Die Insel Rügen als mythischer Ort Deutschlands

Die Insel Rügen steht in einer merkwürdigen Beziehung zu dem, was man ein deutsches Nationalgefühl nennen kann. Im ausgehenden 18. Jahrhundert wird Rügen von Dichtern und Denkern entdeckt als ein Ort, der sich wie kein zweiter dazu eignet, zum Raum nationaler Identifikation stilisiert zu werden.

Die im Gefolge der Französischen Revolution und der Napoleonischen Kriege auftretenden welthistorischen Umbrüche führen auch in Deutschland zu einem heftigen Auflodern der nationalen Frage. Das Heilige Römische Reich deutscher Nation liegt in Agonie, Deutschland ist in die Partikularinteressen der einzelnen Fürstentümer zersplittert. Mit der französischen Besatzung erfährt die Nation eine tiefe Demütigung, 1806 wird das alte Reich aufgelöst. In dieser historischen Situation tritt Rügen wie aus dem Nichts hervor und wird sehr schnell zu einer Kraftquelle für die verhinderte Nation. Die Insel wird zu einem Ort, an dem sich von der Einheit des Vaterlands in Freiheit träumen läßt. Gerade deshalb nimmt die Insel so rasch mythische Züge an, weil auf ihr nicht politisch agitiert, sondern sie im Gegenteil in ihrer ungeschichtlichen Entrücktheit belassen wird. Fern von nüchternen politischen Überlegungen, wird auf Rügen die nationale Einigung beschworen. Romantischer Freundschaftskult, Rückzug in die Innerlichkeit, Freiheitspathos und Todessehnsucht werden im Angesicht der rügenschen Kreidefelsen zu einem heiligen nationalen Gefühl verschmolzen. Der Ort Rügen dient einer Sakralisierung des Nationalgefühls. Die Nation wird heilig, die Stubbenkammer zum vaterländischen Altar.

Die tatsächliche Geschichte Rügens und die wechselnde politische Zugehörigkeit der Insel wurden von dieser metaphysisch überhöhten Nationalidee überlagert. Die zahlreichen Spuren vor- und frühgeschichtlicher Besiedlung, die der germanischen Rugier, der slawischen Ranen, dann die Herrschaft der dänischen Krone seit dem 12. Jahrhundert und die damit einhergehende Christianisierung, schließlich die Inbesitznahme der Insel durch Schweden im Zuge des Westfälischen Friedens von 1648 konnten allein durch die Vorstellung, daß die Deutschen die direkten Nachfahren der unbeugsamen Germanen seien, zu einer einzigen kohärenten nordisch-germanischen Geschichte Rügens umgedeutet werden. Der Umstand, daß die Insel zum Gebiet Schwedisch-Pommern gehörte und erst 1815 preußisch wird, hat also die Mythisierung des Ortes nicht aufgehalten. Im Gegenteil: Die geographische Lage, die Abgeschiedenheit als Insel, die herbe Natur und die kulturgeschichtlichen Zeugnisse germanischer Heldenvergangenheit machten die Insel geradezu zu einer exterritorialen Enklave wahren Deutschlands. Stilisiert zu einem Hort nationaler Vergangenheit, nationaler Landschaft und nationaler Tugend, konnte Rügen zum Urquell einer geeinten deutschen Nation erklärt werden.

Erst unter dieser nationalen Perspektive wird Rügen gegen Ende des 18. Jahrhunderts zu einem besonderen Ort. Es wird in einem doppelten Wortsinne regelrecht entdeckt. Der Entdecker Rügens und der Erfinder des Mythos ist der Theologe Ludwig Theobul Kosegarten. Mit siebzehn Jahren macht er sich nach Rügen auf. Ganz in der Tradition der großen Entdecker des 18. Jahrhunderts, Cook und Forster, empfindet sich der junge Kosegarten bei seiner Rügenreise als Entdecker eines neuartigen Nationlgefühls. Er vergleicht die Insel in ihrer sagenhaften Entrücktheit nicht nur mit der exotischen "Insel Taprobana", eine ältere Bezeichnung für Ceylon, sondern auch mit dem versunkenen Atlantis der Vorzeit. Mit dieser doppeltem Projektion in die Ferne des Raumes und in die Ferne der Zeit gewinnt Kosegarten sehr früh die Koordinaten für eine vaterländische Erneuerung: ähnlich den zeitgenössischen Weltumseglern, die sich aufmachten, um die letzten weißen Flecken auf dem Globus zu entdecken, bricht Kosegarten nach Rügen auf, um die Leerstelle eines deutschen Nationalempfindens auszufüllen:

"Darnach ist die Insel ein volles Jahrhundert hindurch so rein vergessen worden, daß, als ich 1775 als Student hierher kam, von ihr
gesprochen ward, als sey von der Insel Taprobana die Rede, und von gewissen Kreidebergen, die dort seyn sollten, wie von den
Magnetbergen der Fabel. Wittow vollends kannte kein Mensch, und als ich beschloß, eine Wanderung durch das Land zu machen, wußte
niemand mir anzugeben, wie das anzufangen sey. Als ich gleichwohl aufbrach, und nach vierzehntägiger Wanderung und manchem
Abenteuer zurückkam, verbrannt von der Sonne und fast abgerissen, ganz begeistert aber und wie betrunken, hat man mich angestaunt,
als käme ich aus der versunknen Atlantis zurück, oder aus einer der ägyptischen Oasen."1

