Bekenntnis. Performative Produktion von Geschlechtsidentität und Gedächtnis in Tõnu Õnnepalus Roman "Im Grenzland"

In Michel Foucaults Werk ist das Geständnis eine Form der Unterwerfung im doppelten Sinne, entsprechend der doppelten Bedeutung des Wortes bei Foucault: Das Geständnis ermögliche den Prozess der Subjektwerdung, jedoch im Rahmen der vorherrschenden Formen von Subjektivität. Dadurch werde das bekennende Individuum diesen Formen unterworfen. Auch wenn Foucault das Geständnis in seinem späteren Werk als eine der Technologien des Selbst betrachtete, bleibt ein Spannungsverhältnis zwischen repressiven und produktiven Aspekten von Bekenntnispraktiken, zwischen dem Verlangen, zu gestehen, und dem Widerstand dagegen, in seinem Konzept der Erzeugung von Selbsterkenntnis und Subjektivität bestehen.

Foucaults Konzept des Geständnisses ist für jene Diskursgattungen von Bedeutung, die Leigh Gilmore als Texte mit „autobiografischem Motiv“i bezeichnet. Gekennzeichnet sind sie durch die Anwesenheit eines sich selbst darstellenden „Ichs“. Die Wichtigkeit, die viele Forschungsbereiche, einschließlich der Frauen- und der Traumaforschung, der Autobiografie und dem Memoir im Hinblick auf die Subjektwerdung beimessen, führt zu der Frage: Was würde es bedeuten, sich dem Bekenntnis zu widersetzen?

Ich werde in diesem Essay zunächst Judith Butlers Auseinandersetzung mit der Auffassung Foucaults vom Geständnis diskutieren, wobei ich mich vornehmlich auf die Frage nach dem Transformationspotential des Bekenntnisses in Bezug auf das bekennende Subjekt und auf bestehende Formen von Subjektivität konzentriere. Im zweiten Teil möchte ich das Zusammenspiel von dem Begehren, über sich selbst zu sprechen, und der Widerständigkeit dagegen, dies auf konventionelle Art und Weise zu tun, in dem Roman Im Grenzland von Tõnu Õnnepalu untersuchen.ii Im Roman wird das Geständnis eines queeren osteuropäischen Individuums inszeniert, dessen Selbstrepräsentation ohne die üblichen Hauptidentitätsmarker Name, Geschlecht und Nationalität auskommt. In Bezug auf die Repräsentation von Geschlechtsidentität und kulturellem Gedächtnis ist der Roman in zweifacher Hinsicht interessant: Zum einen möchte ich zeigen, wie die Ambiguität des Textes die Erzählfigur hinsichtlich des Geschlechts als Grenzgängerin des binären Geschlechtersystems und der Definition von Homo- und Heterosexualität positioniert. Ebenso komplex gestaltet sich das migrantische Dasein des Erzählers/der Erzählerin (im Weiteren auch: die Erzählfigur, A.d.Ü.) in der Metropole Paris durch die in dem Bekenntnis enthaltene Performanz von kulturellem Gedächtnis – als Alternative zum Identitätsmarker Nationalität – und verortet ihn/sie zwischen Nationen und Kulturen.

I. Das Geständnis bei Foucault und Butler

Im ersten Band seiner Geschichte von „Sexualität und Wahrheit“ verfolgt Foucault die Spur verschiedener Formen von Bekenntnispraktiken in der Spätmoderne – im Kontext von Justiz, Medizin und Pädagogik – bis zurück zum Ritual der Beichte in der christlichen Tradition. Laut Foucault erfüllen diese Praktiken den Zweck, Selbsterkenntnis in Übereinstimmung mit maßgeblichen Wahrheitsdiskursen zu erzeugen. Das Individuum hat sich „durch den Diskurs ausgewiesen, den es über sich selbst halten k[ann] oder mu[ss]. Das Geständnis der Wahrheit hat sich [daher] ins Herz der Verfahren eingeschrieben, durch die die Macht die Individualisierung betreibt.“iii Foucault betrachtet das Geständnis somit als eine Schnittstelle von Diskurs, Wahrheit und Unterwerfung, an der hegemoniale Formen von Subjektivität konstituiert werden.

