Die Angst des Kindes in Tomas Tranströmers "Ostseen"
Runmarö, eine Insel inmitten der Stockholmer Schären, war für Tomas Tranströmer der vielleicht wichtigste Fleck auf Erden. Von hier stammten seine Mutter und deren Eltern, die umso wichtiger für ihn waren, da er ohne Vater aufwuchs, was in den Vierziger- und Fünfzigerjahren durchaus ungewöhnlich war. So schreibt er in Die Erinnerungen sehen mich rückblickend über seine Kindheit als Dreijähriger: „Papa ist noch bei der Familie, wird sie aber bald verlassen.“1 Jeden einzelnen Sommer seines Lebens hat Tomas Tranströmer an der Ostsee verbracht, in dem blauen Haus auf Runmarö. Das Verhältnis zu seinem Großvater mütterlicherseits beschreibt er folgendermaßen: „Großvater, Carl Helmer Westerberg, wurde 1860 geboren. Er war Lotse und mein sehr enger Freund, 71 Jahre älter als ich“, und später: „Großvater sprach die Sprache des 19. Jahrhunderts. Viele Wendungen würden sich heute auffallend altertümlich ausnehmen. In seinem Munde und für mich klangen sie ganz natürlich.“ Der Großvater war ohne Zweifel eine wichtige Person in seiner Kindheit. Er wohnte direkt um die Ecke von Tomas und seiner Mutter im Stockholmer Stadtteil Södermalm.
Eines Abends, als Tomas Tranströmer fünf, sechs Jahre alt war und er mit seiner Mutter, die Grundschullehrerin war, ein Schulkonzert im Zentrum von Stockholm besucht hatte, erlebte er das, wovor Kinder sich am allermeisten fürchten: Tomas verlor in der Menschenmenge die Hand seiner Mutter. Er stand plötzlich allein da. Wohin sollte sich der kleine Tomas wenden? Im Dunkeln den Weg nach Hause zu finden, vom Stockholmer Zentrum bis nach Söder, war für einen kleinen Jungen eine große Herausforderung. Er kannte den Weg nicht, konnte sich aber an einzelne Bilder erinnern, die er durch das Busfenster gesehen hatte, auf dem Weg zum Konzert, als er auf dem Sitz neben seiner Mutter gekniet hatte. Er ging und ging, überquerte Straßen, ging immer weiter, einmal half ihm ein fremder Mann über die Straße, der anschließend aber wieder verschwand, und seitdem, schreibt Tranströmer, habe er sich gefragt, warum ihm damals kein Erwachsener geholfen hatte. Warum hatte es niemanden gegeben, der sich gefragt hatte, was ein kleiner Junge so spät am Abend allein auf der Straße machte? Tranströmer fand schließlich den Weg nach Hause, zum Haus in Södermalm. Dort erwartete ihn sein Großvater, seine Mutter hatte nach ihm gesucht und saß bei der Polizei: „Großvaters gute Nerven versagten nicht, er nahm mich ganz selbstverständlich in Empfang. Begreiflicherweise war er froh, aber er dramatisierte nicht. Alles war Geborgenheit und Natürlichkeit.“ Diese Wanderung durch die Nacht war Tranströmers erstes Erlebnis des Todes, schreibt er. Es scheint, als sei dieses Ereignis einschneidend gewesen für den Jungen, der Jahrzehnte später Dichter werden und das Leben versprachlichen, von Beruf Psychologe werden sollte: einer, der Menschen verstehen und ihnen dabei helfen will, einen Weg nach Hause zu finden.
Ich glaube, einige Haikus waren die ersten Gedichte, die ich von Tranströmer gelesen habe, herausgegeben in einem kleinen Heft mit dem Titel Fängelse (Gefängnis, 1959). Die Sprache war so schön wie im folgenden Haiku, in dem Tranströmer ein Bild von Erlösung zeichnet: Anwesenheit von Gott. / Im Tunnel des Vogelgesangs / wird ein verschlossenes Tor geöffnet.2 Vielleicht fühlte es sich genau so an, die Haustür in Söder zu erreichen, zu jener späten Stunde, nachdem der kleine Tomas die Hand seiner Mutter verloren hatte?