Diese Entdeckung Rügens ist keine reale, aber es ist eine poetische Entdeckung Rügens, die 1775 beginnt und durch die die Landschaft der Kreidefelsen und der Hünengräber zu einer wilden ossianisch-vorgeschichtlichen transformiert wird. Ossian, der Homer des Nordens, stieg als poetisches Sprachrohr eines wilden, unverbildeten Volkes in der fremdartig-düsteren, nebelverhangenen Urnatur der schottischen highlands zum Urbild des Originalgenies schlechthin auf - für Klopstock, den jungen Goethe und sogar noch für die Romantiker. Ossian stellte das Gegenbild zum mediterranen Klassizismus dar. Kosegarten nun versuchte die Dichtungen Ossians national zu deuten und die Landschaft, die er als deutsche Entsprechung zum schottischen Hochland entdeckte, ist die Insel Rügen in der Ostsee.

Seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert stellen die Kreidefelsen, allen voran die Stubbenkammer mit Königstuhl und Herthasee, Rügens größte Attraktion dar. Als auffälliges Naturmonument lösen sie im sensiblen Betrachter heftige Emotionen aus. Mit dem Gedicht Ode über die Stubbenkammer gelang es dem achtzehnjährigen Kosegarten, Rügen zu einer Region von allgemeinem deutschen Interesse zu machen. Er beschreibt in dem überladenen Gedicht zunächst eine schaurige Begegnung mit dem düsteren Herthasee. Dann sieht das lyrische Ich das Meer durch die Buchen schimmern und begibt sich an den Rand der Kreidefelsen:

Ha Babel=Ufer! Schwindel packt
Den Nimmerschwindelnden vor dir,
Vor dir! Du spaltest dich,
Weils steil und schroff und scharf und glatt
Dreihundert Klaftern tief hinab,
Und trinkst die Meeresflut.

Dann steigt das lyrische Ich zum Ufer hinunter und beginnt einen sehr gefahrvollen Aufstieg an der glitschigen Felswand. Schließlich hat es die Höhe erreicht und bricht in eine Nationalschwärmerei aus, durch die die Kreidefelsen zu einem aufragenden Symbol des Vaterlands umgewidmet werden:

"Sey mir gegrüßt im Sonnenstrahl
Gegrüßt du kühn erklommner Fels,
Gegrüßt, o Königsstuhl!
Du meines deutschen Vaterlands
Erhabner Markstein, rufe fern
Dem Meerbewandler zu!

Steh still, du Meerbewandler! Steh
Und neig dein Haupt und beug dein Knie
Vor Deutschlands Herrlichkeit,
Denn groß ist Deutschland. Seine Kraft
Ist voll wie Meeresflut, und wild
Wie diese Uferwand.2

Damit erfindet Kosegarten die Stubbenkammer neu als Symbol einer Nationalreligion. Kosegarten findet in der Topographie der Insel Rügen weitere Stätten, die er in nationaler Weise aufladen kann: den Rugard, einen neunzig Meter hohen Berg, verwandelt er in eine ossianische Schreckenswelt und sehnt sich implizit - in einer Zeit politischer Agonie - bereits Freiheitskriege herbei. Dabei sollen die Hünengräber moralisch unterstützend wirken: all die germanischen Heldentugenden, die Kosegarten gedichthalber in die Hünengräber projiziert, sollen Kraft spenden im Kampf um die nationale Freiheit.

Kosegarten hat Rügen poetisch entdeckt. Er hat, indem er die Insel mit Deutschlandbegeisterung, sentimentalem Freundschaftskult und sogar schwärmerischen Jenseitsgedanken auflud, den Mythos der Insel Rügen begründet.

Kosegarten war bereits ein arrivierter Prediger und Dichter in Altenkirchen auf Rügen, als der neunundzwanzigjährige Wilhelm von Humboldt 1796 der Insel einen einmaligen Besuch abstattete.

Zunächst sucht Humboldt gemäß seinem klassischen gräkophilen Harmonieideal weniger nach dem Erhabenen als nach dem Amön-Schönen: in direktem Anklang an Quintilian entdeckt er vom Rugard aus oder in anderen Regionen bunte, malerische "lachende Anblicke", die nicht rügenspezifisch sind und seinen klassizistischen Sehgewohnheiten noch nicht zuwiderlaufen. Doch langsam beginnt er, am eigentümlich Nördlichen der Landschaft Geschmack zu finden: er klettert mühsam über rollende Steinlager ans Meer, probiert das Wasser, verliert lange den salzigen Geschmack nicht aus dem Munde und besucht Opferplätze und Hünengräber aus der heidnischen Zeit. Der Herthahain löst in ihm religiöse Gefühle aus, er empfindet die Stätte als heilig und ehrfurchtgebietend:

"Unläugbar ist indess der Wall von Menschenhänden gemacht, und da er unmöglich zu einer Festung irgend einer Art gedient haben kann, so sind See, Wall und Hain höchst wahrscheinlich zu irgend einem Gottesdienste bestimmt gewesen. Diess verstärkt den mächtigen Eindruck, den die wunderbare Natur dieses Platzes schon an sich nothwendig macht. Der einsame, nie bewegte, schwärzliche See, die dichten schön belaubten Buchen, die gänzliche Stille, die nur durch das Rasseln des tiefen Buchenlaubes unter den Füssen des Wandrers unterbrochen wird, und die geheimnisvolle Bedeutung des zwischen dem Wall und See eingeschlossnen Raumes versenken die Seele in einen heiligen und stillen Schauer. Schwerlich dürfte noch ein andrer Ort einen solchen Charakter der Heiligkeit und der Ehrfurcht an sich tragen."3

Die Einmaligkeit der Lage, wie aus einem stillen Zimmer oder Gehege durch ein Fenster in die Unendlichkeit des Meeres zu schauen, löst bei Humboldt Veredelungstendenzen aus. Er möchte den Herthahain der rohen und barbarischen Vorzeit entreißen und ihn der Sphäre der edlen Einfalt und stillen Größe zuschlagen. Humboldt versucht, den Herthasee aller Schauertopoi zu entkleiden und ihn zu einem Ort voll "stiller Ehrfurcht", "sanftem Frieden" und "frommer Heiligkeit" zu transformieren. Darin äußert sich Humboldts Anliegen, das edle Griechentum auf das Nordland mit seinen heidnisch-germanischen Vorfahren zu übertragen und damit die barbarische rohe Vorzeit der
Deutschen zu veredeln.

Aber der nachfolgende starke Eindruck der Stubbenkammer übersteigt die edle Einfalt und stille Größe; denn die archaischromantische Landschaft der Kreidefelsen löst in Humboldt das absolute Empfinden von Erhabenheit aus:

"Von der Herthaburg an steigt man noch immer höher und höher. Nach und nach sieht man die See durch die Bäume schimmern, und plötzlich steht man am Rande einer schwindelerregenden Tiefe im vollen Anblick derselben. Zwei fünftehalbhundert Fuss hohe Kreidewände lagern sich in vielfachen Säulen einander gegen über, und in der Oefnung die sie bilden, liegt das Meer vor dem Auge in seiner unermesslichen Grösse da. Diess ist die Stubbenkammer. Es ist nicht möglich einen einfacheren und erhabneren Anblick zu finden, eine blosse Oefnung ins Meer, aber die unendliche Ebne so frei und gross daliegend, und der Schauplatz, von dem man sie sieht, so kühn und fest gegründet, so wunderbar gestaltet durch die Ecken und Winkel der Felsen, so abstechend von Farben mit den weissen Kreidewänden gegen das blaue Meer, und so freundlich und schauervoll heilig durch den grünen, schattichten Wald, aus dem man nur so eben hervortritt. Lange bleibt man bei diesem Anblick stehn".4

Dieses sehr emphatische Kernstück der Humboldtschen Reisebeschreibung beeindruckt durch den unvergleichlichen Absolutheitsanspruch des Gesehenen: am Rande des "schwindelerregenden" Abgrunds stehend, also außerhalb der Gefahr, aber doch in ihrer Nähe, ist der Blick vom Unendlichen gebannt, wenn er durch die Kreideöffnung hindurch über das Meer schweift. Der auf die Superlative folgende Satz erstaunt nach der beteuerten Unvergleichlichkeit des Blicks von der Stubbenkammer durch fünf "so"-Bildungen ("so frei und groß daliegend", "so kühn und fest gegründet", "so wunderbar gestaltet", "so abstechend von Farben", "so freundlich und schauervoll heilig"), die beim Lesen eine Auflösung durch ein 'so - daß' oder ein 'so - wie' verlangen. Diese Auflösung aber bleibt Humboldt bewußt schuldig. Es gibt für ihn an dieser Stelle zu diesem Zeitpunkt keinen Vergleich, keine Metapher, keine Kausalität, so daß die "so"-Setzungen spannungsvoll unerlöst den Stubbenkammerblick verabsolutieren. Er weist auf nichts hin und nichts weist auf ihn hin. Nichts ist ihm ähnlich. Hier findet durchaus eine Sakralisierung des Ortes selbst statt, der auf nichts Höheres mehr verweist, sondern aus sich heraus "schauervoll heilige" Gefühle zu erzeugen vermag.

Durch den Briefwechsel zwischen Friedrich Schleiermacher und Henriette Herz erhält das Rügenbild eine neue Dimension: Rügen wird zum Losungswort für Freundschaftskult. Anders als die Reisebeschreibungen von Humboldt, die ja versucht hatten, ein plastisches Rügenbild zu entwerfen, formen Schleiermacher und Henriette Herz Rügen in sehr abstrakter, unanschaulicher Weise zu einem Schibboleth für emotionale Qualitäten um. Offenbar hatte sich um 1800, also fünfundzwanzig Jahre nach Kosegartens literarischer Entdeckung Rügens, die Insel und vor allem die Stubbenkammer bereits zu einem Mythos verfestigen können, mit dem sich religiöse, emotionale und nationale Bedürfnisse befriedigen ließen. Darauf konnten nun die Frühromantiker bereits bauen und Rügen zu einem reinen Gefühlswert stilisieren, der nur vermittelt der sinnlichen Erfahrung bedurfte.