In Kritik der ethischen Gewalt bewertet Judith Butler Foucaults Schriften über die Beichte im Rahmen ihres Ethik-Projekts neu und stellt heraus, dass Foucault in Vorlesungen und Interviews in den 1980er Jahren sein Denken über die Funktion von Bekenntnispraktiken für die Subjektbildung deutlich revidiert habe.iv Seine Meinungsänderung, so Butler, sei in Verbindung mit dem wachsenden Interesse Foucaults an Technologien des Selbst aufgetreten, die er definiert

als Techniken, die es dem Einzelnen ermöglichen, aus eigener Kraft oder mit Hilfe anderer eine Reihe von Operationen an seinem Körper oder seiner Seele, seinem Denken, seinem Verhalten und seiner Existenzweise vorzunehmen, mit dem Ziel, sich so zu verändern, daß er einen gewissen Zustand des Glücks, der Reinheit, der Weisheit, der Vollkommenheit oder der Unsterblichkeit erlangt.v

In diesem Kontext – und im Gegensatz zu seinem früheren Verständnis von der bezwingenden Macht des Bekenntnis-Modus – ist das Geständnis keine Form der Unterwerfung, sondern es ermöglicht dem Individuum, anders zu werden, sich zu wandeln.

Butler zufolge betont Foucault in seinem späteren Werk zur Beichte nicht mehr die Verinnerlichung des verordneten Diskurses, sondern legt das Hauptaugenmerk auf die „performative Produktion des Subjekts innerhalb feststehender öffentlicher Konventionen“.vi Die Manifestation des Selbst durch Verbalisierung wird hier zum Ziel des Bekenntnisses, wobei man sich „[einer] öffentlich gemachten Form des Erscheinens“ überlasse. Diese Manifestierung sei nicht als Ausdruck eines inneren Selbst zu verstehen, sondern als eine Praxis, die das Individuum transformiert und auf diese Weise neu konstituiert. Butler stellt heraus, dass „nicht einmal hier […] ein bereits konstituiertes Selbst enthüllt [wird], sondern es wird die Praxis der Selbstkonstitution selbst vollzogen“.vii Ihr zufolge ist ein öffentliches Auftreten nicht die künstliche, äußere Form eines inneren Selbst, sondern die einzige Art und Weise, ein erkennbares menschliches Subjekt zu sein.

Indem sie das Geständnis als eine ekstatische Bewegung hin zu einer öffentlichen Seinsweise versteht und in Bezug auf die Selbstkonstituierung die Dimension der Intersubjektivität in den Vordergrund rückt, fügt Butler den Überlegungen Foucaults einen wichtigen Aspekt hinzu.viii Im Geständnis, so ihre Argumentation, lässt man das Selbst einem anderen erscheinen. „Wenn Aussagen eine Form des Tuns [doing] ist“, so Butler, „wenn ein Teil dessen, was gemacht wird, das Selbst ist, dann ist das Gespräch eine Art, etwas gemeinsam zu machen und sich dabei zu verändern.“ix Die Transformation des eigenen Selbst spiele sich daher stets innerhalb des Anredemodus (scene of address) ab.x Die intersubjektive Dimension, für die sie nachdrücklich argumentiert, eröffnet Butler die Möglichkeit, das Begehren nach einem Bekenntnis primär als ein Begehren nach Anerkennung durch die Andere/den Anderen auszulegen.

Jedoch betrachtet Butler das Verhältnis zwischen dem Selbst und dem Anderen nicht als losgelöst von der Macht des Diskurses, sondern von einer „sozialen Dimension der Normativität, die den Schauplatz der Anerkennung beherrscht“, vermittelt.xi Wenn das Geständnis ein Weg ist, für andere erst in Erscheinung zu treten und zu existieren, so vollzieht sich dieses Erscheinen innerhalb eines festen Rahmens: in Gestalt eines von Butler – in Anlehnung an Foucault – so bezeichneten „Wahrheitsregimes“, das die verfügbaren Formen von Subjektivität festlegt. Während die gesellschaftlichen Normen, die es einem ermöglichen, ein anerkanntes Subjekt zu sein, nicht darüber bestimmen, wer man sein oder werden kann, wird im Geständnis doch jede Form des Werdens im Verhältnis zu diesen Normen ausgehandelt.xii