Als ich Tranströmers gesammelte Gedichte das erste Mal las, empfand ich sie beinahe alle als gleichwertig, die Stimmung der Gedichte gefärbt in nordischen Blau- oder Grautönen. Die Gedichte lösten in mir Assoziationen zum ehemaligen Osteuropa aus, zu den unbemalten, farblosen oder grauen Häusern, die aufgereiht draußen auf den Feldern standen, wie Grabsteine, damals, als Europa noch durch den Eisernen Vorhang geteilt war. Woher kam diese Assoziation? Können Gedichte innerhalb eines Gesamtwerks wie monotone Statuen auf einem Friedhof stehen und denselben Eindruck hinterlassen, den auch ein politisches System in dir hinterlässt? Waren es Erinnerungen an mein Aufwachsen in einem halbsozialistischen, ressourcenarmen Nachkriegs-Norwegen während des Wiederaufbaus, die durch die Gedichte zum Leben erweckt wurden? Oder war die in den Gedichten vorherrschende Farblosigkeit Ausdruck für etwas anderes, etwa für die latente Todesangst des lyrischen Ichs? Dass die Farben für einen Menschen verschwinden, verbinde ich mit dem Gefühl, vor Angst gelähmt zu sein. Inspiriert von zwei biographischen Büchern, Tranströmers autobiographischem Die Erinnerungen sehen mich und dem Buch Randgebiete der Arbeit, einer Sammlung zahlreicher Dokumente aus Tranströmers Privatarchiv, herausgegeben von Magnus Halldin, las ich die gesammelten Gedichte erneut. Nach dieser Lektüre erschienen mir sowohl der Dichter selbst als auch sein Werk in einem anderen Licht. Tranströmer wollte sein eigenes Ich nie zu sehr in den Vordergrund stellen, wollte andere nicht dominieren, sondern zu den Gewöhnlichen gehören, ein Teil von ihnen sein. Aber unter der Oberfläche der nüchternen, beinahe objektiven Sprache kam trotzdem ein markantes und leidenschaftliches künstlerisches Temperament zum Ausdruck. Es gab eine gewisse Unterströmung in seinem Gedichtsuniversum. Ich verstand Tranströmer jetzt als einen Dichter mit existenziellem Ernst und einem starken Ausdrucksbedürfnis. In Die Erinnerungen sehen mich spricht er selbst davon, dass ihn die Musik vor der Angst der frühen Schuljahre gerettet habe. Bedurfte er der Dichtung ebenso, wie er der Musik bedurfte?
Wenn Tranströmer Gedichte schreibt, wirkt es so, als wolle er das Gemeinsame unser aller Lebensbedingungen fassbar machen. Er scheint wie eine Person, die sich ihrer eigenen Einsamkeit bewusst ist. Als Dichter hat er zunächst nicht unbedingt den Blick des Sohnes auf seine Umwelt – als einer, der viel von Autoritäten fordert -, und auch nicht den Blick des Liebhabers, voller Begehren. Gewiss gibt es vereinzelt erotische Szenen in seinen Gedichten, aber das ist nicht das, worum es ihm geht. Er ist als Dichter auch nicht direkt väterlich, trägt aber doch Verantwortung wie sein Großvater. Das muss einer der Gründe dafür sein, warum er überall auf der Welt gelesen wird. Wir bekommen das Gefühl, dass er sich um uns sorgt. Als Leserin erkenne ich vieles, von dem er schreibt, in mir wieder: die Unsicherheit dem Leben gegenüber und die generelle Todesangst. Denn was bestimmt unser Leben mehr als unsere Sterblichkeit? Als Psychologe hatte Tranströmer Erfahrung darin, mit Menschen in Not zu sprechen, und wusste deshalb etwas Grundsätzliches über den Abgrund in uns allen, nicht nur über seinen eigenen.
