Johannes Bobrowskis literarische Landschaft
Heiß willkommen die Fremden.
Du wirst ein Fremder sein. Bald.
(Johannes Bobrowski: Anruf)
Die Sprache findet sich vielleicht nur im Nicht-Gemeinsamen
Fremden Doch vielleicht entsteht sie, wieder und wieder, im Sprung
über die Abgründe
(Göran Sonnevi: Advent 2014, aus: Sekvenser mot Omega)
I
Marjampole ist eigentlich durch zwei Dinge bekannt, meint der Historiker Karl Schlögel: dafür, der geografische Mittelpunkt Europas zu sein, und dafür, einige Jahre nach 1991 als ein Zentrum für den osteuropäischen Handel mit Gebrauchtwagen fungiert zu haben. Mittelpunkt? Das hängt natürlich vom einbezogenen Messareal ab. Die Europäische Union mit Sitz in Brüssel hat festgelegt, dass der Mittelpunkt gut zwanzig Kilometer nördlich von Vilnius liegt, in Purnuškės, immer noch Litauen. Andere wollten die Zirkelspitze in Hranice einstechen, einem ländlichen Flecken in Tschechien, wo der Überlieferung zufolge der Schauplatz von Robert Musils Debüt Die Verwirrungen des Zöglings Törleß (1906) liegen soll. Doch in dem Fall reicht der Zirkel nicht bis zum Ural und nach Spitzbergen, sondern in den entsprechenden Himmelsrichtungen nur bis Sankt Petersburg und Trondheim.
All das ist wohl gedacht, um Marjampoles Bedeutung herunterzuspielen. Dort gibt es nämlich auch einen gut erhaltenen Bahnhof, eine asymmetrische Stilmischung an der Schwelle zur modernen Architektur, und außerdem läuft der Autoverkehr aus Moskau via Minsk nach Kaliningrad ebenso durch den Ort wie die östliche Verkehrsader, die Via Baltica, nach Mitteleuropa.
Während der deutschen Besatzung wurde hier nahezu die gesamte jüdische Einwohnerschaft ausgelöscht. Innerhalb eines Tages, am 1. September 1941, wurden in dieser Stadt auf dem flachen Land auf Befehl des SS-Standartenführers Karl Jäger und unter tatkräftiger Mithilfe litauischer Mitbürger 1763 männliche und 1812 weibliche Juden sowie 1404 jüdische Kinder (und 109 „Geisteskranke”) ermordet. Im Stadtzentrum sieht man heute eine stehengebliebene Synagoge, aber keine Gedenktafel für die Getöteten. Im zweiten Halbjahr 1941 belief sich sie Zahl ermordeter Juden in ganz Litauen auf annähernd 140 000; damit sah Jäger seinen Auftrag als erfüllt an. Es kamen noch einmal 80 000 hinzu. Es blieben nur noch wenige zu deportieren.
In einem Park vor der evangelisch-lutherischen Kirche steht eine Büste von Kristijonas Donelaitis (1714-1780). Ob der gelehrte Mann jemals seinen Fuß hierher setzte, ist unklar. Donelaitis (oder Christian Donalitius, wie er sich selbst zu schreiben pflegte) war ein Dorfpfarrer und Dichter aus Ostpreußen, der viele Sprachen beherrschte, seine Epik und Hexameterlyrik jedoch vornehmlich auf Litauisch verfasste. Etwa ein Drittel der Bevölkerung Ostpreußens sprach damals diese Sprache. Zu seinen Lebzeiten blieb sein Œuvre unveröffentlicht, ein Teil seiner Originalmanuskripte wurde in den Napoleonischen Kriegen zerstört. Doch ist klar ersichtlich, dass Donelaitis im Geist Johann Gottfried Herders schrieb, mit einem ausdrücklichen Fokus auf der Volkskultur. Herders Wohnort war Riga. Donelaitis erhielt seine Ausbildung in Königsberg. Er fertigte auch Thermometer und Barometer an, baute drei Klaviere und arbeitete als Linsenschleifer.
Seine Dichtkunst hat Musiker und Komponisten fasziniert. In Johannes Bobrowskis posthum erschienenem Roman Litauische Claviere spielt er eine wichtige Rolle als Schattengestalt, der erste Volksdichter. Man will aus seinen Werken eine Oper machen, aufgeführt werden soll sie in Tilsit, bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs noch eine deutsche Stadt. Tilsit, heute Sowetsk in der russischen Oblast Kaliningrad, war auch Bobrowskis Heimatstadt, in der er 1917 zur Welt kam. Allerdings heißt die Hohe Straße seit langem Ulitsa Pobedy, Siegesstraße, und die kleinen, roten Straßenbahnen fahren nicht mehr, eine von ihnen ist auf dem Leninplatz mit seiner riesengroßen Statue aufgestellt. Nicht weit davon sind Panzer zu sehen, die Kanonenrohre nach Osten gerichtet.
Der Roman spielt 1936. Vor dem Opernhaus setzt sich eine Landpartie in Bewegung, überquert erst einmal den Marktplatz, auf dem Töpferwaren, Fisch und ein etwas salziger Käse verkauft werden, wie man ihn heute noch, auch in Schweden, bekommen kann. Weiter geht es auf einer Schmalspurtrasse über die Brücke zum kleinen Örtchen Willkischken (litauisch Vilkyškiai) mit seinen etwas über tausend Einwohnern, wo einmal die Großmutter des Autors lebte.