Henriette Herz, die Salondame der Berliner Romantik, hatte Schleiermacher 1798 in ihrem Salon kennengelernt, und sofort entwickelte sich eine Freundschaft gleichgestimmter Seelen. Zusammen fuhren die beiden Freunde 1801 nach Prenzlau, wo sie den dreiundzwanzigjährigen Theologen Ehrenfried von Willich, der von Rügen stammte, kennen- und, als dritten im Bunde, unmittelbar liebenlernten. In seiner Religionsphilosophie propagiert Schleiermacher ein Höchstmaß an persönlicher Freiheit bei der Ausbildung der Individualität eines Jeden, und plädiert - in Ablehnung einer Staatskirche - für Zusammenkünfte Gleichgesinnter in privaten religiösen Gemeinschaften. Hier schreibt Schleiermacher sozusagen die religionsphilosophischen Bedingungen für seinen eigenen Freundschaftskult fest. Mit dem Dreierbund Schleiermacher - Herz - Willich im Jahre 1801 scheint Schleiermachers Bedürfnis nach engster Freundschaft in Erfüllung zu gehen. Aber bevor der Bund durch wechselweise schwärmerische Freundschaftsbeteuerungen in Redundanz hätte erstarren können, tritt eine vierte, räumliche Größe in die Dreiergemeinschaft: die Insel Rügen. Sie bietet sich als Projektionsfläche für jegliche Art von Sehnsucht und Schwärmerei an, und kann sogar zu einer verbindlichen religiösen Größe anwachsen.

Den Briefwechsel der drei Freunde durchzieht wie ein basso continuo der Plan, sich auf Rügen zu treffen und dort eine gemeinsame Zeit zu verbringen. Dieser Plan, der von Jahr zu Jahr aufs neue verschoben werden muß, wächst sich allmählich zu einer idee fixe aus. Um so begehrenswerter erscheint Rügen. Alles, was im Leben von Schleiermacher und Henriette Herz alltäglich, grau und widrig ist, findet in Rügen ein positives Gegenstück.

Schleiermacher bezeichnet den ersehnten Aufenthalt auf Rügen sehrnpathetisch als das "einzige Stück Leben", das er vor sich sieht, wodurch Rügen zusammen mit den Freunden zu einem exterritorialen Traumland anwächst:

"Du glaubst nicht, wie ich mich auf den Aufenthalt auf Rügen freue. Bei allem wunderlichen Wechsel in mir und um mich her ist das der
einzige feste Punkt, auf den ich seit langer Zeit und immer mit gleicher Freude hinsehe. Es ist das einzige Stück Leben, was ich vor
mir sehe, wie eine kleine Insel in dem öden Meere."5

Rügen wird also zur Gegenwelt von Welt im Sinne von Weltlichkeit. Rügen ist der heilige Bezirk, dessen Boden Henriette Herz küssen möchte, es ist die "wahre Heimat", ein irdisches Paradies:

"wenn ich an Rügen gedenke, so ist mir's, als dächte ich an meine wahre Heimat - ich glaube, daß ich mich auf den Boden legen und ihn
küssen würde, wenn ich die liebe Insel wieder einst betrete. [..] Wenn wir uns wieder an heiliger Stätte, auf Rügen, versammeln, dann soll er [ein Freund Schleiermachers, R.S.] mit dabeisein, denn er ist es wert, mit uns auf Stubbenkammer zu stehen und in die Unendlichkeit
hinauszusehen."6

Die Stubbenkammer ist das Allerheiligste, eine Art Sanktuarium, sie gewährt den Blick in die Unendlichkeit und wird dadurch und durch die Gemeinschaft gleichgesinnter Freunde zu einem religiösen Ort par excellence. Da die protestantische Kirche ohnehin wenige kultische Elemente in ihrer Liturgie vorsieht, kann hier außerhalb der Kirche und der Bibelexegese ein neuer Raum erobert werden, in dem sich ein perfekter natürlicher Gottesdienst feiern läßt, der alle Schleiermacherschen Bedingungen für die wahre Herzreligion erfüllt: die Aussicht ins Unendliche aus der engen Beschränkung und die Gemeinschaft seelenverwandter Freunde, die sowohl auf den Zinnen
des Tempels stehen als auch in die innersten Tiefen hinabblicken können.

Nachdem Schleiermacher selbst auf den Kreidefelsen gestanden hat, spricht er von einer Unendlichkeitsvision, die beinahe eine unio mystica der Freunde, eine mystische Vereinigung auslöst. So ist in der Folge immer vom "heiligen Fest auf Stubbenkammer" und dem "Fest unserer Vereinigung" die Rede. Nationale Schwärmerei findet sich - anders als bei Kosegarten - beim frühen Schleiermacher nicht. Erst ab 1806, in der Napoleonzeit also, und zwar weil Napoleon ein Gegner des Protestantismus war, predigte Schleiermacher die Hingabe für das Vaterland und bahnte somit die fatale Verbindung zwischen Protestantismus und Patriotismus an.

