Von Isländern, Eisbären und Königen
Anmerkungen zur Auđun-Novelle
Die Geschichte von Audun hat etwas von der Zeitlosigkeit und Ubiquität des Märchens – ihr Handlungsschema ist uns in unzähligen Varianten vertraut und gehört sicher zu den verbreitetsten Erzählkonstanten überhaupt: da zieht jemand hinaus in die Ferne, um sein Glück zu suchen. Schwierigkeiten türmen sich auf, aber sein unerschütterlicher Glaube an sich selbst und das Festhalten an seinem gefaßten Plan führen schließlich zum Erfolg. Audun setzt sich durch, erwirbt die Anerkennung von zwei Königen und ein Vermögen dazu. Diese Geschichte ist unmittelbar eingängig und setzt dem modernen Leser trotz des beträchtlichen Alters keinen großen Widerstand entgegen. Sie bedarf zu ihrem Verständnis – und dies gehört sicher zu ihren Vorzügen – keines gelehrten Kommentars. Wir können sie durchaus lesen als Konkretisation eines universalen, vielleicht sogar trivialen Mythos, als Projektion der ewigen Träume vom Glück, vom Sieg des Schwachen, vom Erfolg des Tüchtigen, von der Belohnung des Guten und der Bestrafung des Bösen.
Und doch würde eine solche Reduktion der Perspektive auf das Allgemeine, ein Absehen von der historischen Dimension des Erzählten den Verzicht auf einen wesentlichen Teil dessen bedeuten, was dieser mittelalterliche Prosatext an semantischen Inhalten bereithält. Wir haben es hier ja nicht mit anonymen Märchenkönigen, sondern mit historisch identifizierbaren Königen zu tun. Die Handlung spielt in einem geographisch genau umrissenen Raum. Und viele Geschehens- und Bedeutungselemente sind erst vor dem Hintergrund der zeitgeschichtlichen Konstellationen adäquat zu erfassen. Wie es für den allergrößten Teil der isländischen Prosaliteratur des Mittelalters gilt, gibt sich auch dieser Text an der Oberfläche realistisch. Der bekannte "Sagarealismus" mit seinen stilistischen und inhaltlichen Konstituenten gehört überhaupt zu den beständigsten und mächtigsten Gattungskonventionen der altnordischen Literatur. An ihm hat nicht nur die historiographische, sondern auch die mehr oder weniger fiktionale Literatur Anteil. So stellt sich auch hier wieder die Frage nach dem Realitätsgehalt des Textes, nach dem faktischen Hintergrund, vor dem erst die Intention und Leistung des anonymen Erzählers gemessen und gewürdigt werden kann. Freilich kann die Frage auch in diesem Fall höchstens im Sinne einer Wahrscheinlichkeit beantwortet werden.
Beginnen wir mit dem auf den ersten Blick unwahrscheinlichsten Vorgang dieser Erzählung, der zugleich ihren inhaltlichen Kern ausmacht – dem Transport eines Eisbären aus Grönland, vom äußersten Ende der damals bekannten Welt, über Meere und Länder hinweg bis nach Dänemark. Angesichts der damaligen Verhältnisse ein geradezu unglaubliches Unternehmen. Und doch haben wir sichere Zeugnisse, daß so etwas möglich war und wahrscheinlich sogar mehr als einmal in die Tat umgesetzt wurde.
Den wohl ältesten Bericht über ein solches Ereignis finden wir im Buch von der Landnahme (Landnámabók), einem Werk, das die Besiedlung Islands im 9./ 10. Jahrhundert schildert und als historische Quelle einigen Respekt genießt. Dort heißt es, Ingimund (einer der ersten Siedler in Nordisland), habe auf dem (vereisten) Húnavatn (einer lagunenartig verbreiterten Flußmündung) eine Eisbärin mit zwei Jungen gefunden. Er sei mit den Tieren nach Norwegen gefahren und habe sie dem König Harald Schönhaar zum Geschenk gemacht. Als Gegengabe habe er vom König ein schönes Schiff erhalten, beladen mit wertvollem Bauholz. Er sei mit zwei Schiffen nach Island zurückgekehrt. Es wird weiter erwähnt, daß vorher noch nie jemand einen Eisbären in Norwegen gesehen habe. Nichts spricht dagegen, daß sich diese Geschichte so oder so ähnlich abgespielt haben könnte. Daß Eisbären sich auf dem Treibeis bis nach Island verirrten, ist wiederholt, und zwar auch in neuerer Zeit vorgekommen. In einem Punkt darf man aber vielleicht Zweifel anmelden. War es wirklich möglich, auch das Muttertier in die Gewalt zu bekommen, oder hat man es nicht doch, wie es bis heute unter Tierfängern üble Praxis ist, getötet und sich nur an die Jungtiere gehalten?