In Bezug auf das Geständnis scheint sowohl für Foucault als auch für Butler die Transformation der zentrale Punkt zu sein. Doch stellt sich die Frage der Transformation in ihren Schriften in unterschiedlicher, wenn auch aufeinander bezogener Weise. Einig sind sich beide offenbar darüber, dass das Selbst im Geständnis als performativem Sprechakt einen Wandel mit Bezug auf gesellschaftliche Normen vollzieht. Mit der Untersuchung verschiedener Technologien des Selbst zu unterschiedlichen Zeiten in der Geschichte ist Foucaults erklärtes Ziel allerdings die Entwicklung einer kritischen Philosophie, die die Möglichkeiten der Transformation des Subjekts erkundet. Die Transformation, von der er spricht, ist die Modifikation der sozialen Normen, auf die die Konstitution des Selbst angewiesen ist.xiii Er fragt,

ob wir überhaupt diese Hermeneutik des Selbst brauchen […] Vielleicht besteht unser Problem darin zu erkennen, dass das Selbst nichts ist als die geschichtliche Entsprechung dieser geschichtlich entstandenen Technologie. Vielleicht besteht unser Problem darin, diese Technologien zu ändern. […] In dem Fall bestünde eines der politischen Hauptprobleme unserer Zeit in der Politik unserer Selbst im eigentlichen Sinne des Wortes.xiv

Butlers Verständnis von der performativen Erzeugung des Subjekts im Bekenntnis hinein in die Sozialität interessiert sich nicht für diese größere historische Perspektive, wie Foucault sie eröffnet und die die Hermeneutik des Selbst als nur ein Mittel der Subjektbildung betrachtet. Ihre Eingriffe beschränken sich auf Foucaults Analyse bestimmter Formen der christlichen Hermeneutik des Selbst, in denen das Individuum zum Subjekt der Manifestation von Wahrheit auf Kosten des eigenen leiblichen Selbst wird. Butler hat recht, wenn sie hier ein Moment der Transformation erkennt, doch ist es nicht die Art von Transformation, von der bei Foucault die Rede ist. Er lehnt die Technologien der Hermeneutik des Selbst entschieden ab. Selbst wenn man Foucault in dem Sinne versteht, dass sich bei jedem Geständnis eine Transformation des Selbst vollziehe, ergibt sich aus seiner Argumentation ebenso, dass nicht jedes Geständnis die Wahrheitsregimes transformieren kann, auf die ein sich konstituierendes Selbst Bezug nimmt. Und sein Ziel ist es, zu dieser Transformation beizutragen.

Während Butler – wie Foucault – zugesteht, dass man sich selbst nur im Rahmen historischer Ausformungen von Subjektivität thematisieren und transformieren kann, was die „Aussetzung eines kritischen Verhältnisses zu dem Wahrheitsregime, in dem wir leben,“xv erfordert, setzt sie auf die Möglichkeit einer Veränderung des Wahrheitsregimes von innen heraus: durch ein Bekenntnis, das den Konventionen des Sprechens über sich selbst zu trotzen versucht. Das ist keine leichte Aufgabe. Butler räumt ein, dass das eigene Selbst dabei zwangsläufig gefährdet sei, da es auf die eigene Fähigkeit, einen Rechenschaftsbericht über sich selbst abzulegen und als menschliches Subjekt erkennbar zu werden, ankomme.xvi Die Frage, was mithilfe des Bekenntnisses machbar ist und was nicht, erinnert an die kritische Fragestellung Linda Nicholsons hinsichtlich Butlers Theorie der Gender-Performativität generell, nämlich wie Iterationen, die neue Bedeutungen entstehen lassen, von denjenigen zu unterscheiden sind, die die bestehenden Gender-Konfigurationen unverändert wiederholen.xvii

Die nun folgende Analyse des Romans Im Grenzland untersucht die Widerständigkeit gegenüber konventionellen Formen des Lebensberichts und, damit einhergehend, gegenüber dem Wahrheitsregime, das die Subjektbildung beherrscht. Die Erzählfigur in Im Grenzland kann sich selbst unter den Zuschreibungen des vorherrschenden Wahrheitsregimes nicht anerkennen, was ein Bekenntnis auslöst, das versucht, jemandes Geschichte ohne die traditionellen Identitätsmerkmale Name, Geschlecht und Nationalität zu erzählen. Meiner Interpretation des Romans liegen zwei miteinander verbundene Fragestellungen zugrunde: Erstens, was bewirkt ein Experiment mit konventionellen Formen des Sprechens über sich selbst für die Erzählende/den Erzählenden? Bei der Beantwortung dieser Frage geht meine Argumentation implizit auf eine Debatte über das Verhältnis zwischen Narrativ und Selbstheit in der Philosophie und der Erzähltheorie ein. Wenn die bekennende Erzählung als ein performativer Akt der Transformation des Selbst verstanden werden kann, besteht dieser Akt dann in der Konstruktion eines kohärenten Selbst in der Sprache, oder macht die Sprache etwas ganz anderes mit dem Selbst? Zweitens, wie gelingt es mit dieser Art des Bekenntnisses, das Wahrheitsregime und Formen von Subjektivität in Frage zu stellen und zu verändern?