Die Sakralisierung einer Landschaft, dazu noch Deutschlands nördlichster Spitze, konnte sich bei Schleiermacher schließlich zu einer Sakralisierung der gesamten Nation auswachsen, wenn er seine Predigertätigkeit in Berlin ganz in den Dienst der preußisch-patriotischen Gesinnung stellte. Aus Mangel an Kult war das heilige Fest auf Stubbenkammer ein Ersatzgottesdienst geworden. Die Schilderung Rügens bleibt leer. Der Freundschaftskult, der beschworen wird, ergeht sich in Superlativen und Abstrakta. Worin die Erfüllung der Freundschaft, worin ihre herbeigeredeten Vereinigung besteht, bleibt unklar und verschwommen. Hier tut sich eine Leerstelle auf. Es ist die Nation, die in diese Leere plötzlich einbrechen kann und Erfüllung verspricht. Jetzt ist "Hingabe an das Vaterland" nicht mehr nur abstrakt, sondern verlangt Aktion: Schleiermacher engagierte sich 1813 bei der Werbung von Freiwilligen und dachte daran, als Feldprediger mit den Freiwilligen auszuziehen.

Nun ist an Stelle der unio mystica mit den Freunden die unio mystica mit der Gemeinde geworden, eine mystische Vereinigung, die sich nur über die verbindende Nation herstellt.

Mit Schleiermachers und Henriette Herz' romantisch-abstrakter Rügenschwärmerei ist ein Endpunkt erreicht. Und tatsächlich trat, bevor Rügen gänzlich zu einem bloßen Losungswort verdünnt werden konnte, eine neue Stimme in der deutschen Geisteslandschaft um 1805 hervor: die kraftvolle, anschauliche Stimme Ernst Moritz Arndts, für den Rügen nicht ein exterritoriales Traumland bedeutete, sondern der dort geboren und aufgewachsen war. Da Rügen für Arndt eine unmittelbar prägende Realität darstellte, konnte er die Insel seiner Kindheit und Jugend als junger Mann nicht romantisch verklären und überhöhen - von Stubbenkammerschwärmereien hielt er sich vollkommen fern - , sondern er widmete sich erstmalig als Vierunddreißigjähriger seiner Heimatinsel mit dem nüchternen Versuch einr Geschichte der Leibeigenschaft in Pommern und Rügen (1803). Arndt selber, Sohn eines freigelassenen Bauern, gelang sogar ab 1809 der Einlaß in die höchsten Kreise der preußischen und europäischen Diplomatie. An der Seite des Freiherrn von Stein wurde Arndt zwischen 1812 und 1815 zum populärsten Publizisten und Sänger für die Einheit und Freiheit der deutschen Nation.

Wie kam jemand, der in einem Kindheitsparadies, in der Idylle von Rügen, das politisch zu Schweden gehörte, aufgewachsen war, dazu, zum "eigentlichen Troubadour der deutschen Freiheitsbewegung"7 zu werden, zum 'Magier aus dem Norden' und zum 'Homer seiner Zeit'?

Tatsächlich stilisiert Arndt im Nachhinein Rügen zu einer Kraftquelle für sein gesamtes folgendes Leben, wo sich noch - passend zur wilden Natur und der heroischen Vorzeit der Hünengräber - kantige, originelle, urwüchsige Patriarchen aus dem Volke ungestutzt ausdehnen konnten. Von dem für Arndt wichtigsten, seinem Onkel, heißt es:

"Ich nenne den alten wackern Bauern poetisch und romantisch und sollte eigentlich dieses Ländchen Putbus so nennen, welches mit
seinen Hügeln, Wäldern, Hünengräbern, Grab- und Opfersteinen, Küsten, Inseln und Halbinseln selbst eine Romanze und ein Gedicht
ist."8

Vielen der auf Rügen verwurzelten "Ahnen" bescheinigt er "starkes, heißes Arndtsblut" und folgert:

"die Menschen waren damals ungebildeter, aber eigentümlicher, mannigfaltiger und poetischer als jetzt; das Naturgepräge war noch
nicht zur glatten Einerleiheit so abgeschliffen, man konnte mehr von ihnen lernen, mehr von ihnen haben."9

Arndt setzt sich damit von den üblichen Stoßseufzern seiner Zeit ab, die den Verlust der wahren Heroen der Vorzeit entweder angesichts der Überreste des klassischen Hellas' oder der nördlichen Hünengräber beklagen. Statt dessen führt Arndt vor, daß er noch direkten verwandtschaftlichen Umgang mit dem Riesengeschlecht einer anderen Zeitschicht hatte, das seine Kraft aus der wilden Natur Rügens bezog und Arndt selber mit einer so großen Mitgift versehen konnte, die ihn dazu befähigte, bekanntester Sänger der deutschen Nation zu werden.

Arndt wird zwischen seiner stillen Heimatinsel und den nationalen Kämpfen hin und hergerissen wie zwischen dem Schönen und dem Erhabenen. Dabei bleibt das Schöne der lieblichen Insel Rügen vorbehalten, die immer stärker zu einem Refugium für Träumereien, zu einer sentimentalen Etappe wird. Es scheint, als suche Arndt auf dem Rügen der Poesie Zuflucht vor den Kämpfen ums Vaterland, Rückzug in die private Abgeschiedenheit.