Die eiserne Brücke über die Memel, den Grenzfluss, diese erst 1907 erbaute feste Verbindung, heißt noch immer nach der guten preußischen Königin Luise. Von der Eisenbahn allerdings keine Spur mehr. Auch das Wirtshaus in Willkischken, in dem sich ein handfester Streit zwischen den Einheimischen und großgermanischem Nationalismus anbahnt, gibt es nicht mehr. Die evangelische Kirche, zu Sowjetzeiten ein Getreidespeicher, wurde restauriert, auch die katholische, in einem Gebäude, das der jüdischen Textilfabrikantenfamilie Epstein gehörte, die vertrieben wurde und von der man seither nie wieder gehört hat, und das bis 1991 vom Geheimdienst für Verhöre genutzt wurde, ist der vorletzten Bestimmung zurückgegeben worden. Aber sieh an, fantastisch: Die von Norden in den Ort führende Straße, die wir genommen haben, trägt tatsächlich den Namen unseres Helden, des deutschen Dichters Johannes Bobrowski, Soldat in Hitlers Armee, fünf Jahre lang sowjetischer Kriegsgefangener in Kohlegruben (im Donezkbecken), gestorben 1965 in Ost-Berlin an einem Blinddarmdurchbruch. Bobrowski ist ebenfalls in Königsberg, dem heutigen Kaliningrad, zur Schule gegangen. Da lernte er, Orgel und Klavichord zu spielen. Um ihn geht es auf unserer Reise und in dieser Geschichte.
*
Litauen ist das Land der Hirsche und der Störche. Während man die Hirsche nur auf den Verkehrsschildern am Straßenrand sieht, begleiten einen die Störche überall in der Landschaft. Man sieht kleine Gruppen von ihnen hinter einem pflügenden Bauern, Storcheneltern, die auf Dachfirsten und Telefonmasten ihre frisch geschlüpften Jungen füttern. Es gibt hier viele Feuchtgebiete und Nebenflüsse der Memel. Gleich bei Willkischken fließt die sich schlängelnde Jura, die im Verlauf der Reise hier und da wieder auftauchen wird, wie bei Bobrowski:
Mein Kahn
folgt deinem Herzlaut, dem immer
jähen Wassergeräusch
unter der Kühle.
(Die Jura)
Der kleinste Wasserlauf ist genauestens markiert. Wir stellen den Motor ab und hören das Klappern von Storchenschnäbeln. Aber gewiss: Litauen ist auch ein Land der Fernfahrer; das merkten wir auf der Fähre von Karlshamn nach Klaipeda, auf der eine knuffige Maskulinität besonderer Art herrschte. Und der in diversen Farben und Farbnuancen gestrichenen Holzhäuser; die grün gestrichenen regen die Fantasie auf besondere Weise an, wie sie hinter dem Pflanzenbewuchs lauern und – sie mögen noch so heruntergekommen und zusammengeflickt sein – gegen die vergilbten Rasenstücke ihre Frische bewahren.
In seinen frühen Gedichten ist Bobrowski nahe bei Flora und Fauna. Er lauscht der Natur etwas ab, liest ihre Konturen. Überall sieht er den weißen Sand, überall sieht er Sand, Schotter, Staub vordringen und sich wie eine Decke entlang der Memelufer ablagern. Wie stark die Linden duften – stärker als die Autoabgase – in Schluchten und Alleen, entlang der Höhenzüge, am Rand der Maisfelder, an denen wir viel später entlangfahren. Bobrowski – der Name ist von einem Wort für Biber in den slawischen Sprachen abgeleitet, vermutlich gingen seine Vorväter der Jagd auf die Tiere nach – war auch einer, der auf dialektale Redensarten lauschte, auf die alten baltischen Mundarten. Obwohl die deutschen Herren dafür sorgten, dass das Altpreußische spätestens im 16. Jahrhundert ausstarb:
kaum mehr zu deuten,
Anruf der Vorzeit –
(Pruzzische Elegie)
Als ob man damals in der Nachfolge der Ordensritter noch immer die Heiden hätte bekämpfen müssen. Eine Strophe im Gedicht Christburg lautet:
Redend
um den Komtur
standen sie mit den schwarzen
Kreuzen. Galgen richtend
wurden sie heimisch
im Bernsteinland.
Das Ergebnis war Völkermord.
Nein, Herder kam definitiv zu spät. Er, der sammeln und systematisieren wollte, nicht ausrotten, der wünschte, dass Kulturen nebeneinander blühten und gediehen. Wie weiterhin Original und Fälschung auseinanderhalten? Und was ist heute übrig von diesem Reich, das sich von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer erstreckte?
In der Bernsteinstadt, die früher auch Memel hieß und von der das harzige Gold nach Venedig, Triest und Konstantinopel exportiert wurde, notierte ich kurz vor der Rückfahrt in meinem Block: „Auf der Lindenstraße im Zentrum von Klaipeda, die früher einmal Adolf-Hitler-Straße hieß, war an einem Sonntagmittag um Viertel nach zwölf von einem mit rotem Ziegelstein verklinkerten, rathausähnlichen Gebäude ein Glockenspiel zu hören, Chopins Regentropfen-Prélude in seiner ganzen Klangfülle, eingebettet in andere Melodien, das Ganze dauerte gut eine halbe Stunde, während der Scharen sommerlich gekleideter Touristen dem Konzert den Rücken zudrehten, um nur ja kein Wort ihrer unter dem Geschrei von Seevögeln vor sich gehenden Unterhaltungen zu verpassen.”