Als ich seine gesammelten Gedichte dieses zweite Mal las, gab es ein Gedicht, das besonders herausstach, und zwar Ostseen. Der Text hat etwas Unmittelbares an sich. Die Sätze drohen zusammenzustürzen. Die Bruchstücke, aus denen das Gedicht besteht, erscheinen wie ein Versuch, ein Leben zusammenzuhalten. Der Dichter versucht, eine Welt festzuhalten, die sich aufzulösen droht. Als ob Tomas Tranströmer Lotse in seinem eigenen Leben werden musste, um sich zu behelfen. Er versucht die Erinnerungen festzuhalten, denn das Chaos droht von außen einzudringen. Die Gesellschaft, die er schildert, wir wissen nicht genau welche, hindert den Künstler daran, Gedichte zu schreiben und Musik zu machen: Bürger (stehen) unter Kontrolle.3 Es ist dunkel am Rande der Gedanken, im Raum, der die Sätze umschließt, und im Gespräch unter Freunden. Man darf nicht aus dem Blick verlieren, was am Rande des Gesprächs treibt: etwas Dunkles, ein dunkler Fleck. / Etwas, das hereintreiben / und alles zerstören kann. Hier wird das menschliche Ausgeliefertsein dargestellt. Die Angst gibt es auch in der Gegenwart. Wem kann das Ich vertrauen? Es ist, als hätte der Dichter Angst zu verschwinden, und auch davor, dass die anderen verschwinden, dass sie ausgelöscht werden. Die Angst ist im ganzen Text unterschwellig präsent: die Angst des Kindes in der Nacht, vor der Dunkelheit am Rande der Straße, am Rande des Traums, unter Freunden, bei Windgeräuschen und dem Anblick von Grabsteinen. Bildungsstätten wohnt ebenfalls eine unheimliche Stimmung inne: Die Todesvorlesungen fanden mehrere Semester lang statt. Ich besuchte sie / zusammen mit den Kameraden, die ich nicht kannte / (wer seid ihr?) / - später ging jeder seines Weges, Profile. Was wird hier kritisiert? Sind es die Marxismusdiskussionen, die in den 70er Jahren allgegenwärtig waren, sowohl in Norwegen als auch in Schweden, in den Medien, an den Universitäten und in der Literatur? Die Kameraden sind nur ferne, leere Profile. Die Angst des kleinen Kindes bestimmt den Grundtext bei Tranströmer. War es das, was ich wiedererkannt und beim ersten Lesen als so bedrückend empfunden hatte? Hat die Angst ihn sein ganzes Leben lang begleitet?
In Ostseen (1974) bedient sich Tranströmer der Montagetechnik. Oft im Medium Film verwendet, werden hier Dokumente, Tagebucheinträge, historische Quellen, Lyrik und Fotos vermischt, um den Eindruck von Objektivität zu vermitteln. Bei einer literarischen Montage muss sich der Autor selbst nicht zu erkennen geben. Die verschiedenen Blickwinkel ersetzen den Erzähler. Der Filmemacher Tarkovskij verwendete diese Methode in Der Spiegel – es gibt wohl keinen Film, den ich öfter gesehen habe. Tomas Tranströmer verwendet diese Technik auf dieselbe Weise in Ostseen: Der Dichter bleibt im Hintergrund. Warum? Will er die Quellen für sich sprechen lassen? Das Gedicht ist in sechs verschiedene Erfahrungswelten eingeteilt, die zusammen eine Einheit bilden. Tranströmer trägt Bilder von Menschen in einer Meereslandschaft zusammen. Wir erfahren etwas darüber, was ihnen im Leben wichtig ist. Das Zentrum des Gedichts ist die Insel draußen im Meer. Die Ostsee wird ein Bild für die Lebensbedingungen der Menschen, für den ausgelieferten, verletzlichen Zustand, in dem die Insulaner leben. Das übergeordnete Thema des Gedichts ist eine untergehende Welt. Ostseen handelt von Menschen, die ausgelöscht werden - ein Thema, das Tranströmer auch in späteren Gedichtsammlungen wieder aufnimmt, in För levande och döda (Für Lebende und Tote, 1989) und Sorgegondolen (Die Trauergondel, 1996). Die Künstlerproblematik zieht sich durch sein gesamtes Werk.