In der Restaurationszeit ab 1818 siegte der reaktionäre Geist über die "altständische Gesinnung eines Patrioten der ersten Stunde"10: Arndt erhielt, als er sich für die "Preßfreiheit" einsetzte, Lehrverbot, wurde wegen "demagogischer Umtriebe" verfolgt und zum "Staatsfeind" ernannt. In Bonn am Rhein beschäftigte er sich unter anderem mit der Übersetzung schwedischer, altenglischer und altschottischer Volkslieder und verfertigte, ganz in Ossian-Tradition, eine Monographie über die Orkney- und Shetlandinseln. Sein romantischer Traum von einem Sprachbündnis mit dem skandinavischen Norden und von einem pangermanischen Reich, das auch die skandinavischen Länder und die Niederlande umfassen sollte, zeigt ein letztes Mal, wie prägend sich die rügensche Herkunft auf Arndt auswirkte: von Rügen als Schnittmenge zwischen Schweden, deutscher Nation, germanischer Vorzeit und Protestantismus ausgehend suchte Arndt, während andere große Nationen nach Süden drängten, gedankenhalber den deutschen Platz an der nordischen Mitternachtssonne.

Rügen ist ein mythischer Identifikationsort der Deutschen. Die Sehnsucht nach kultureller und nationaler Identität fand in Rügen den Ort idealer Erfüllung. Als Mythos ist Rügen zunächst Text, der 1800 in seinen Grundzügen bereits formuliert ist. Dann findet er auch Ausdruck in der bildenden Kunst. Die Bildwerdung des Mythos folgt dem Text nach und setzt um die Jahrhundertwende ein. Sie ist untrennbar mit dem Namen Caspar David Friedrich verbunden. Wie Kosegarten nicht der einzige Schriftsteller gewesen ist, der die Mythisierung der Insel betrieb, so ist Friedrich beileibe nicht der einzige Maler, der sich Rügen zum Motiv nahm. Auch für Maler wie Philipp Hackert, Carl Gustav Carus, Friedrich Schinkel, Carl Blechen und Friedrich Preller d. Ä. wurde Rügen ein künstlerisches Thema. Aber wie Kosegartens Schriften den ersten und entscheidenden Kristallisationspunkt in der Literatur darstellen, so ist für die visuelle Gestaltung des Themas das Werk Caspar David Friedrichs ausschlaggebend gewesen. Tatsächlich war Rügen für Friedrich ein Lebensthema, und durch ihn wird Rügen als Mythos zum Bild.

Die Überhöhung der Landschaft Rügen, die visuelle Mythisierung, beginnt 1801. Im Sommer dieses Jahres zeichnet der siebenundzwanzigjährige Caspar David Friedrich erstmals eine Reihe von Inselansichten. Die zeitgenössische Kritik läßt keinen Zweifel daran, daß Friedrichs Bilder als eine neuartige Intensivierung von Landschaftsdarstellung und den damit verbundenen Stimmungen wahrgenommen wurde. Immer wieder wurde deren fluide Zartheit und verhaltene Innerlichkeit gepriesen.

Vermutlich um 1818 malte Caspar David Friedrich sein berühmtes Bild Kreidefelsen auf Rügen. Mit diesem Gemälde gelingt es Friedrich, die verschiedenen Aspekte des Rügenmythos - ursprüngliche nordische Natur, nationale Gemeinschaft, tiefe seelische Empfindungen - in einer Form der Latenz zusammenzufassen. Das Bild fügt dem Mythos nichts neues hinzu, aber es setzt ihn voraus. Die Leistung des Kunstwerks liegt allein darin, in seiner ästhetischen Struktur die Verfassung des Mythos zu reflektieren. Wie dieser ist das Bild Ausdruck unbestimmter Sehnsucht. Das Bild bleibt geradezu leer - es zeigt bloß einen Blick von den Kreidefelsen aufs Meer - , und diese Leere ist die Voraussetzung seiner ästhetischen Leistung. In der spannungsvollen Dramturgie des Bildes liegt seine Faszinationskraft. Tiefe und Schwindel, Ferne und Ruhe: das Bild hält beides bereit. Zwei verschiedene Perspektiven überlagern sich. Äußerst suggestiv vermittelt es den Sog nach unten und den Sog nach draußen.

Es ist ein Bild für das deutsche Bürgertum um 1820. Friedrichs Kreidefelsenbild stellt den Bezug auf die Natur als Kultur vor. Dabei handelt es sich um eine Naturerfahrung, die auf Ergriffenheit, Rührung und Erhebung zielt. Der Blick dieses Bildes gibt nicht den konkreten patriotischen oder religiösen Hoffnungen Ausdruck, sondern es bringt die nationalen Hoffnungen des Bürgertums in einer Form zum Ausdruck, die sie im Kern immer hatten: als Weltanschauung. Diese unpolitische Idealität ist für die bürgerrliche Schicht ein Mittel der Legitimation und der Abgrenzung. Gegen die Arbeit an der zivilisatorischen Diesseitigkeit stellt sie den idealistischen Protest, der in der Kunst seinen bevorzugten Ort findet.