Etwas ausführlicher erzählt die Geschichte von Ingimund eine Saga, die Vatnsdæla saga, die sich auf die Landnámabók stützt und sicher im Kloster Þingeyrar entstanden ist, das in unmittelbarer Nähe des Húnavatn liegt. In diesem Kloster, dem ersten in Island (seit 1133), begann im letzten Drittel des 12. Jahrhunderts eine rege Geschichtsschreibung, zuerst in Latein, dann in der Volkssprache. Die Vatnsdæla saga wird wohl erst in der Zeit nach 1300 entstanden sein, dürfte aber altes Material aus Ortssagen geschöpft haben.
Ingimund war nicht einer der vielen Landnehmer, die Norwegen verließen, weil Harald Schönhaar nach der Schlacht im Hafrsfjord (872) ein autokratisches Regime etabliert und die Großbauern in ihren Rechten beschnitten hatte. Er wird als Freund des Königs geschildert, der sich nur zögernd zur Auswanderung hatte entschließen können. Das Eisbärengeschenk kam hier also nicht von ungefähr und ist einleuchtend motiviert.
Eine zweite Eisbärengeschichte wird in der Hungrvaka überliefert, einer auf guten Quellen beruhenden isländischen Kirchengeschichte des 11. und 12. Jahrhunderts. Akteur ist kein anderer als Ísleif, der erste Bischof von Island (von 1056-1080), Sohn von Gizurr Ísleifsson, der eine entscheidende Rolle bei der Einführung des Christentums in Island (im Jahre 999 bzw. 1000 durch Allthingbeschluß) gespielt hatte. Ísleif hatte in Herford, der zentralen Ausbildungsstätte des sächsischen Adels studiert. Als er etwa 1054/55 wiederum nach Sachsen reiste, um sich dort zum Bischof weihen zu lassen, suchte er, wie die Quelle berichtet, den Kaiser Heinrich Konradssohn auf und schenkte ihm einen Eisbären, der aus Grönland stammte, ein Tier von größter Kostbarkeit. Kaiser Heinrich III. (1017-1056), denn um diesen handelt es sich hier, hatte enge Beziehungen zu Skandinavien. Er war mit einer Tochter Knuts des Großen verheiratet und förderte in besonderer Weise das Erzstift Hamburg-Bremen, dem das skandinavische Missionsgebiet bis zur Errichtung eigener Bistümer zugeordnet war. Er verstand sich als Gesalbter des Herrn und als vicarius Christi und demonstrierte den sakral-priesterlichen Charakter seiner Monarchie durch die Investitur der Bischöfe und Reichsäbte. Er führte auch die kurze Periode der deutschen Päpste (zwischen 1046 und 1057) herauf. Ein Herrscher an einem Höhepunkt der Machtentfaltung des deutschen Kaisertums im Mittelalter, der wie kaum ein anderer Zeitgenosse das Ideal des christlichen Regenten verkörpern mochte.
Angesichts der angeführten Vorgänger handelt der Isländer Einarr Sokkason schon fast in einer alten Tradition, wenn er, wie es in einer anderen isländischen Quelle heißt, im Jahre 1123 von Grönland mit einem Bären zum norwegischen König Sigurd Jerusalemfahrer zieht.