Doch jetzt zurück zur Poesie! Und zu den Vögeln. Ich habe versucht, ihre Zahl und ihre Arten zu bestimmen. Pirol, Eichelhäher, Elster, Lerche, Taube, Krähe, Eule, Kiebitz, Kranich, Adler, Wachtel (der kleinste Waldvogel), Kuckuck, Blauracke, Wiedehopf, Nachtigall, Möwe, Habicht, Wildente, Rabe, Reiher, Ziegenmelker, Fasan, Singschwan, Laubsänger (Fitis?), Golddrossel, Div. (?), doch wo ist der Storch? Oder war der Reiher womöglich ein Storch? Doch, bestimmt hebt sich da in einer von Bobrowskis späten Aufzeichnungen ein Storch in die Luft! Ich sehe eines dieser bunten Vogelplakate aus der Kindheit vor mir und fühle mich vertraut, vielleicht verzaubert, wie in schwedischer Landschaft. Dasselbe gilt für die Bäume. Eiche, Birke, Erle, Flieder, Kiefer, Fichte, Esche, Zeder, Weiden, Pappel, Pfirsichbaum, einige Male Linden. Und die Fische (Hering, Stichling, Hecht, Barsch, Aal) ebenso die vierbeinigen Säugetiere (Wolf, Pferd, Hund, Bär, Schwein, Katze, Otter, Rindvieh, Lamm – vermisse ich den Fuchs?). Spinnen, Fledermäuse, Kröten, Mäuse, Ratten, Schnecken, Bienen, Schmetterlinge und Grillen komplettieren das Bild. Es ist das Ostseeische, leicht als Peripherie anzusehen, aber vielleicht auch allzu leicht wohlwollend als Einheit zu betrachten. Das Deutsche und das Jüdische, das, was zusammenhielt, wo gibt es das noch außer in der schmerzlichen Erinnerung?
Bobrowski kehrte selbst als Soldat in die mythenumsponnene Region zurück, in der Deutsche, Litauer, Russen, Polen, Juden, Zigeuner lange zusammengelebt hatten – diesmal aber als Fremdling.
Im Gedicht Kaunas 1941 (die Hauptstadt in der Zwischenkriegszeit und das Jahr der Ausrottung) heißt es, die Ufer riefen aus der Tiefe:
Das hüftkranke Mädchen
trat vor die Dämmerung damals,
sein Rock aus dunkelstem Rot.
Und ich erkenne die Stufen,
den Hang, dieses Haus. Da ist kein
Feuer. Unter dem Dach
lebt die Jüdin, lebt in der Juden Verstummen,
flüsternd, ein weißes Wasser
der Töchter Gesicht. Am Tor
lärmen die Mörder vorüber. Weich
gehn wir, im Moderduft, in der Wölfe Spur.
Wie viele Schauplätze von Verbrechen sind seitdem verborgen? Die litauische Journalistin Rūta Vanagaitė hat in den Wäldern gesucht und Zeugen aufgespürt, Täter und Überlebende. Sie hat vierzig Hinrichtungsstätten aufgesucht, schätzungsweise ein Fünftel der Gesamtzahl. Die Nachwelt heute schlägt Flüstertöne an, spielt herunter, bemüht sich zu vergessen. Vanagaitės Vater kämpfte gegen sowjetische Besatzer und starb als Held im Gulag. Sie findet seine Akte in den Archiven und erschrickt: Er war einer von denen, die im Jahr 1941 Listen von Juden erstellt hatten. Ihre Landsleute wurden zu den schlimmsten Mördern, die Deutschen begrüßten sie als Befreier von „Bolschewiken und Juden”.
*
Bobrowski war Lutheraner. Nach Berlin kam er erstmals fünf Jahre nach der Machtergreifung, um zu studieren, am liebsten Kunstgeschichte, mit dem Ziel, im Museumsdienst zu arbeiten. Der Krieg setzte dem ein Ende. Auch in der Nazizeit gehörte Bobrowski der bekennenden Kirche an, einem Hort des Widerstands. Von väterlicher Seite floss Hugenottenblut in seinen Adern, sein Großvater war praktizierender Baptist. Auch später verließ Bobrowski seine konfessionelle Heimat nicht, sie war bis zu seinem frühen Tod auch in der DDR-Zeit zu merken. Er arbeitete als Lektor in einem ostdeutschen Verlag, doch überzeugter Kommunist wurde er nie. Als bei einem Fluchtversuch am Checkpoint Charlie ganz in der Nähe von Bobrowskis Arbeitsstätte im August 1962 ein junger Mann angeschossen wurde und verblutete, schrieb er:
Sie sehn, die dein Blut
forderten, sie sehen:
die Wunde eitert nicht aus.