Die Figur des Lotsen spielt in Ostseen eine zentrale Rolle. Da sein Großvater als Lotse gearbeitet hat, ist dieser vielleicht wichtigste Freund aus Tranströmers Kindheitsjahren im Text stets präsent. Der Dichter vergleicht die Schiffsdampfmaschine mit einem menschlichen Herz: Die Compound-Maschine, langlebig wie ein Menschenherz, arbeitete / mit großen, weich federnden Bewegungen – stählerne Akrobaten, / und die Düfte steigen herauf wie aus einer Küche. Dass er ein Logbuch aus dem Jahr 1884 zitiert, vielleicht das seines Großvaters, schafft eine Nähe zur Arbeit des Lotsen. Tranströmer listet eine ganze Reihe von Schiffen auf, inklusive ihrer Namen, der Angabe des Tiefgangs und des jeweiligen Zielorts, um uns zu zeigen, dass er den Lotsen kennt. Er brachte sie in die Ostsee, durch das wunderbare Labyrinth von Inseln und Wasser. An Bord trafen sich Arbeiter aus unterschiedlichen Ländern, die einige Stunden oder Tage lang an Bord zusammenkamen und vom selben Schiffsrumpf getragen wurden, / wie gut lernten sie einander kennen? Die Sprachproblematik führte zu falschbuchstabiertem Englisch, Einverständnis und Mißverständnis, aber wenig bewußte(m) Lügen. Das mit den Lügen konnte ihm nur der Großvater erzählt haben. Seine Stimme ist für einen Augenblick stark präsent. Tranströmer fragt sich, wie sich ein Lotse im dichten Nebel unter heulenden Signalen zu jener Zeit zurechtfinden konnte? Die Antwort: Der Großvater wusste einfach: genau hier sind wir. Er kannte die Untiefen und Felsen in- und auswendig, sie waren memoriert wie Psalmenverse. Der Lotse hatte eine große Verantwortung. Er hielt das Schicksal der Menschen und der kostbaren Fracht in seinen Händen, während am Rande das Meeresdunkel lauerte. Nichts durfte verloren gehen. Tranströmer macht den Lotsen, seinen Großvater, zum Symbol für Sicherheit, als jemand, der uns vor der Dunkelheit des Meeres retten kann, die alles zu verschlingen droht; ja, wie ein Erlöser. War Tranströmer ein Mystiker?
Im Gedicht wird ein Schlaglicht auf die Angst der Fischersfrau um die Männer auf See geworfen. Sie ist seit dreißig Jahren tot. Die tote Fischersfrau und der Dichter gehen miteinander und lauschen gemeinsam. Die Ostsee rauscht. Sie bekommt Angst, wenn der Wind auffrischt, denn: Es rauscht drei Kinder gesund, eines im Sanatorium und zwei tot. Da betet sie zu Gott: errette mich, Herr, denn die Wasser gehen mir bis an den Leib. Etwas Dunkles treibt am Rande des Gesprächs. Etwas, das hereintreiben / und alles zerstören kann. Diesen Zustand mit einer drohenden Minenexplosion zu vergleichen, wäre zu handfest, meint der Dichter. Die Inselbewohner leben mit Gefahren und sind es gewohnt, mit Minen umzugehen. Nein, das, was die Lebenden und Toten im Gedicht umtreibt, ist der Meereswind, der über den Sand des Friedhofs fegt, an den Steinen vorbei, die sich neigen, mit den Namen der Lotsen. Es ist die Angst vor dem Tod durch Ertrinken, die sie umtreibt. Der Sturm trifft die Fischer draußen auf ihren kleinen, offenen Booten überraschend, manche werden gerettet, manche verschwinden unvermittelt in den Tiefen des Meeres. Und an Land sorgen sich die zurückgebliebenen Frauen: Kommt mein Mann heute Abend wieder zurück? Und mein Sohn, wo ist er? Der Dichter muss gesehen haben, wie die Menschen aus den schwach erleuchteten Häusern geströmt sind, um in der Dunkelheit nach Vermissten zu suchen.