Verbrechen und Geständnis in Im Grenzland

In Tõnu Õnnepalus Roman Im Grenzland legt ein Lyrikübersetzerin/eine Lyrikübersetzerin, der/die nach dem Zerfall der Sowjetunion sein/ihr Land verlässt und nach Paris reist, ein Geständnis in Briefen ab, die sie/er an jemanden namens Angelo schreibt. Das Geständnis ist von einem verzweifelten Bedürfnis zu reden gekennzeichnet: „Ständig [denke ich] über das Geständnis [nach], das ich ablegen muß, über die Worte, die ich [über mich als Mensch] zu sagen habe über mein Erdenleben und mein nichtiges Verbrechen …“.xviii Doch ist zugleich ein Widerstand gegen eine Selbstoffenbarung enthalten, wie die folgende Beschreibung des Verlangens nach einem Bekenntnis zeigt:

Was wäre süßer als ein Opfer zu finden, es in die Ecke zu drücken und seine eigene kleine Geschichte hervorzukramen ... Sein eigenes Leben Stück für Stück auf den Tresen zu legen, alle die Wünsche, Träume, Missetaten und Komplexe. Vielleicht will einer das ja haben, zum halben Preis oder auch ganz umsonst! Schau, das ist meine Geschichte, erzähl sie genauso weiter, zum Andenken an mich: „Ich …“ (S. 22).

In einer ironischen Wendung steht das „Ich“, das den bekennenden Bericht üblicherweise einleitet, hier allein, gefolgt von einer Ellipse, die dieses „Ich“ zu einer Synekdoche macht, die für die gesamte Geschichte steht. Worüber die Erzählfigur sich hiermit mokiert, ist der Wunsch nach konventioneller Bekenntnisliteratur in der Erinnerung an vergangene Taten, die mit linearer Kausalität erzählt werden und dadurch die Identität des „Ich“ postulieren und festlegen. Wie ich im Verlauf meiner Analyse herausstellen werde, ist ein solches Identitätsnarrativ des Selbst durch einen linearen Rückgriff auf die eigene Vergangenheit nicht Ziel des Bekenntnisses, das die Erzählfigur in Im Grenzland abzulegen beginnt. Ihre Erzählung zeugt dagegen von dem Wunsch, „vorwärts zu erinnern“, einen Raum für neue Formen von Subjektivität zu eröffnen, die aktuell noch undenkbar sind.

Die Erzählfigur verspricht Angelo, ihm ihre Geschichte zu erzählen, ist jedoch unsicher, ob sie überhaupt eine hat, denn sie sagt, dass ihr nie etwas widerfahren sei:

… mein Leben war immer genau das gleiche. Gewiß, ich erinnere mich an Landschaften, Räume und Menschen, aber mein eigenes Leben inmitten all dessen ist wie ein karges Zimmer: ein paar dürftige Möbel, wie man sie überall antrifft, Tag und Nacht, die einander abwechseln wie anderswo auch, unterschiedliches Licht zu unterschiedlichen Jahreszeiten, Tapeten, die nach und nach ausbleichen … (S. 23)

Eine ähnliche Aussage wird in einem Absatz getroffen, der das Leben der Erzählfigur mit dem Gemälde „Boudoir“ von Matisse vergleicht, das sie in einem Pariser Museum gesehen hat: Die Farben sind ausgebleicht und verblasst, das Bild ist mit wenigen blassen Strichen gezeichnet. Die Geschichte, die die Erzählfigur nicht zu haben behauptet, ist eine Geschichte der Ereignisse und Persönlichkeiten. Paul Ricœurs Theorie der narrativen Identität zufolge ist die Identität des Selbst abhängig von der Identität der Handlung, die wiederum auf der narrativen Konfiguration von Ereignissen beruht.xix So weist das Fehlen einer aus Ereignissen bestehenden Geschichte hier auf die fehlende Bereitschaft und Unfähigkeit der Erzählfigur hin, sich selbst durch ein Identitätsnarrativ zu definieren und konstituieren.