(Stadt)
Seine eigenen Werke veröffentlichte er vor allem im Westen, aber auch im Osten. Unter den Dichtern, die er gern übersetzte, war Boris Pasternak. „Schwer in die literarische Öffentlichkeit einzuordnen”, resümierte der DDR-Forscher Werner Mittenzwei, selbst Parteimitglied, schmallippig. Schuld und Sühne sind Themen, denen er nie ausweicht, kommentiert Christa Wolfs Mann Gerhard. Das gilt auch für die eigene Schuld. In der Kurzgeschichte Rainfarn blickt der Autor in den Schlusszeilen selbstkritisch auf seine eigene dargestellte Passivität, als er eine mit Kisten und Körben beladene Familie zu Fuß über die Luisenbrücke gehen lässt, dabei begafft von deutschen Grenzwachen in Knobelbechern, während er selbst sich unsichtbar gemacht hat – unsichtbar in den eigenen Augen durch einen wiederbelebten Aberglauben –, indem er ein paar Dolden Rainfarn ins Hutband gesteckt hat, um nicht ins Tageslicht treten zu müssen. In die Memel hätte er sie werfen sollen. Und was hätte er später im Angesicht der Berliner Mauer tun sollen? Allein war er nicht in seinem zweifelnden Grübeln. Schon Gyges in Platos Staat konnte sich ja mit Hilfe seines Rings unsichtbar machen und ungestraft ungerechte Handlungen verüben.
II
Die Ufer des Stroms bestehen aus langen Streifen, die von jeglicher Bebauung verschont blieben. Es glitzert so schön auf dem Flusslauf. Man sieht keine Fischer, überhaupt keine Fahrzeuge, nirgends Badeplätze, keine Schwimmer, doch die eine oder andere Duckdalbe. Es lässt einen an die Flüsse in Norrland denken. Der Reisende betrachtet Memel meistens von oben, selten von der Seite. Wenn man dem Erzähler Bobrowski glauben darf, muss es jedenfalls gleich vor der Stadt hinter einem schütteren Kiefernwäldchen ein FKK-Bad für beide Geschlechter, eine deutsche Erfindung, gegeben haben, abgetrennt durch einen Bretterzaun mit zwei Reihen von Astlöchern für heimliche Beobachter verschiedener Altersstufen.
Was ließ sich in der Geburtsstadt des Autors noch mehr besichtigen, als das vorige Jahrhundert noch jung war? Vielleicht ein Herr Doktor Wilhelm Storost (1868-1953), bekannter unter seinem litauischen Verfassernamen Storostas-Vydūnas, ein klein gewachsener Herr und Vegetarier, der gerade an seinem Balkontisch saß, als ein plötzlicher Windstoß all seine Exzerpte mit sich riss und er ihnen auf die Straße nachlief, „seiner ganzen litauischen Geschichte, die er über den Tisch ausgebreitet hatte, mit Hunderten von Zetteln. Helft ihm, da ist vielleicht die litauische Geschichte in Gefahr.” (Rainfarn) Auch wenn es ihm in der Erzählung gelingt, seine Zettel wieder einzusammeln, befand sich seine Geschichte de facto in Gefahr. In seinen Forschungen ebenso wie in seinen literarischen Texten strebte Storost nach Ausgleich und Verständigung zwischen den verschiedenen Volksgruppen in diesem Mischungsraum; er schwärmte auch für die heidnischen Kulte, und sein Werk über litauisch-deutsche Koexistenz von 1932 war dem großgermanischen Revanchismus und seinen Machtambitionen natürlich ein Dorn im Auge. Das Buch wurde gleich im nächsten Jahr beschlagnahmt, und der vortreffliche Doktor landete für einige Monate im Kittchen. Johannes Bobrowskis Sympathie für ihn, wie auch für Donelaitis, ist nicht zu verkennen. Sie durchzieht seine Litauischen Claviere.
Im Roman wird Mittsommer gefeiert. Es ist etwa die gleiche Jahreszeit, zu der wir über die schmalen Straßen des Memellands fahren, auf das Deutschland im Versailler Vertrag 1919 verzichten musste – ebenfalls um Mittsommer. Es wurde erst unter internationale Kontrolle gestellt, dann 1923 von Litauen annektiert. Jahreszeitlich etwas später wurde 1807 auf einem Floß mitten auf dem Fluss ein Geheimvertrag zwischen dem Kaiser der Franzosen und dem Zaren geschlossen, eine Art früherer Hitler-Stalin-Pakt, der das schwedische Reich beträchtlich schrumpfen sollte. Das Haus in der heutigen Jurij-Gagarin-Straße, in dem Alexander I. damals für einige Wochen logierte, ziert heute eine Gedenktafel. Napoleon habe den stolzen Turm der deutschen Kirche mitnehmen wollen, behauptet Bobrowski, versehen mit „getrepptem Turm, viergeschossig, mit kupfernem Helm und doppelter Galerie, sehr schön”. Ja, die schwangere Königin Luise soll auch dagewesen sein, mehr schon als anekdotisch, setzt der Autor hinzu, um „Preußen zu retten” vor dem Welteroberer. Es klappte nicht ganz. Doch nach Borodino und Moskau überquerte der Franzose die Memel auf dem Rückzug erneut, als Geschlagener, und ließ die Kriegskasse in der Nähe auf dem Berg Rombinus vergraben. Mitte der 1990er Jahre, berichtet eine alte Bäuerin, beschloss die litauische Regierung, dort graben zu lassen. „Verständlich, der Staatssäckel ist leer.”