Es ist wohl sicher, daß Eisbären nie zu den in Island heimischen Tieren gehört haben. Wenn doch vereinzelt von freilebenden Tieren die Rede ist, muß es sich um versprengte Tiere handeln, die auf die in der Ingimund-Geschichte beschriebene Art auf die Insel gekommen waren. Bei der Gefahr, die für Mensch und Tier von ihnen ausging, ist es selbstverständlich, daß man ihnen schnell den Garaus machte. Einen beispielhaften Fall schildert die schon erwähnte Landnámabók: Ein Vater und sein älterer Sohn machen sich im Schneetreiben auf die Suche nach vermißten Schafen. Als sie nicht zurückkehren, geht ihnen der jüngere Sohn nach und findet sie beide von einem Eisbären getötet. Er rächt den Vater, heißt es weiter, indem er den Bären tötet, und den Bruder, indem er den Bären ganz aufißt.
Daß sich ein solches Tier einmal sogar bis an die Häuser der Menschen wagte, geht aus einer hübschen Episode in der Flóamanna saga hervor. Dort heißt es: "Im Winter trug es sich zu, daß sich ein Bär über das Vieh der Leute hermachte und großen Schaden anrichtete. Einmal, als die Männer gekommen waren, um mit Þorgils zu handeln und viele in dem Schuppen waren, in dem die Ware lagerte, war da auch der kleine Þorfinnr. Er sagte zu seinem Vater: 'Da draußen, Vater, ist ein schöner großer Hund.' Þorgils sagte: 'Kümmere dich nicht darum, aber lauf nicht hinaus.' Der Junge lief wieder hinaus, und da war der Bär vor der Tür und warf sich auf ihn. Der Junge schrie laut. Þorgils lief mit seinem Schwert hinaus. Der Bär hatte mit dem Jungen nur gespielt. Þorgils schlägt dem Tier zwischen die Ohren und spaltet ihm den Schädel. Es fällt tot zu Boden. Er nimmt den Jungen, und der war nur leicht verletzt."
Daß man es in Island auch verstand, Eisbären zu zähmen, daß man die Tiere geradezu als Haustiere hielt, bezeugt die sogenannte Graugans, das alte isländische Gesetzeswerk. Hier gibt es eine Bestimmung, die von Bären als Haustieren spricht und sie z.B. mit Haushunden gleichstellt – hinsichtlich der Haftung des Eigentümers und der Unverletzlichkeit des Eigentums. Zur Illustration eine kleine Episode aus der Geschichte von Þorsteinn Ochsenfuß: "Geitir, der Vater des Bauern, sitzt auf der Bank und murmelt in seinen Bart. Aber als der Junge in die Stube kommt, da rennt er so ungestüm, wie es Kinder zu tun pflegen und fällt auf die Nase. Als Geitir das sieht, lacht er schallend auf... Der Junge geht hin zu Geitir und fragt: 'Warum kam dir das eben so lustig vor, als ich hinfiel?' Geitir antwortet: 'Weil ich etwas gesehen habe, was du nicht gesehen hast.' 'Was denn?' fragte Þorsteinn. 'Das will ich dir sagen', antwortete Geitir. 'Als du vorhin in die Stube kamst, folgte dir ein Eisbärenjunges und lief vor dir auf dem Boden. Als es aber mich sah, blieb es stehen, du aber ranntest so ungestüm, daß du über den kleinen Bären gestolpert bist.'"
Daß solche Tiere einen außerordentlichen Wert darstellten, ergibt sich aus den historischen Berichten ebenso unzweifelhaft wie aus der Audun-Geschichte. Schließlich mußte er für den Kauf sein gesamtes Kapital einsetzen. Gemeint sind aber immer Eisbären ("Weißbären", wie man sie nannte). Die Einfuhr von Braunbären ("Waldbären") nach Island stand dagegen unter strenger Strafe für alle Beteiligten. Wegen ihrer großen Seltenheit mögen die Eisbären an den europäischen Fürstenhöfen wohl ebenso begehrt gewesen sein wie die berühmten weißen Islandfalken.
Die Handlungszeit der Audun-Geschichte läßt sich aus der vorausgesetzten politischen Konstellation ziemlich genau auf die Jahre zwischen 1050 und 1060 eingrenzen. Es wird ja in der Erzählung erwähnt, daß in Norwegen ein Harald, in Dänemark ein Sven regierte und daß beide sich miteinander im Krieg befanden. Ohne jeden Zweifel sind hier Harald der Harte auf der einen und Sven Estridsen (Ulfsson) auf der anderen Seite gemeint. Was waren das nun für Männer, die in der Erzählung eine so zentrale Rolle spielen?