Der „alternative“ Bekenntnismodus in diesem Roman zeigt sich in dem eigenartigen Bericht der Erzählfigur über ihren Mord an ihrem Geliebten Franz, einem französischen Philosophie-Professor, den sie in Paris kennengelernt hat. Die Erzählfigur kommt immer wieder auf den Augenblick des mutmaßlichen Verbrechens zu sprechen, stellt es aber nie unmittelbar dar. Sie erwähnt Franz‘ Nachruf, der in einer Zeitung stand, und beschreibt wiederholt den Moment, in dem sie spürte, „es tun“ zu müssen, in dem sie beschloss, „es zu tun“, den Moment, in dem „alles vorbei war“ – ohne einen Hinweis zu geben, was mit „es“ gemeint ist. Mit dieser Erzählstrategie des wiederholten, wenn auch nur angedeuteten Verweises wird dem dramatischen Ereignis der Ereignischarakter genommen; es bleibt unklar und ungewiss.

Im Spiel mit den Erzählkonventionen der Bekenntnisliteratur kündigt die Erzählfigur eine Rückkehr zu dem Punkt an, an dem die den Mord verursachenden Ereignisse ihren Ausgang nahmen, und erklärt: „Aber zunächst […] muß ich der Reihenfolge und vielleicht auch der Wichtigkeit nach erzählen, angefangen mit den ersten, die sich dann im Leben wiederholen wie ein monotoner Refrain“ (S. 22). Entgegen narrativen Konventionen, die die Erzählung von Motiven, Ursachen und Wirkungen in dem Mord gipfeln lassen würden, verspricht sie eine lineare Erzählung, um dann eine Geschichte zu liefern, in der der Mord eigenartigerweise statt ans Ende eines Ursache-Wirkung-Verlaufs mehr in die Mitte gerückt wird: „… eines Morgens stieg ich selbst in die Straßenbahn und fuhr weg, ließ jenes abgestorbene Jahrhundert hinter mir, um hier, im Land der Sonne, mein Verbrechen zu begehen, um dir zu begegnen und dieses Geständnis abzulegen“ (S. 18). Die Syntax dieses Satzes stellt das Verbrechen, die Begegnung mit Angelo und das Bekenntnis als einen vorgefassten Plan dar und kehrt die Abfolge der vorgesehenen Ereignisse in dem Moment um, in dem sie/er in die Bahn einsteigt. Es scheint, als werde das Verbrechen begangen, um die Möglichkeit zu einem Geständnis zu haben.

Beim Sprechen der Erzählfigur über sich selbst widersetzt sie sich einer Form des Bekenntnisses, das ihre Subjektivität entlang eines Handlungsverlaufs und nach den herkömmlichen Identitätskategorien Name, Geschlecht und Nationalität herausarbeiten würde. Im Gegensatz zu linearen Erzählungen mit zeitlicher Tiefe, die sich auf die genannten Kategorien stützen, weist die hier erzählte Geschichte eine räumliche Qualität auf. Anstelle von Ereignissen und Figuren besteht sie aus An- und Ausblicken, Zimmern und Landschaften. Die Erzählfigur wünscht sich, ein Haus zu sein, das aus einem Raum besteht, mit Fenstern zu allen Seiten, durch die Tag und Nacht ohne Unterlass hindurchwandern, oder eine Landschaft oder Gras auf einer Wiese am Meer. „[A]ls Beweis […], daß ich gelebt habe“ (S. 46), ersetzen diese Landschaften und Blicke den kausalen Erzählbericht über die eigene Vergangenheit. Die folgende Analyse soll zeigen, wie der Roman diese Augenblicke des Raum-, Landschaft- oder Gras-Seins als Gegensatz zum Menschsein und zur Positionierung innerhalb der Wahrheitsregimes von Heterosexualität und westeuropäischen Diskursen über politische und kulturelle Identität darstellt.

II. Identitätskategorien: Geschlecht

Die Erzählerfigur im Roman Im Grenzland gibt ihr Bekenntnis ohne Nennung hres Namens, Geschlechts und seiner/ihrer Nationalität ab.xx Dass ein erzählendes „Ich“ namenlos bleibt, ist nicht ungewöhnlich, doch das strategische Verwenden oder Weglassen der Identitätsmarker Name und Geschlecht für Dritte ist umso bemerkenswerter. Die Figuren im Roman werden häufig nur mit Initialen benannt, um das Geschlecht nicht festzulegen. Andere, wie Angelo und Franz, tragen Namen, die ihre Funktion im Roman kennzeichnen. Angelos Name definiert ihn als Engel, wobei Engel laut Erzählerfigur männlich oder weiblich sein können. Die Figur des Franz weist auf die Figur eines Reisenden in Milan Kunderas Roman Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins hin. Darüber hinaus erklärt die Erzählfigur, dass sie nicht gut Französisch spreche und Franz‘ Namen daher wie „France“, also Frankreich, ausspreche. Daraus ergibt sich eine Parallele zwischen Franz und Frankreich (und Westeuropa generell), wodurch die Erzählfigur ihre Affäre mit Franz in Relation zu ihrem Verhältnis zu Europa setzt.