Friedrich instrumentalisiert den Rügenmythos nicht für ein besonderes Anliegen. Ungleich subtiler faßt er ihn in seiner absoluten Struktur und verleiht ihm damit seinen übergeschichtlichen Anspruch. Die Kreidefelsen auf Rügen sind Summe und Höhepunkt des Rügenmythos und verleihen ihm ikonenhafte Gültigkeit.

Zum Abschluß sei noch Wilhelm Müllers Gedichtzyklus Muscheln von der Insel Rügen erwähnt, der nicht annähernd so bekannt ist wie seine vorhergegangenen Zyklen Die schöne Müllerin (1816-20) und vor allem Die Winterreise (1821-24), was sicherlich auch damit zusammenhängt, daß der Rügenzyklus nicht vertont wurde. Immerhin aber hat er auf Heines gleichzeitige Nordseebilder eingewirkt, denn dieser zitiert darin sogar Müllers Vineta-Gedicht. Außerdem bedankte sich Heine bei Müller für dessen Volksliedton - "wie rein, wie klar sind Ihre Lieder, und sämtliche sind es Volkslieder" - und gibt offen zu, daß seine, Heines, Gedichte ihren "geheimsten Tonfall Müllers Liedern verdanken."11
Seit Arnims und Brentanos Liedsammlung Des Knaben Wunderhorn (1808) galt das Volkslied auch als eine Möglichkeit, der erst im Entstehen begriffenen Nation eine allen zugängliche geistige Mitte zu geben, den Riß zwischen intellektueller Oberschicht und den unteren Ständen zu überwinden und im Gewand volkstümlicher Rollen auf subtile Weise persönliche Empfindungen preisgeben zu können.

Müller sucht mit seinem Zyklus nach Originalität. 1825 war es offenbar nicht mehr einfach, auf Rügen unmittelbare poetische Entdeckungen machen zu können, denn die Insel war bereits von verschiedensten ästhetischen Gebilden überformt worden: Kosegarten hatte die schönsten Stellen Rügens besungen, enthusiastische Reisebeschreibungen waren in seinem Gefolge entstanden, Rügen war dann zu einem Losungswort des Vaterländischen und des Innerlichkeitskultes avanciert, sogar eine Anthologie zu Rügen war entstanden, und Caspar David Friedrichs Bilder vom Meer, von Hünengräbern, von den Kreidefelsen hatten die Insel zu "Friedrichschen Landschaften" transformiert. Rügen war also ästhetisch okkupiert, und die Suche nach Unmittelbarem gestaltete sich immer schwieriger. So blieben für Müller nur andere Wege, einen Gedichtzyklus zu Rügen zu verfassen:

Der Gedichtzyklus spart enthusiastische Schilderungen der Stubbenkammer ebenso aus wie touristische Meeresschwärmereien. Statt dessen schlüpft Müller in die Rolle von Fischersfrauen, Schiffern, Kreidearbeitern und Volksmädchen, die in vermeintlich einfachen Liedern neuartige Kunde von der Insel Rügen geben. Hier spricht sich nicht ein Einzelner aus, sondern es ertönen Stimmen aus dem rügenschen Volke:

Der Gang von Wittow nach Jasmund

Verdammte lange schmale Heide!
Zu beiden Seiten brummt das Meer,
Versteckt in einem Aschenkleide,
Senkt sich der Himmel tief und schwer.

Im Wege liegen scharfe Steine
Und schneiden in die Sohlen mir –
Was Wunder, wenn ich seufz und weine,
Sooft ich scheiden muß von hier?

In Wittows weizengrünen Auen
Wohnt meine liebe Mähderin:
Ich muß auf Jasmund Kreide hauen,                                                                                                                                                                                                                                              Dieweil ein Taugenichts ich bin.

Und das letzte Gedicht des Zyklus, Der Adler auf Arkona, präsentiert derart unverhüllt, ja überraschend wuchtig, Müllers politische Forderung nach nationaler Einheit und Freiheit, daß diese durchaus auf den gesamten Zyklus zurückwirkt. Abgesehen von den Griechenliedern ist dieses Gedicht eines der politisch direktesten Müllers, und es ist sicherlich kein Zufall, daß es gerade auf Rügen angesiedelt wurde: Dem vaterländischen Mythos Rügens konnte und wollte sich offenbar niemand mehr entziehen.

Damit ist ein Endpunkt in der Gestaltung des Rügen-Mythos erreicht. Er wurde ausformuliert, erfuhr einen Höhepunkt mit Friedrichs Kreidefelsen und wird abgerundet durch Wilhelm Müllers Gedichtzyklus, einer Mischung aus lyrisch-schwebenden, verzweifelt-vaterländischen und neuen realistischen Tönen. Der Mythos ist vollständig. Jeder, der nun nach Rügen fuhr, wurde, ob er es wußte oder nicht, von diesem Mythos beeinflußt. Jeder, der eine ästhetische Stimme zu Rügen erheben wollte, mußte sich auch mit Kunstwerken auseinandersetzen und nicht mehr nur unmittelbar mit der Natur. Wer das dennoch tat, wurde zum Epigonen. Das ist der Grund, warum die Vielzahl an Texten und Bildern zu Rügen zunimmt, die Anzahl der qualitätvollen ästhetischen Produkte rapide abnimmt.