Auf Gotland, der Insel mitten in der Ostsee, treffen wir erneut auf die Sorge der Fischersfrau. Hier gibt es keinen Ort ohne Gefahr. Nirgends Lee. Überall Gefahr. / Wie es war. Wie es ist. In der mittelalterlichen Kirche der Insel herrscht Frieden, aber außerhalb der Kirchenmauern tobt der Kampf ums Überleben. Auf einem Taufbecken aus dem 12. Jahrhundert, in einer dunklen Ecke, sieht der Dichter den Namen des Steinmetzen eingeritzt. Der Künstler hat einen Namen bekommen. Neben dem Steinmetzen nennt der Dichter zwei weitere Männer bei ihrem Namen: den Erlöser Christus, und Herodes – der alle Jungen unter zwei Jahren töten ließ, in der Hoffnung, so auch das Jesuskind zu töten. Sind es diese drei, zu denen wir uns laut dem lyrischen Ich verhalten sollen? Das Bauwerk des Künstlers, der Glaube Jesu und die Gewalt des Politikers? Der Dichter betrachtet die Menschen auf den Wandmalereien, es sind Trauben von Gesichtern, würdig und hilflos wie die von jungen Affen, Gestalten unterwegs aus dem Stein heraus. Ihre Blicke haben sowohl Böses als auch Gutes in sich. Er sieht Abbilder des Lebens, Menschen, Bestien, Ornamente. Es ist unheimlich. Nur drinnen ist Friede, im Wasser dort, das keiner sieht. Nur Gottes Gnade kann das Leid der Menschen lindern, aber darum können sie nicht beten, sie wird dir gegeben. Wird der Frieden im Tod erreicht? Und der Frieden kann tropfenweise kommen, vielleicht nachts, / wenn wir nichts wissen, / oder wie wenn man in einem Krankenzimmer am Tropf hängt. Da wir nicht wissen können, wann unser Leben endet, erschafft die Todesgewissheit eine unbestimmte Angst: man hat dünne Wände. Tranströmer geht es um Todesangst. Der Dichter erzählt die Geschichte einer politischen Flucht, die vor vielen Jahren auf Robben Island stattfand, um zu zeigen, dass auch die Natur selbst das menschliche Leid nicht lindern kann. Aber eine Landschaft mit Menschen, das sagt mir etwas. Das lyrische Ich betrachtet ein altes Foto von 1865, das eine Dampfschaluppe und eine Landschaft mit Menschen zeigt. Alle sind schön, zögernd, im Begriff, ausgelöscht zu werden. / Für kurze Zeit gehen sie an Land. Sie werden ausgelöscht. Nur das Abbild der Menschen bleibt übrig. Die Welt ist eine vergängliche. Menschen werden ausgelöscht und vergessen. Die Natur besteht fort, aber die Menschen werden ausgelöscht. Es ist nah. Es ist / heute. Er geht am Strand entlang: Die Zusammenfassung läßt sich nicht geben, die Zusammenfassung ist unmöglich. / Die Zusammenfassung ist die Alraune -. Warum spricht Tranströmer in diesem Zusammenhang von der Alraune? Infolge volkstümlicher Erzählungen stößt sie, wenn sie aus der Erde gerissen wird, einen Schrei aus, der so grauenvoll ist, dass die Menschen auf der Stelle tot umfallen. Der Hund mußte es tun …, schreibt Tranströmer in seinem Gedicht. Die Pflanze trägt Giftstoffe in sich und wurde seit der Antike als Betäubungsmittel und als Medizin verwendet. Die Wurzel erinnert in ihrer Form an einen Menschen und wurde im Mittelalter als Amulett getragen. Man glaubte, dass die Wurzel den Träger vor bösen Mächten schützen konnte und zu Wohlstand verhalf. Die Alraune musste laut Aberglauben bei Vollmond auf dem Friedhof oder am Galgenbalken ausgerissen werden. Sie banden einen Hund an die Pflanze, nahmen einen sicheren Abstand ein und riefen dann nach dem Hund, der so die Alraune ausriss. Anhand der mystischen Zeit des Aberglaubens auf Gotland, reflektiert der Dichter über den Tod durch alle Zeiten, und über die Angst der Menschen, entwurzelt und aus dem Leben gerissen zu werden.