Die Ambiguitäten, die das erzählende „Ich“ ohne genanntes Geschlecht produziert, fanden ihren Niederschlag auch in den diversen Lesarten der Geschlechtsidentität der Erzählfigur in der Rezeption unmittelbar nach Erscheinen des Romans. Viele dieser frühen Auslegungen setzen die Erzählfigur infolge der Erwartungen, die sich aus der Kenntnis der Biografie ergeben, mit dem Autor gleichxxi und machen aus ihr einen homosexuellen männlichen Erzähler.xxii Da es jedoch im ersten Viertel des Romans keinen Verweis auf das Geschlecht der Erzählfigur gibt, gingen einige Rezipientinnen und Rezipienten davon aus, dass das Bekenntnis von einer heterosexuellen Erzählerin abgelegt werde, wobei sie die weibliche Geschlechtsidentität aufgrund von heteronormativen Anschauungen aus derjenigen des Geliebten ableiteten.xxiii Insoweit die Erzählfigur eine Beziehung mit Franz unterhält, wird sie als weiblich verstanden. Diese verschiedenen Lesarten bestätigen die Wirkungsmacht normativer Geschlechterkategorien bei der Interpretation des Textes.

Je weiter das Bekenntnis fortschreitet, desto größer wird die Unsicherheit über das Geschlecht der Erzählfigurs durch indirekte, widersprüchliche Hinweise auf ihre Identität. Der Hinweis auf Franz‘ Wahl männlicher Partner oder weiblicher Partnerinnen – und damit auf seine Bisexualität – verändert nicht unbedingt die Lesart derer, die die Erzählfigur für männlich halten, und auch nicht derer, die sie für eine Frau halten; dennoch lässt sie Zweifel an der Gültigkeit heterosexueller Normen in der Welt dieses Romans aufkommen. In einer anderen Szene, die auf Geschlecht und Geschlechtlichkeit des Erzählers/der Erzählerin zu sprechen kommt, nennt eine Putzfrau ihn/sie „Monsieur“, an wiederum anderer Stelle wird er/sie vom Geliebten Franz „Madame“ genannt. Linguistischen Konventionen zufolge müsste es sich in ersterem Fall um einen Mann handeln, in zweiterem um eine Frau. Doch die von Franz verwendete Anrede „Madame“ kann auch als Teil des Rollenspiels eines homosexuellen Paars interpretiert werden. Dies und weitere Beispiele zeigen, dass die widersprüchlichen Bezugnahmen auf Geschlecht und Geschlechtlichkeit der Erzählfigur es noch weiter erschweren, den Text als Bekenntnis einer heterosexuellen Erzählerin zu lesen.

Wie sich aus den genannten Lesarten die Geschlechtsidentität der Erzählfigur herausschält, unterscheidet sich je nach den von dem Leser/der Leserin angewandten Wahrheitsregimen. So bietet Õnnepalu seinen Lesern/Leserinnen durch den Auftritt einer inkohärent gegenderten Erzählfigur ein Wahrheitsspiel an. Doch diese Art von Spiel kann auch eine Falle sein. Beteiligt sich der Leser/die Leserin am Spiel mit der Wahrheit über Geschlecht und Geschlechtlichkeit der Erzählfigur und wie beide voneinander abgeleitet werden, kann er/sie dies nur durch einen Rückgriff auf das Wahrheitsregime eines heteronormativen Geschlechtersystems oder entsprechender Diskurse über die Wahrheit von Homosexualität tun. Allerdings „addieren“ sich solche Interpretationen nicht in dem Sinne, dass sie eine eindeutige Geschlechtsidentität der Erzählfigur liefern und eine bestimmte Interpretation des Textes bieten. Die Ambiguität bleibt bestehen.xxiv Eine Szene im Roman steht symbolisch für diese Falle, die das von Õnnepalu erdachte Wahrheitsspiel seinen Lesern und Leserinnen stellt. Die Erzählfigur beschreibt die Verwirrung eines Ehepaars angesichts der Skulptur Schlafender Hermaphrodit im Louvre: „Wenn man sie vom Saal her ansieht, ist sie eine Frau, ganz eindeutig, doch wenn man näher herangeht und sie von der anderen Seite betrachtet, ist sie ein Mann“ (S. 161). Die Erzählung berichtet vom Austausch des Ehepaars darüber: „‚Das ist mit Absicht so gemacht!‘ empörte sich der Mann. Und die Frau sagte zweifelnd: ‚Meinst du?‘“ (S. 161).

