksalsschwere Auswirkungen auf den Lebensweg von Einzelnen haben. Und was bleibt dann? Düfte, Gefühle und Empfindungen oder Worte und Gedichte.

Vortrag gehalten auf der Tagung "Landscapes of the Baltic in Literature and Art" in Visby im November 2002

1 Anmerkung des Übersetzers „finnländisch” wird von schwedischsprachigen Finnen als Oberbegriff benutzt, der finnischsprachige und schwedischsprachige Finnen gleichermaßen als Einwohner Finnlands bezeichnet.