Nur eine allerletzte Stimme zu Rügen sei erwähnt: Theodor Fontane, der sich - über hundert Jahre nach der Entdeckung der mythischen Insel - mit seinem Roman Effi Briest (1889-1894) dem Rügenmythos radikal verweigert. Rügen wird als kurze Episode auf bloß vier Buchseiten abgehandelt. Auf Rügen beziehungsweise in Saßnitz angekommen, wird Effi in ihrer ganzen konventionellen Begeisterung vorgeführt:

"In bester Laune machten beide noch einen Abendspaziergang an dem Klippenstrande hin und sahen von einem Felsenvorsprung aus
auf die stille, vom Mondschein überzitterte Bucht. Effi war entzückt. "Ach, Geert, das ist ja Capri, das ist ja Sorrent. Ja, hier bleiben wir.""12

Doch bereits am nächsten Morgen zerfällt der triviale Zauber, als Effi den Namen eines benachbarten Dorfes erfährt, Crampas, der zufällig mit dem ihres früheren Liebhabers identisch ist. Vollkommen privatistisch wird dieser Ortsname für Effi zu einem Schrecknis, das noch von den Opfersteinen am düsteren Herthasee gesteigert wird. Rügen wird unmittelbar für Effi zu einem Albtraum. Sie will sofort aufbrechen, und zwar aus der dunklen, grausamen, niederdrückenden Welt Rügens in die schöne, helle, klassizistische Thorvaldsen-Welt Dänemarks hinein. Beim Ausblick aufs Meer von einem nahe der Stubbenkammer gelegenen Gasthaus aus unterhalten sich Effi und Instetten:

""Ich kann hier nicht bleiben." "Und gestern war es dir noch der Golf von Neapel und alles mögliche Schöne." "Ja, gestern." "Und heute? Heute keine Spur mehr von Sorrent?" "Eine Spur noch, aber auch nur eine Spur; es ist Sorrent, als ob es sterben wollte." "Gut dann, Effi", sagte Instetten und reichte ihr die Hand. "Ich will dich mit Rügen nicht quälen, und so geben wir's denn auf. Abgemacht. Es ist nicht nötig, daß wir uns an Stubbenkammer anklammern [..]" "[..] Hier ist mir, als ob ich in meinem Leben nicht mehr lachen könnte und überhaupt nie gelacht hätte, und du weißt doch, wie gern ich lache." Instetten zeigte sich voll Teilnahme mit ihrem Zustand, und das um so lieber, als er ihr in vielem recht gab. Es war wirklich alles schwermütig, so schön es war."13

Das ist die Negation des Rügen-Mythos'. Rügen wird zur Qual, die man fliehen muß. Man muß die Stubbenkammer loslassen, um nicht erdrückt zu werden. Mit dieser kleinen ironischen Rügenpirouette verabschiedet sich Fontane vom Mythos, der aber desungeachtet bis auf den heutigen Tag fortbesteht.14

1 Ludwig Kosegarten, zit. nach Karl Lappe: Mitgabe nach Rügen. Den Reisenden zur Begleitung und Erinnerung. Stralsund 1818, S. 92.

2 Ludwig Kosegarten: Ode über die Stubbenkammer, zit. nach J. C. F. Rellstab: Ausflucht nach der Insel Ruegen durch Meklenburg und Pommern. Berlin 1797, S. 90.

3 Wilhelm von Humboldt: Reisetagebücher. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Berlin 1916, Bd. 16, S. 284 f.

4 Wilhelm von Humboldt: Reisetagebücher. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Berlin 1916, Bd. 16, S. 286 f.

5 Bis nächstes Jahr auf Rügen. Briefe von Friedrich Schleiermacher und Henriette Herz an Ehrenfried von Willich 1801-1807. Hrsg. von Rainer Schmitz. Berlin 1984, S. 104 f.

6 Bis nächstes Jahr auf Rügen. Briefe von Friedrich Schleiermacher und Henriette Herz an Ehrenfried von Willich 1801-1807. Hrsg. von Rainer Schmitz. Berlin 1984, S. 135 f.

7 Gustav Sichelschmidt: Ernst Moritz Arndt. Berlin 1981, S. 13.

8 Ernst Moritz Arndt: Erinnerungen 1769-1815. Berlin 1985, S. 70.

9 Ernst Moritz Arndt: Erinnerungen 1796-1815. Berlin 1985, S. 72.

10 Rudolf Raxler: Ernst Moritz Arndt. Geist der Zeit. In: Kindlers neues Literaturlexikon. München 1988, Bd. 1, S. 724.

11 Heinrich Heine: Brief an Wilhelm Müller. In: Ders.: Sämtliche Schriften in 12 Bänden. Hrsg. von Klaus Brigleb. Frankfurt/M., Berlin, Wien 1981, Bd. 4, S. 808.

12 Theodor Fontane: Effi Briest. Frankfurt/M., Berlin 1988, S. 209.

13 Theodor Fontane: Effi Briest. Frankfurt/M., Berlin 1988, S. 212.

14  Diesem Aufsatz zugrunde liegt das Buch von Roswitha Schieb und Gregor Wedekind: Rügen. Deutschlands mythische Insel. Berlin Verlag, Berlin 1999.