Wie also soll man das Wahrheitsspiel zu Geschlecht und Geschlechtlichkeit der Erzählfigur mitspielen können, ohne in die Falle zu tappen? Wie kann man sich darauf einlassen, ohne der Verwirrung und Irritation anheimzufallen, die das Ehepaar angesichts der Skulptur Schlafender Hermaphrodit im Louvre erlebt? Was soll das Ziel eines Geständnisses sein, das mit Geschlechterkategorien spielt? Das Wahrheitsspiel funktioniert nur, wenn man den Wunsch aufgibt, die Wahrheit über Geschlecht und Geschlechtlichkeit der Erzählfigur festzustellen; spielen lässt es sich mit dem Ziel, die dahinterstehende Logik zu verstehen, zu begreifen, worum es geht. Auf der einen Ebene zieht der Roman seine Leserschaft in die Deutung der Geschlechterkategorien im Text hinein, doch werden diese Versuche, das Geschlecht der Erzählfigur festzulegen, immer wieder durchkreuzt. Gerade weil eine geschmeidige Interpretation von Geschlechterkategorien vereitelt wird, verbleibt der Leser/die Leserin auf einer zweiten Ebene auf der Grenze dieser Kategorien und liest den Roman in seiner Intersexualität.

In Das Unbehagen der Geschlechter erläutert Butler bezüglich Foucaults Herculine Barbin, dass Hermaphroditismus nicht für eine Identität stehe, sondern für deren Unmöglichkeit, weil

die Sprachkonventionen, die das intelligible geschlechtlich bestimmte Selbst produzieren, in Herculine auf eine Grenze [stoßen], weil er/sie eine Überschneidung und damit Desorganisation der Regeln hervorruft, die das System von Geschlecht/Geschlechtsidentität/Begehren beherrschen.xxv

Herculine benutze die Begrifflichkeiten des binären Systems und ordne sie neu an, doch genau diese Neuanordnung sprenge diese Begriffe und lasse sie außerhalb des eigentlichen Binären weiter wachsen.

Ein Hermaphrodit ist die Erzählfigur in Im Grenzland primär auf der Ebene der sozialen Geschlechtsmarker. Die Ambiguität ihrer Geschlechtsidentität untergräbt sowohl das binäre Geschlechtersystem als auch die Unterscheidung zwischen Homo- und Heterosexualität. Sie ist nicht geschlechtslos, sondern mal Frau, mal Mann und daher eigentlich weder Frau noch Mann. Als sie sich an ihre Liebe zu einem Pfarrer in der Heimat erinnert, überlegt sie, ob sie mit ihm verheiratet sein könnte und fragt sich: „Wäre ich in dieser Ehe wohl der Mann oder die Frau gewesen?xxvi Kann man das je wissen? Vor allem, wenn man es mit Pfarrern und Priestern zu tun hat. Was versteckt sich da unter dem Talar, unter dem züchtigen schwarzen Gewand?“ (S. 74) Die Erzählfigur denkt im Rahmen der kulturellen Norm der heterosexuellen Ehe über ihre Beziehung zum Pfarrer nach, was bedeutet, dass bei einer Heirat eine von beiden eine Frau und der andere ein Mann sein müsse. Doch wer welche Position einnimmt, ist für sie anscheinend Verhandlungssache. Da Priester in der Regel Männer sind, bleibe für die Erzählfigur die Position der (Ehe-)Frau übrig, doch da sein Gewand einem Kleid gleicht, könne auch der Priester diese Rolle übernehmen. In dieser binären Opposition werden die Positionen nicht durch ein mutmaßlich stabiles Geschlecht bzw. eine Geschlechtsidentität der Parteien festgelegt, sondern im Sinne der von Judith Butler beschriebenen wiederholten Stilisierung des Körpers gemäß kulturell etablierten Normen..xxvii

„Geschlechtsidentität“, so Butler, „darf nicht nur als kulturelle Zuschreibung von Bedeutung an ein vorgegebenes anatomisches Geschlecht gedacht werden (das wäre eine juristische Konzeption). Vielmehr muss dieser Begriff auch jenen Produktionsapparat bezeichnen, durch den die Geschlechter (sexes) selbst gestiftet werden.“xxviii Man könnte also sagen, dass das Gewand des Priesters nicht nur Zeichen seiner möglichen Weiblichkeit ist, sondern seine weibliche Identität konstruiert und sein Körpergeschlecht daran angleicht.