Doch jetzt, im Buch, schreiben wir das Jahr 1936. In Willkischken bereitet man ein Fest vor. Unten im Dorf ergehen sich die Deutschvaterländischen, Typen, die gern das Maul aufreißen, oben auf dem Rombinus entzündet die litauische Jugend ihre Feuer; es werden donnernd Reden geschwungen, es wird getanzt, uralte Mythen und Sagengestalten werden in Erinnerung gerufen, geradezu beschworen wie in Opferriten; Erkenntnisse aus archäologischen Grabungen sind in späterer Zeit hinzugekommen:
„Oben auf dem Berg, die Litauer, haben ihr Feuer schon hoch. Sie singen eine Weile. Das Feuer brennt über dem Stein, ruhig, nur manchmal greift der Wind von oben her in das offene Rund hinab und dreht die Flammen auseinander. Dann legen sich weiße Lichtbahnen, schnell, bis an die dichten Mauern der Fichtenstämme, an diese Palisadenwand, bis in die Büsche hinein. Und sind schon wieder fort, nur in den aufgehobenen Gesichtern bleibt es noch stehn, das Licht.
Einer hat zu erzählen angefangen, jetzt, wo die jungen Leute nach und nach den Berg hinab verschwinden und die Zurückbleibenden sich enger zusammen setzen: eine alte Geschichte, vom Mägdlein Neringa, das so stark und groß wurde, höher als die höchsten Fichten war, das die Wagen mitsamt den Pferden aus dem Dünensand heraushob und bei Sturm die Schiffe sicher ans Land brachte oder an der Kette in die schützende Mündung der Memel hineinzog. Mit allen Fischern an der Küste baute sie einen Damm gegen die Bosheit des neunköpfigen Meerdrachens Galwirdas, daß er sich nur noch im offenen Meer tummeln konnte, freilich jetzt mit doppelter Wut. Bis aus Schamaiten der Jäger Naglis kam, der den Drachen erschlug und Neringa heiratete. Da wurde eine Hochzeit gefeiert, von der man bis auf den heutigen Tag spricht, in Litauen. Wie auch noch heute der Damm nach dem Mägdlein Neringa benannt wird: Neringa, die Kurische Nehrung.” Wie lange sich doch der Kampf zwischen Magie und Mystik hinzog, so ausführlich geschildert in Keith Thomas' klassischer Studie Religion and the Decline of Magic (1971)! Das Pagane hält sich als eine Unterströmung oder als Alternative, die Beschwörung lebt Seite an Seite mit dem Gebet. Schamaiten in der Nordwestecke, latinisiert Samogitien, litauisch Žemaitija, jiddisch Zámet, war der als letzter christianisierte Teil des mittelalterlichen Herzogtums Litauen. Die nach der außergewöhnlich großgewachsenen Frau benannte schmale Halbinsel sollten nach und nach Scharen gut betuchter deutscher Touristen besuchen. Noch 1929 baute sich Thomas Mann dort in der „Sahara des Nordens” ein Sommerhaus. Doch musste er damals schon ein Visum mit sich führen. Das konnten die Deutschnationalen nicht hinnehmen. Sie wollten einen erneuerten Drang nach Osten und Norden, Gleichschaltung. Auf Krawall gebürstet.
*
Mittagszeit in der Kleinstadt Jurbarkas, der Wagen abgestellt, Zeit für eine Atempause und Reflexion. Von der Begegnung mit dem Deutschen ist nicht mehr viel zu sehen, weder hier noch anderswo. Doch Bobrowskis Dichtung ist selbst ein Ort der Begegnung, und er darf uns Reisende gern durch die mitgenommene Literatur führen. Na, denke ich zu Anfang, so bemerkenswert ist es vielleicht gar nicht, dass die Musik, sowohl die wortlose als auch die erdichtete, in seiner Poesie und Prosa einen so prominenten Platz einnimmt. Er spielte ja selbst Klavichord, Doktor Storost verdiente seinen Lebensunterhalt als Musiklehrer, Pastor Donelaitis baute Klaviere. Hirtenflöten hört man nicht unbedingt in Bobrowskis Erzählungen, die manchmal in einer Art Museum für Volkskultur zu spielen scheinen, aber doch Tuba, Kornett und Posaune – ja, ein wenig Birger-Sjöberg-Stimmung stellt sich zuweilen leicht ein. Bobrowski hat über Bach und über Mozart geschrieben. Der Dorfkantor von Willkischken jedoch zeigt sich nicht sonderlich begeistert von dem alten Meister: „Ist ja gewissermaßen alles heilig: eben Bach, aber wenn Sie mich fragen, da kann einer spielen wie die Engel: immer so hin und her, es hört sich an wie mit der Säge.” (Litauische Claviere)
Hat der Modernist Bobrowski da möglicherweise mehr mit Schostakowitsch gemein, der seine Präludien und Fugen komponierte, nachdem er das kriegszerstörte Leipzig besucht hatte, wo Johann Sebastian Bach so lange, lange wirkte? Trauermusik, Scherben eines schweren Schicksals, Schmerz eines Maschinenzeitalters, und darum nicht notwendigerweise weniger heilig.