Harald, 1066 in England gefallen, war eine der farbigsten und umstrittensten Figuren auf dem norwegischen Thron. Seine Biographie und seine Persönlichkeit haben besonders häufig Stoff für Erzählungen und Sagas abgegeben. In den zahlreichen Anekdoten, die sich um den "letzten Wikingerkönig" ranken, erscheint er in wechselndem Licht – teils negativ als überstrenger Autokrat, teils positiv als Freund der Isländer und Kenner und Förderer der Skaldendichtung. Harald war ein jüngerer Halbbruder Olafs des Heiligen und hatte, nachdem dieser 1030 in der Schlacht von Stiklestad gefallen war, Norwegen verlassen und war über Rußland nach Byzanz gezogen. Er trat als eine Art Söldnergeneral in die Dienste des dortigen Kaisers und erwarb sich in zahlreichen Kämpfen hohe Ehren und unermeßliche Reichtümer. Als er 1046 nach Norwegen zurückkam, wurde er zunächst Mitregent neben seinem Neffen Magnus dem Guten, bis dieser 1047 starb. Hatte schon Magnus in einem ständigen Konflikt mit Sven gelegen – beide erhoben Anspruch auf Norwegen und Dänemark – so setzte Harald diesen Streit mit unverminderter Heftigkeit fort. "Zeit ihres Lebens herrschte Kampf zwischen Harald und Sven", resümiert Adam von Bremen, unser bester Gewährsmann für das Leben König Svens. Er hatte persönlichen Kontakt mit dem Dänen und benutzte ihn als Informanten für die skandinavischen Verhältnisse. Dennoch ist das Bild, das er von dem Neffen Knuts des Großen in seiner Hamburgischen Kirchengeschichte zeichnet, alles andere als positiv. Als ihm der Erzbischof wegen seiner Ehe mit einer nahen Verwandten die Exkommunikation ankündigte, soll er die Hamburger Kirchengemeinde mit Verwüstung bedroht und sich Nebenfrauen und Konkubinen genommen haben. Adam bemüht biblische Vorbilder, um ihn als Muster eines schlechten Herrschers hinzustellen. Dieses harte Urteil mag aus der Enttäuschung darüber resultieren, daß Sven der ihm zugedachten kirchenpolitischen Rolle nicht im erhofften Maße nachgekommen war. Ein ganz anderes Bild zeichnet dagegen der isländische Historiker Snorri Sturluson (1184—1242) von Sven: "Das sagten alle, die ihn kannten, daß es ihm an nichts fehlte, was einen guten Herrscher ziert." Ein ähnlich günstiges Bild Svens zeichnet auch Saxo Grammaticus in seinen Gesta Danorum vom Anfang des 13. Jahrhunderts. Er verschweigt zwar ebensowenig wie Adam seinen ausgeprägten Hang zum weiblichen Geschlecht und tadelt seinen wenig sittenstrengen Lebenswandel, aber dieser Makel wirkt sich nicht entscheidend auf das Gesamturteil aus. Geradezu als Musterbild eines gerechten Königs erscheint Sven bei Saxo in folgender Episode, die wegen ihrer Strukturähnlichkeit mit der Audun-Geschichte in diesem Zusammenhang besonders interessant ist: Ein junger norwegischer Priester, der sich durch alle Tugenden auszeichnet, aber Mängel in der Gelehrsamkeit aufweist, kommt an den dänischen Hof. Dort wird er von Geistlichen verspottet, die sich ihm überlegen glauben. Sie nutzen seine geringen Lateinkenntnisse aus, um ihm einen bösen Streich zu spielen, und ändern in einem Text, den er vorzulesen hat, ein "famulus" in "mulus". So kommt es, daß der Nichtsahnende den König nicht "Diener", sondern "Esel Gottes" nennt. Sven durchschaut das üble Spiel schnell, dem der tugendhafte Mann aufgesessen war, und bestraft nicht ihn, sondern die Urheber. Den Norweger schickt er auf eine Schule, wo er bald zu einem Meister der lateinischen Sprache wird. (Saxo XI, 7,7).