Die Natur setzt den Rahmen des Gedichts. Es ist wohltuend, sich in den Tangwald zu legen, in das klare Wasser, und sich dort hineinsinken zu lassen: der Tang, der sich mit Luftblasen oben hält, wie wir uns mit Ideen oben halten. Das Wichtigste ist, dass die Menschen mit und in der Natur leben. Der Schreibende hätte nur zu gern ein Perpetuum mobile erfunden, das uns für immer dort bleiben ließe, aber im Dichter steht alles still. Und der Wind zerrt an allem. Selbst auf der Leeseite bläst der Wind so stark, dass sich die Flaggenschnüre verheddern: die Fahne, die vom Wind so zerrieben und von den Schornsteinen so verräuchert und von der Sonne so gebleicht ist, daß sie allen gehören kann. Die flatternde Fahne auf den Stegen der Insel bittet um nichts, wird unbedeutend wie ein Fetzen, verschlissen vom Wind kann sie alles bedeuten. Es gibt offenbar den Gedanken bei Tranströmer, dass, wenn alles der Allgemeinheit zugänglich gemacht und all das Glorifizierte entfernt würde, das einen Ausgangspunkt für Zwischenmenschliches bilden könnte, dass dann die Möglichkeit bestehen könnte, füreinander wirklich zu werden. Die Frage nach Besitzansprüchen wäre dann überflüssig. Trotzdem gibt es ein Aber, ein Hindernis für einen solchen Umgang auf der Insel. Es ist die Zeit des kalten Krieges. Die Inselbewohner werden von U-Booten und Soldaten überwacht. Die Ostseestrände sind in freie und unfreie Zonen eingeteilt. Das provoziert Ängste – denn wer sind die Anderen? Der Mensch leidet unter dem harten Willen der Macht, und der Gedanke daran dehnt das existenzielle Dunkle für Tranströmers lyrisches Ich aus. Gezwungen zu werden, unter einer fremden Macht zu leben, und ohne Gesetz verurteilt zu werden entspricht dem Ausgelöscht-Werden.
30. Juli. Tranströmer schreibt im Sommerhaus auf der Insel in sein Tagebuch. Die Quallen treiben wie Blumen nach einem Meeresbegräbnis im Wasser. Die Toten machen sich inmitten des flirrenden Sommerlebens bemerkbar. 2. August. Etwas will gesagt werden, aber die Worte lassen sich nicht darauf ein. / Etwas, das nicht gesagt werden kann, / Aphasie, / Worte gibt es nicht, aber vielleicht einen Stil… Das Gedicht will einfach nichts werden. Er wacht nachts auf, notiert ein paar Worte auf den Rand einer Zeitung und sie strahlen vor Bedeutung, aber als er am nächsten Morgen erwacht, ist der Glanz verschwunden. Die nächtlichen Visionen sind unübersetzbar. Die Worte sind wie Quallen, nimmt man sie aus dem Wasser, so verlieren sie jede Form, wie wenn eine unbeschreibbare Wahrheit aus dem Schweigen gehoben und zu totem Gelee formatiert wird, ja, sie sind unübersetzbar, sie müssen in ihrem Element bleiben. Auch am Rande des Traumes gibt es etwas Tödliches, Bedrohliches. Der Dichter reflektiert über einen Komponisten, der zunächst berühmt wird, aber dann von den Behörden plötzlich verurteilt und degradiert wird. Später, als er rehabilitiert wird, bekommt er eine Hirnblutung: rechtsseitige Hirnlähmung mit Aphasie, kann nur kurze Sätze erfassen, spricht verkehrte Worte. / Kann also nicht von Erhöhung oder Verurteilung betroffen werden. In der Gesellschaft, von der Tranströmer schreibt, stehen die Bürger unter Kontrolle, wird ihnen die künstlerische Freiheit genommen. Der Komponist wird von den Behörden verurteilt. (…) Er wird bedroht, abgesetzt, abgeschoben. In einem Gedicht schreibt der Dichter einen langen Brief an die Toten, aber auf einer Schreibmaschine ohne Farbband, nichts ist sichtbar, aber er schreibt dennoch. Sind die Toten die Einzigen, die hören? Die Kinder des Dichters sind ebenfalls im Sommerhaus, sie trauen sich nicht, allein im Zimmer in der oberen Etage zu schlafen. Inmitten der Gedanken zum Schreibprozess bekommt das ängstliche Kind einen Platz darin. Sucht der Dichter die Angst des Kindes in sich, wenn er schreibt? Am 3. August bewegen sich ein paar graugelbe Weinbergschnecken mit ihrem großen Haus auf dem Rücken durch das Gras, und der Dichter findet folgende Worte: Bruder Schneck / steht fast still im Gras, die Fühler werden eingezogen / und ausgerollt, Störungen und Zögern … / Wie er mir ähnelt in seinem Suchen! Das Gedicht für die Schnecke ist so zärtlich wie eine Liebeserklärung an einen geliebten Menschen.