Gerhard Wolf hat auf einige Züge hingewiesen, die für die Sprachbehandlung und Gestaltung des Prosaisten Bobrowski charakteristisch sind. Sehr oft sieht es so aus, als habe er für sein Erzählen gar keinen Plan: Er wiederholt sich (wie man in der Musik Motive wiederholt), er korrigiert sich selbst, improvisiert sich voran. Er bevorzugt einfache Hauptsätze, erzählt oft im Präsens. Bobrowski sucht die Nähe zur gesprochenen Sprache, manchmal das reinste Rotwelsch – er hat als Arbeitsgrundlage sogar ein deutsches Wörterbuch der Gaunersprache benutzt. Auf Anführungszeichen verzichtet er meist, die gibt es ja im mündlichen Vortrag auch nicht. Abschweifungen sind Legion. Mich selbst überrascht, wie oft er seine Texte mit Redewendungen und Sprichwörtern garniert („Wer nicht glaubt der wird nicht selig wer nicht mahlt der wird nicht mehlig”) oder auch mit Kinderreimen aus dem heimischen Liedgut. Nebensächlichkeiten und Nebenfiguren nehmen großen Platz ein, Beschreibungen von Vorgängen können zuweilen recht weitschweifig erscheinen – Wolf spricht von „epischer Umständlichkeit” und einer „intuitiven Erzählkunst”, wie Bobrowski sie bei dem Russen Isaak Babel bewunderte. Bobrowski möchte nicht in ein „Literaturdeutsch” verfallen, wie er selbst sagt; er scheut auch vor Jargon nicht zurück und neigt zu elliptischen Sätzen. Das Wort erhalten weniger die Helden der Geschichte als vielmehr deren Löwenzahnkinder oder Hinterbliebene.
„Nicht zuletzt daran”, notiere ich in mein schwarzes Moleskinheft, nachdem wir uns auf einem Platz in Jurbarkas in den Schatten gesetzt haben, „merkt man die Verbundenheit mit der Herderschen Tradition. Für diesen Denker konnte das kleinste Butterfässchen aus folkloristischen Beständen weit über den ethnografischen Zusammenhang hinaus Bedeutung haben, kein Gegenstand, keine sonderbare Idee war wichtiger als eine andere – eine Richtung, die bis in die moderne Forschung über Dinge und ihre Funktionalität vorgedrungen ist.”
Und wie im Folgenden etwa konnte Bobrowski zu fast so etwas wie einer Räuberpistole anheben, als ob sie sich noch im Entwurfsstadium befände. Im Wesentlichen handelt es sich um einen schwankenden Spaziergang, mit der Flasche in der Hand, zu einer Namenstagsfeier – ich bilde mir ein, dass sie irgendwo hier in der Gegend spielt, obwohl sie sich geografisch nicht genau ortsfest machen lässt.
„Er heißt Fingal. Herr Fingal. Er ist bekannt. Nächstens, schon morgen, denke ich, in ein paar Stunden also, hat er einen seiner vielen Namenstage. So viele Vornamen, so viele Namenstage. Sieben. Da geht er vorüber und trägt in der Hand einen leichten Hut und wendet sich zweimal um, geht weiter, sagt zu einem Spatzen: Gnädige Frau.
Fingals Behausung liegt vor der Stadt. Wo es ganz grün ist an einem grünen Bahndamm. Hier muß man sein, wenn es regnet. Wenn das Grün so vollständig und fest und schwer wird, daß man hinter das ganze Grün treten kann, auf die halbe Höhe des Berges hinaufgehn und sich umschauen und hinabblicken.
Nichts mehr erkennt man dann, höchstens dieses Monstrum von einem Haus dort unten, dem der Regen den Kalkanstrich abwäscht.”
(In Fingals Haus)
Benedikt und Veit, Hilarius, Arno, Bruno, Valentin und Cyprianus. Sieben Stück! Die alle von dem Literaten Fingal und seinen Freunden gefeiert werden sollen. Das sagt uns einiges, auch im Anschluss an Herder. Dass bei diesem Teil der Menschheit Geburt und Tod, Triumph und Niederlage etwas schnell Vergehendes sind, die Namen und Bezeichnungen, die du trägst, aber bestehen bleiben. Und auf einmal kommen mir all diese Namenstagsfeiern in der russischen Literatur in den Sinn, bei Dostojewski, Tolstoi, ja, auch bei Nabokov ...
*
Klaus Wagenbach, einer von Bobrowskis westdeutschen Verlegern (und im übrigen auch Ehrenvorsitzender der Internationalen Johannes-Bobrowski-Gesellschaft), teilt in einem Nachwort mit, dass Bobrowski schnell schrieb, mehrere Gedichte oder viele Seiten Prosa am Tag. An solchen Tagen schottete er sich ab, war „wortkarg und düster”, und arbeitete, dabei qualmend wie ein Schlot; nach außen hin schützte er, nicht sehr originell, eine Erkrankung vor. Dazwischen konnten Monate ohne eine Zeile vergehen.