In dieser kleinen Erzählung begegnet uns Sven in der Rolle des "rex iustus", um den es auch im skandinavischen Mittelalter intensive Diskussionen gab. In derselben Rolle, gesteigert noch durch die kontrastierende Gegenüberstellung mit Harald, treffen wir ihn in der Audun-Geschichte wieder. Harald muß Sven, der gegen ihn militärisch immer den kürzeren gezogen hatte (im Text bleibt dies unter der Oberfläche), moralisch den Vortritt lassen. Er zeigt sich zwar großzügig, macht aber deutlich, daß diese Reaktion seiner ganz persönlichen, situationsbedingten Entscheidung entspringt, daß er sich nicht einem übergeordneten Anspruch verpflichtet fühlt. Er ist ein Herrscher, der sich Willkürentscheidungen ausdrücklich vorbehält. Von ihm geht eine Gefahr aus, eine massive latente Bedrohung, der sich Audun in klarem Bewußtsein und auf sein Glück vertrauend aussetzt.
Das Glück spielt überhaupt die zentrale Rolle in dieser Erzählung. Und wenn wir "Glück" sagen, so müssen wir wissen, daß dieses Wort nur sehr ungenau das Gemeinte umschreibt. Die altnordische Sprache hat für diesen Sinnbezirk auffallend viele Bezeichnungen – gipta, gæfa, hamingja, lykka und auðna sind die wichtigsten. Wie sie sich semantisch gegeneinander abgrenzen und ob sich in ihnen vornehmlich heidnische oder christliche Vorstellungen niederschlagen, ist ungeklärt bzw. heftig umstritten. Hier ist nicht der Raum, auf diese Probleme näher einzugehen, aber es sei doch darauf hingewiesen, daß nach einer statistischen Erhebung die bereits erwähnte Vatnsdæla saga von allen Sagas die mit Abstand höchste relative Frequenz von Ausdrücken aus dem genannten Wortfeld aufweist, in diesem Punkte von unserer Erzählung aber noch um mehr als das Doppelte übertroffen wird. Jene Saga hat mit unserer Erzählung also nicht nur das Eisbären-Motiv, sondem auch die Leitidee gemeinsam – ein Indiz für Zusammenhänge, die sich einmal zu untersuchen lohnte.
Wir wissen nicht genau, wann die Geschichte von Audun entstanden ist, nicht einmal, wann sie zum ersten Mal zu Papier gebracht wurde, aber wir können den Zeitraum ein wenig eingrenzen. Die älteste erhaltene Fassung finden wir in einer Handschrift vom Ende des 13. Jahrhunderts. Diese geht auf eine Vorlage von ca. 1190–1220 zurück, aber es ist nicht sicher, daß unser Text darin schon enthalten war.
Wir wissen auch nicht, ob Audun gelebt hat. Die Erzählung nennt nicht einmal den Namen seines Vaters. Daß er am Ende als Ahnherr von Þorsteinn Gyðuson (gest. 1190) in Anspruch genommen wird, muß nicht viel besagen. Es ist auch letztlich nicht von entscheidender Bedeutung, ob sich die Geschichte wirklich in dieser oder ähnlicher Form zwischen ca. 1050 und 1060 zugetragen hat. Ihre ganze Anlage mit ihrer betont moralischen Tendenz, ihre Anklänge an biblische Motive, ihre Anleihen bei der internationalen Erzähltradition (der geteilte Lohn, Hans im Glück), ihre stilistische und strukturelle Durchgeformtheit sprechen eher dafür, daß die Geschichte exemplarisch und nicht historisch gemeint war. Ein wenig verdächtig ist auch der Name Auduns (aisl. Auðun), der mit dem Glückswort auðna stammgleich ist und etwas zu gut paßt. Natürlich schließt das einen historischen Kern nicht aus, aber die Parallelen zu den oben erwähnten Berichten sind doch etwas zu augenfällig. Vor allem die Fahrt Ísleifs, die ja im gleichen Zeitraum stattfand, könnte leicht als Anregung für eine erweiternde Ausgestaltung gedient haben. Auch Ísleif hat sich nach der Quelle übrigens nach Übergabe des Bären nach Rom begeben. Es wäre vorstellbar, daß auch in der Erzählung ursprünglich Heinrich die Rolle des idealen Herrschers zukam, er sie aber später an den im Norden bekannteren Sven abtreten mußte. Die persönlichen Beziehungen, die Sven zum Kaiser unterhielt, könnten dies begünstigt haben.