Ostseen erschien im Original 1974, 16 Jahre bevor Tomas Tranströmer bei einem Schlaganfall 1990 sein Sprech- und Schreibvermögen verlor. Mit diesen Einschränkungen lebte er bis zu seinem Tod im Jahr 2015. Ich kann nicht anders, als zu sehen, dass er in Ostseen das Schreiben, die künstlerische Tätigkeit, an das Unsagbare knüpft: Daran, nicht sprechen zu können oder nicht die richtigen Worte zu finden. Ich sage nicht, dass er sein Schicksal hier bereits voraussieht, dass er eine Art Kassandra ist, die bereits sehen kann, was kommen wird, aber ich sage, dass er viel über die Grundbedingungen der Kunst nachgedacht hat und darüber, wie schwierig es ist, sich ausdrücken zu wollen, aber nicht in der Lage dazu zu sein.
Im letzten Teil des Gedichts ist der Dichter stark präsent: Großmutters Geschichte, ehe sie vergessen wird: ihre Eltern sterben jung, / der Vater zuerst. Als die Witwe fühlt, daß die Krankheit auch sie dahinraffen wird, / geht sie von Haus zu Haus, segelt von Insel zu Insel / mit ihrer Tochter: „Wer kann sich Marias annehmen.“ Ein fremdes Haus / auf der anderen Seite des Inselmeers nimmt sie auf. Dort können sie sich das leisten. / Doch die das konnten, waren nicht die Guten. Seine Großmutter arbeitet als junges Mädchen ohne Lohn als Dienstmädchen bei Fremden. Es ist still am Tisch, nur kontrollierende Blicke. Sie knabbert die Hechthaut so leise wie möglich. Sie will nur noch weg aus dieser Umzingelung, fort von dem Gefängnis, in dem sie lebt. Auf einem Foto sieht Tranströmer sie zusammen mit einem jungen Mann, der dem Dichter direkt in die Augen blickt und flüstert: „Hier bin ich.“ / Aber es gibt niemanden, der sich erinnert, / wer „ich“ ist. Niemand. Doch im Inneren des Dichters lebt die Großmutter. Ich erinnere mich an sie. Ich schmiegte mich an sie, / und im Augenblick des Todes (des Hinübergehens?) schickte sie einen Gedanken hinaus, / so daß ich – der Fünfjährige – begriff, was geschehen war, / eine halbe Stunde, ehe sie anriefen. Der warme Körper der Großmutter, an den er sich zu schmiegen pflegte, wurde in dem Augenblick präsent, als sie starb. Da ist der Dichter fünf Jahre alt. Das Schicksal der Großmutter wird knapp, aber doch ausführlich genug erzählt, dass wir uns in die verzweifelte, todkranke Mutter Marias hineinversetzen können, die so arm ist, dass sie darum flehen muss, dass sich jemand um ihre Tochter Maria kümmert, bevor sie stirbt. Hier liegt der eigentliche, vergrabene Schmerz. Der Schmerz des Kindes über den Verlust und das Verlassenwerden. Dieser Einschlag im Gedicht, dieser Mollakkord und nachtschwarze Grundton trifft mich als Leserin zutiefst, als würde ich selbst von Marias Schmerz betroffen sein. Indem er ihre Geschichte aufschreibt, schenkt Tranströmer ihr ein neues Leben. Sie wird niemals ausgelöscht werden. Am Schluss führt uns der Dichter zum ältesten Haus der Insel, wo die Dachziegel übereinander gerutscht sind, und zum jüdischen Friedhof in Prag, wo die Toten dichter aufeinander leben als im Leben (…) die Steine errichtet und eingesunken. Anders als die Großmutter, die dieser Umzingelung entfliehen wollte, sieht der Dichter diese Grabsteine als umzingelte Liebe, ein Bild für starken Zusammenhalt. Die einst so reiche jüdische Kultur in Prag ging verloren. Heute gibt es nur noch Grabsteine und Bücher wie die Franz Kafkas, die von Menschen zeugen, die diese Kultur erschaffen und gelebt haben. Ihre Welt ist untergegangen. Sie wurden zuerst ausgegrenzt und dann ausgelöscht. Das Schicksal des Kindes wird hier mit einem größeren, allgemeinen Schmerz verwoben.