Berufsschriftsteller wurde Johannes Bobrowski nie, dazu brachte er es nicht. Das eigentliche Debüt erfolgte 1961 mit der Gedichtsammlung Sarmatische Zeit. Seine ersten lyrischen Proben stammen aus dem Jahr 1941, als er auf dem Russlandfeldzug am Ilmen-See nahe Nowgorod mit der Natur Russlands konfrontiert wurde – und mit Chagalls Geburtsort Witebsk. Langer Anlauf, kurzer Rest. Seinen Durchbruch erzielte er 1960 mit einer Lesung vor der Gruppe 47. Für seinen Roman Levins Mühle. 34 Sätze über meinen Großvater von 1964 erhielt er viel Lob und Anerkennung, im Folgejahr wurde er mit dem Heinrich-Mann-Preis ausgezeichnet.
In einem kleinen Museum in Willkischken finden sich einige Gegenstände aus der Wohnung, die er 1938 in Berlin-Friedrichshagen bezog, grünes Vorstadtidyll mit Zügen seines Kindheitsmilieus. Dort gab es um die vorige Jahrhundertwende eine Dichter- und Künstlerkolonie, zu der zeitweilig auch Ola Hansson und (im Herbst 1892) August Strindberg gehörten. Im nahen Köpenick, wo sich die Spree seeartig verbreitert und Regatten stattfinden, hatten die wendischen Sprewanen ihre Burg, bis deutsche Markgrafen sie im 13. Jahrhundert unterwarfen und sie als Fischer und landloses, latent aufrührerisches Strandgesindel duldete. Kolonisation. Toleranz gab es nicht.
Bobrowski versuchte dort, halb im Spaß, einen neuen „Dichterkreis” zu gründen, in dem gute Literatur und gute Getränke zelebriert werden sollten.
III
Sarmatien nannten römische Geschichtsschreiber und Geographen die dünnbevölkerten Landstriche von der Weichsel bis zum Don. Die Ostsee hieß bei ihnen das Sarmatische Meer. Dort breitete sich das litauische Großreich aus. Kiew, Kursk, Minsk, Smolensk, bekannte Städte aus der modernen Kriegshistorie, liegen auf ihrem früheren Territorium. Dorthin zogen die vom Deutschen Orden verfolgten Juden. Im Spätmittelalter ging man eine Personalunion mit Polen ein. Das vorrückende Moskau eignete sich litauische Besitzungen an, und mit den Teilungen der „Doppelrepublik” im späteren 18. Jahrhundert fielen die restlichen Gebiete an Russland; Preußen und Österreich hielten sich im Westen und Süden schadlos. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde Polen Großmacht, Litauen ein Reststaat, Deutschland revanchistisch. Ein geeintes Baltikum zeichnete sich nicht ab. Die Nazis suchten dort Lebensraum.
Kommendes Blutvergießen wabert wie eine Vorahnung durch Johannes Bobrowskis kurze Erzählung Mäusefest, ein kleines Meisterwerk in der Kunst des Andeutens.
Der Zweite Weltkrieg ist zwei Tage alt. Deutsche Truppen sind in Polen einmarschiert. Der jüdische Schuster Moise Trumpeter lehnt in seinem Laden an der Wand. Er wartet auf die Strahlen des Mondes und darauf, dass die Mäuse auf den Tisch springen, tanzen und Brotrinden und Lederreste futtern. Da kommen sie. Das tun sie nach Ladenschluss immer. Die Türklingel läutet. Doch zwei Tage nach Ausbruch des Krieges tritt ein junger deutscher Soldat von siebzehn Jahren ein. Er verstummt, als er den Juden Deutsch sprechen hört, wenn auch mit jiddischen Brocken („Wenn Sie mechten hereintreten, Herr Leitnantleben”.) Die Mäuse verschwinden augenblicklich. Moise lädt den Jungen ein, Platz zu nehmen. Da kommen die Mäuse zurück und schmatzen weiter. Der Junge erhebt sich. Die Mäuse verschwinden wieder wie der Blitz, Mäuse können das. Der Junge verabschiedet sich nicht, als er geht. „Übliche Höflichkeit ist bei der Aussicht auf eine nächste Begegnung unmöglich geworden”, kommentiert der Bobrowski-Biograph John P. Wieczorek.
Was kann man machen? Die Deutschen sind gekommen, unzählig viele. Der Junge kam per Befehl hierher. Der Krieg ermöglicht ihm, in der Welt herumzukommen. Wird er auch England sehen? Zuhause hat er Eltern und Geschwister. Ein ganz gewöhnlicher Junge. Moise wartet auf das, was der Mond ihm sagen wird, und der Mond sagt:
„Weglaufen willst du nicht, verstecken willst du dich nicht, ach Moise. Das war ein Deutscher, das hast du doch gesehen. Sag mir bloß nicht, der Junge ist keiner, oder jedenfalls kein schlimmer. Das macht jetzt keinen Unterschied mehr. Wenn sie über Polen gekommen sind, wie wird es mit deinen Leuten gehn?” Moise hört zu und weiß, dass der Mond recht hat. Sein Gesicht wird weiß, es ist kaum noch von der ebenfalls weißen Wand hinter ihm zu unterscheiden. Moise – es klingt auf Deutsch wie Mäuschen! Aber es ist nicht die Zeit für Wunder oder um sich zu verdrücken. Wie der fromme Ostjude Mendel Singer in Joseph Roths Hiob. Roman eines einfachen Mannes (1930) stellt Moise fest: „Ich werd Ärger kriegen mit meinem Gott.” Ein Omen und eine Warnung vor kommendem Unglück, doch kaum stark genug, um sich zur Wehr zu setzen. Als Mendel Singer in New York endlich vom Wunder ereilt wurde, war er ein gebrochener Mann.