Eine solche Pilgerfahrt, wie sie von Audun berichtet wird, war an sich nichts Ungewöhnliches. In den Sagas werden mehrere Pilgerfahrten nach Rom erwähnt, die in den Anfängen des 11. Jahrhunderts, also kurz nach der Christianisierung, stattgefunden haben sollen. Solche literarischen Quellen sind freilich von zweifelhaftem Zeugniswert. Die erste sicher belegte historische Romfahrt war die von Sighvatr, dem Hofskalden Olafs des Heiligen, im Jahr 1030. Daß die Zahl der isländischen Pilger aber keineswegs gering war, beweisen die dreizehn isländischen Namen im Gästebuch des Klosters Reichenau. Wir besitzen sogar einen richtigen Reiseführer in altisländischer Sprache, der beweist, daß hier ein gewisser Bedarf bestand. Die Motive für eine Pilgerfahrt in den Süden – neben Rom kamen Jerusalem und Santiago de Compostela die größte Bedeutung zu – waren unterschiedlicher Art. Meistens lag ein Gelübde zu Grunde, oder die Fahrt wurde als Buße für schwere Sünden, z.B. für Mord, auferlegt. Mit den religiösen Beweggründen konnten sich aber auch andere verbinden: diplomatische Anliegen, Abenteuerlust und touristisches Interesse.
Als Audun aus Rom zurückkommt, ist er in einem elenden Zustand: ein mittelloser Bettler, kahlköpfig und abgemagert, kaum wiederzuerkennen, ein Gespött der Hofgesellschaft. Dieser Anblick erinnert an den des Skalden Máni, wie er dem norwegischen König Magnus Erlingsson in einem Kapitel der Sverris saga bietet: "Máni war gerade von Rom gekommen, als Bettler, und er war nicht gerade stattlich, dieser Máni: kahlköpfig und mager und fast unbekleidet." Hier spiegeln sich die Strapazen und Gefahren, die mit einer solchen Reise damals verbunden waren.
Auf einen mir in diesem Zusammenhang wichtig erscheinenden Punkt möchte ich hier noch hinweisen. Er betrifft die Motivation von Auduns ganzem Unternehmen. Wir erfahren in der Erzählung an keiner Stelle, warum er den Bären nun unbedingt zu Sven nach Dänemark bringen will. Die Absicht wird lediglich mitgeteilt und erhält ihre Begründung nachträglich durch den Ausgang. Innerhalb des Erzählganzen ist das irrationale Moment, das sich hieraus ergibt, geradezu konstitutiv. Für einen historischen Audun wäre aber das beschriebene Verhalten nahezu unverständlich. Was hätte ihn gerade zu Sven ziehen können, der in der fraglichen Periode weder über außergewöhnliche Macht noch Reichtümer verfügte, sich wahrscheinlich sogar die meiste Zeit als Gefolgsmann des schwedischen Königs Anund-Jakob in Schweden aufhielt?
Dies alles sind freilich nur Randbemerkungen, die ein wenig Licht auf den historischen Hintergrund, vielleicht auch auf die Entstehungsgeschichte der Erzählung werfen sollten, deren literarische Qualität sie aber nur indirekt betreffen. Diese ist unbestritten und beruht vor allem auf der klaren Handlungsstruktur, der konsequenten Durchgestaltung eines Grundgedankens (das "Glück" mit einer überpersonalen, transzendenten Konnotation), dem stringenten Erzählstil mit seinen prägnanten Dialogen und den geschlossenen Personendarstellungen.