Ostseen ist stilistisch stark; Tranströmer beherrscht das Handwerk des Dichtens. Die Sprache ist puristisch, mit einer gewissen Unterströmung. Das Leben seines Großvaters, des Lotsen, und das Schicksal seiner Großmutter müssen erzählt werden. Vielleicht wollte er ihnen auf diese Weise seine Liebe geben, indem er sie beide vor der Auslöschung bewahrt hat. Das Gedicht ist eine Hymne und eine Elegie auf Maria, seine Großmutter, und vielleicht erweitert er das Bild um Jungfrau Maria, eine ganz gewöhnliche Frau, die mit ansehen musste, wie ihr Sohn zwischen zwei Verbrechern für seinen Glauben gekreuzigt wurde. Maria von der Ostsee bleibt in Ostseen wortlos in ihrer Leidensgeschichte. Der Großvater fungiert als Symbol für Sicherheit und Stabilität. Seine Ruhe macht es möglich, dass das Schicksal der Großmutter erzählt werden kann. Sie konnte nicht wissen, dass ihr Enkel Dichter werden würde und das Gedicht über das Kind, das so viel Schmerz in sich trägt, in über 60 Sprachen gelesen werden würde. Tomas Tranströmer wählte seine Stilmittel klug; er wusste, dass es das Allgemeine ist, das trägt, quer durch alle Theorien, in allen Welten. Diese beiden, Großmutter und Großvater, repräsentieren für das Kind das Gegenteil von Angst. Diese beiden sind seine Menschen.
Warum verwendet Tranströmer den Plural Ostseen, gibt es nicht nur eine Ostsee? Es ist nur ein Meer, aber es ist das Meer vieler Menschen, Menschen mit unterschiedlichen Sprachen und Erfahrungen, die gemeinsam haben, dass sie an und von der Ostsee leben. In dem Gedicht To axion esti (Gepriesen sei) ruft der griechische Dichter Odyssevs Elytis alle griechischen Inseln an. Er fleht sie an, sich zu versammeln und sich der Militärdiktatur entgegenzustellen. In Omeros, einer karibischen Version der Ilias, schreibt Derek Walcott über die Menschen, die ihr Leben direkt am Meer, in den Strandzonen leben. Tranströmer gehört zu der Gruppe Dichter, die vom Rande her schreiben. Seamus Heaney aus Irland, auch ein Insulaner, und Josef Brodskij, der seinen Ausgangspunkt in St. Petersburg hatte, können auch in dieser Reihe genannt werden. Aber wo liegt das Zentrum? Die Geschichte in Ostseen wird von außen erzählt, über das Leben gewöhnlicher Menschen auf einer Insel. Der Dichter möchte ein Teil von ihnen sein. Die wiederkehrenden, kleinen Bewegungen des Alltags bilden das Zentrum des Gedichts, wie die Angst vor dem Ausgelöscht-Werden und der Dunkelheit am Rande. Wenn die Angst groß ist, kann sie sich durch ein ganzes Leben ziehen. Dann ist sie wie bei Tranströmers Großmutter Maria als eine bestimmte Stimmung stets präsent, als eine Unterströmung mit dunklem Klang. Wenn der Gesang des Dichters ausbricht, wie in Ostseen oder beim Duende im Flamencogesang, dann erreicht er uns. Das Kind Tomas, das Dichter wurde, trägt die Erzählung weiter. Wir als Leser sind dabei, wenn das Armutstabu erzählt und gebrochen wird und wenn der Dichter von der Last seiner Familiengeschichte erlöst wird. Indem er die Erzählung von der kleinen Maria, die niemand haben wollte, aufschreibt, macht er die tragischen Schicksale aller Menschen zu etwas Hymnischem und gleichzeitig zu etwas Greifbarem, wie ein mittelalterliches Gemälde oder ein Altarbild. So einfach, so fassbar.
1 Alle Übersetzungen der schwedischen Originalzitate aus Die Erinnerungen sehen mich stammen von Hanns Grössel. Aus: Tomas Tranströmer, Die Erinnerungen sehen mich. Aus dem Schwedischen von Hanns Grössel. Carl Hanser Verlag, München 1999.
2 Übersetzung von Hanns Grössel. Aus: Tomas Tranströmer, Sämtliche Gedichte. Aus dem Schwedischen von Hanns Grössel. 13. Aufl. 2020, Erstauflage 1997. Carl Hanser Verlag, München.
3 Alle Übersetzungen der schwedischen Originalzitate aus Ostseen stammen von Hanns Grössel. Aus: Tomas Tranströmer, Sämtliche Gedichte. Aus dem Schwedischen von Hanns Grössel. 13. Aufl. 2020 (Erstauflage 1997). Carl Hanser Verlag, München.