*
Der Vorzeichen hatte es genug gegeben. Das zu Ende gehende 19. Jahrhundert war im russischen Reich, zu dem Litauen gehörte, eine Ära der Pogrome. Und auch die Juden im Grenzland zwischen Ost und West bekamen es zu spüren. Sie wurden Opfer der damaligen Identitätspolitik, einer Art akzeptierter Kriminalität. Levins Mühle ist die Geschichte eines Verbrechens, sein Schauplatz eine Mühle, das Verbrechen ist allgemein bekannt, wird aber nie gerichtlich verfolgt. Es ist das übliche alte Lied (hätte Bobrowski sagen können). Korruption und Beziehungen. Deutsch-Polen: Das Kaiserreich hat nur noch ein paar Jahre zu leben. Ein großes und blühendes Dorf auf dem Land, irgendwo am Unterlauf der Weichsel, Neumühl, die Einwohnerschaft überwiegend deutsch. „Die Deutschen hießen Kaminski, Tomaschewski und Kossakowski, die Polen Lebrecht und Germann. Und so ist es nämlich auch gewesen.”
Der Großvater im Roman ist Mühlenbesitzer, wohlhabend und einflussreich, prominentes Freikirchenmitglied und dem Alkohol ergeben, mit einem gewaltigen Zwerchfell. Levin ist Jude und eröffnet eine konkurrierende Mühle. Er betreibt sein Geschäft auf moderne Art: bezahlt für das Getreide und verkauft das Mehl weiter; beim Großvater müssen die Bauern hingegen dafür zahlen, ihr Getreide gemahlen zu bekommen. Eines Nachts wird Levins Mühlendamm gesprengt. Jeder weiß, wer dahintersteckt. Levin ist bankrott und erstattet Anzeige. Der Großvater hat Geld und gegen andere etwas in der Hand. Die Beamten schauen weg. Der Prozess wird verschoben. Die Leute gehen in die Wirtschaft, in den Zirkus und zur Kirche. Verschiedene Glaubensrichtungen befehden einander oder gehen auf Distanz: Baptisten, Lutheraner, Adventisten, Sabbatarier, Methodisten, Mennoniten (vermutlich mit Wurzeln in Holland). Der Landstrich ist reich, auch an Armen. Einigen von ihnen, Levins Anhänger, wird das Haus niedergebrannt. Auch das ist das Werk des Großvaters. Gleichzeitig wird er Opfer einiger Gaukeleien in der örtlichen Gesellschaft, unter anderem während einer Zirkusvorstellung, die ein paar Streuner und Zigeuner inszeniert haben. Der Großvater verkauft seine Mühle, zieht in die nächste Stadt, während die Erben von ihm einen Anteil des Erlöses und die Geistlichen Schenkungen begehren.
Die Erzählung geht auf wahrhafte Begebenheiten in Bobrowskis Familiengeschichte zurück. Doch wie Wieczorek nachweisen kann, wurde der Großvater in Wirklichkeit ruiniert und musste nach Amerika auswandern. Levin wurde Wiedergutmachung zugesprochen. Westpreußen war kein Land ohne Recht und Gesetz. Spukt hier wieder einmal das Schuldbewusstsein des Autors?
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Über das Meer zurück zum Ausgangspunkt, an dem der junge Soldatenkönig Karl im Spätherbst des Jahres 1700 erneut seine Armee mobilisierte, einschiffte und nach Baltischport (Paldiski) an der Einfahrt zum Finnischen Meerbusen übersetzte, um in Eilmärschen auf Narwa vorzurücken, das Axel Oxenstierna als zweite Hauptstadt des schwedischen Reiches vorgeschwebt hatte. Die guten deutschsprachigen Bürger von Reval hatten einmal die schwedische Krone zum Schutz gegen die deutschen Ordensritter im Süden gerufen. Werner Bergengruen, in Riga geboren und schwedischer Abstammung, zeichnete ein Porträt des unglücklichen Herzogs de Croÿ, der am 20. November für Zar Peter die Schlacht verlor und sich einen Namen als Säufer und Aufschneider erwarb. In der Schiffsbar auf dem Weg in entgegengesetzter Richtung sehen wir das Debakel Deutschlands im Auftaktspiel der Fußball-WM in Russland. Ein zusammenklappbares Schachspiel gehört zur Ausstattung. Johann Georg Hamann (1730-1788), der „Magus im Norden” und Herders Lehrer, saß als Hafenbeamter grübelnd in Königsberg, ein Zweifler an der Vernunft der Aufklärung und am Universalismus. Er blickte über den Horizont:
Welt. Ich seh im Regen
weiß ein Gewölk. Ich bin’s.
Auf dem Pregel hinab
der Kahn. Aus den Nebeln. Welt.
Eine Hölle, da Gott inwohnt.
Welt. Ich sag mit Sancho:
Gott, ich sag: er versteht mich.
(Johannes Bobrowski: Hamann)
Dieser Essay wurde durch einen Zuschuss von Västra Götalands essäfond ermöglicht.