Letztlich nicht geklärt ist das Verhältnis der zahlreichen motivähnlichen Texte zu unserer Erzählung. Sie reichen von Heinrich von Freibergs Gedicht Das Schretel und der Wasserbär aus den Jahren 1290–95 bis zu ungezählten Märchen-Varianten, die zwischen Schottland und Rußland, in Skandinavien, im Baltikum und in Mitteleuropa kursierten. Es wird aber vermutet, daß die Audun-Geschichte am Beginn all dieser Traditionen steht.
Die vorerst letzte in einer ganzen Reihe von literarischen Bearbeitungen dieses Stoffes, von denen das Gedicht Kong Harald og Islændingen des Dänen Carl Ploug von 1859 besondere Erwähnung verdient, ist das Hörspiel Audun und der Eisbär des Finnen Paavo Haavikko aus dem Jahr 1967.
Auch durch dieses vielfältige Nachwirken (hierzu gehören auch die Übersetzungen ins Norwegische, Schwedische, Dänische, Deutsche, Englische, Lateinische und Finnische) bestätigt sich der Rang der Geschichte von Audun, die lange vor Boccaccio alle Kriterien der klassischen Novellendefiniton erfüllt, als einer der besten Vertreter einer Gattung der altnordischen Prosaliteratur, die im Bewußtsein einer breiteren Öffentlichkeit bislang immer zu sehr im Schatten der bekannteren Sagaliteratur gestanden hat. In der Fachliteratur nennt man diese rund hundert kürzeren oder längeren Erzählungen þættir (Sing. þáttr), was eigentlich soviel wie »Abschnitt, Teil eines Ganzen« bedeutet. Diese Konnotation ist aber ganz in den Hintergrund getreten, und wir verwenden die Bezeichnung þáttr für alle erzählenden Prosatexte einer gewissen Selbständigkeit, die kürzer sind als eine Saga. Zwar sind manche þættir, der Grundbedeutung entsprechend, in den Rahmen eines größeren Kontextes eingebettet überliefert, aber eben doch längst nicht alle. Versuche, den Begriff des þáttr inhaltlich enger zu präzisieren, etwa unter der Rubrik "Der König und der Isländer", wie es versucht wurde, schließen notwendigerweise einen Teil des zugehörigen Materials aus.
Die inhaltliche Spannweite der þættir ist groß. Es finden sich unter ihnen Entsprechungen zu allen Untergruppen der Sagas: den Isländersagas, den Königssagas, den Bischofssagas, den Vorzeitsagas usw. Dasselbe gilt für das stilistische Spektrum: So lassen sich Züge wie Anekdote, Schwank, Novelle, Legende, Märchen, Exempel, Märe, Fabliaus und andere Kurzformen beobachten, aber trotz all dieser Buntheit gibt der durchweg realistische Erzählgestus der ganzen Gattung doch ein einheitliches Gepräge. In ihr finden wir nebem dem þáttr von Audun noch viele weitere Perlen, die vom hohen Niveau der altisländischen Erzählkunst Zeugnis ablegen. Die Mühe, hier ein wenig auf Entdeckungsreise zu gehen, lohnt sich gewiß.
Bibliographische Hinweise
Anthony Faulkes, Introduction. In: Two Icelandic Stories. London 1967, S. 1–46
Ausführlicher setzen sich folgende drei Monographien mit dem þáttr auseinander: Joseph C. Harris, The King and the Icelander: a Study in the Short Narrative Forms of Old Icelandic Prose. Diss. Harvard 1969.
Zur Diskussion um die Gattungsproblematik sei auf folgende Arbeiten hingewiesen:
Joseph C. Harris, Genre and Narrative Structure in some Islendinga þættir. Scandinavian Studies 44, 1972, S. 1–27
Lars Lönnroth, The Concept of Genre in Saga Literature. Scandinavian Studies 47, 1975, S. 419–426
Theodore M. Andersson, Splitting the Saga. Ebenda, S. 437–441
Joseph C. Harris, Genre in the Saga Literature: a squib. Ebenda, S. 527–536
Ders., Theme and Genre in some Islendinga þættir. Scandinavian Studies 48, 1976, S. 1–28.
Kurt Schier, Sagaliteratur. Stuttgart 1970
Peter Hallberg, Die isländische Saga. Bad Homburg, Berlin, Zürich 1965.
Aus: Trajekt 5/1985, S. 100-108