Der Unwille der Erzählfigur, Geschlechtlichkeit vom Geschlecht und das Geschlecht vom biologischen Körper abzuleiten, wird in einem ihrer Träume deutlich: Sie träumt, eine Barbiepuppe zu sein, die von der französischen Polizei angehalten und nach ihrem Ausweis gefragt wird. Sie zeigt ihren sowjetischen Reisepass vor, den sie in Wirklichkeit nicht mehr besitzt. Die Polizei erklärt, dass das Dokument für öffentliche Bedürfnisanstalten und Parks nicht gilt, und befiehlt ihr, sich auszuziehen. Die öffentlichen Toiletten und Parks erinnern an das Thema Prostitution, das vor der Traumszene im Roman behandelt wird. Doch als besonders rätselhaftes Element innerhalb dieser Traumlogik erscheint der sowjetische Pass im Gegensatz zu einem osteuropäischen Pass. Eine Erschließungsmethode wäre, das Dokument als Anspielung auf den repressiven Umgang mit Homosexualität in der sowjetischen Gesetzgebung, die sie kriminalisierte, zu lesen. Durch die Anordnung der Polizei, sich auszuziehen, soll das wahre Geschlecht und damit die Geschlechtlichkeit festgestellt und danach eine Strafe verhängt werden. Beim Entkleiden fürchtet sich die Erzählfigur allerdings nicht vor dem Gesetz, sondern ist zufrieden darüber, dass sie die Polizei ausgetrickst hat, denn „unter der Kleidung kommt meine Puppenhaut zum Vorschein, nichts als kaltnüchterne Plaste“ (S. 139). Durch die Anordnung, sich zu entkleiden, hofft die Polizei, den maßgeblichen Nachweis von Geschlecht und Geschlechtlichkeit erbringen zu können, doch sie findet nur einen künstlichen Körper, der gar nichts beweist. Die Keuschheit des Puppenkörpers besteht in den nicht vorhandenen Geschlechtsorganen. Mit diesem Körper gelingt es der Erzählfigur, die Polizei zu täuschen, denn er macht es unmöglich, Geschlecht und Geschlechtlichkeit zu bestimmen. Die Anspielung auf das sowjetische Recht dient hier dazu, auf die unterdrückende Macht eines Gesetzes in Bezug auf die Homosexualität zu verweisen. Das Gesetz will die Wahrheit über sexuelle Praktiken und Homosexualität als eindeutige Diskurskategorie auf Grundlage des geschlechtlichen Körpers festlegen. Die Queerness des Textes macht dies unmöglich.

Doch worin besteht der Nutzen dieser Intersexualität für die Erzählfigur und die Darstellung von Sexualität und Begehren? In der Lesart von Delaney Michael Skerrett steht die Uneindeutigkeit von Geschlecht und Geschlechtlichkeit der Erzählfigur in Im Grenzland für Õnnepalus Weigerung, sich öffentlich zur Homosexualität zu bekennen und jegliche Art von Identitätspolitik zu fördern. Skerretts Interpretation zufolge strebt Õnnepalu danach, Befreiung in einer Welt fließender, grenzfreier Identitäten zu erfahren – das heißt, dem Gesetz generell zu entfliehen.xxix Das erzählerische Oszillieren zwischen verschiedenen Geschlechtsidentitäten könnte an der Oberfläche so gelesen werden, doch verständlicher wird es nach Eve Sedgwicks Konzept der „Epistemologie des Verstecks“. Besonders erhellend für das spezifische Geständnis in diesem Roman ist Sedgwicks Annahme, dass die nichtbekennende Heimlichkeit im Rahmen linguistischer Performativität zu verstehen sei als ein Sprechakt, der aus einer Aufeinanderfolge von Momenten der Stille besteht.xxx Queersein, so Sedgwick, unterscheide sich von der Homosexualität genau dann, wenn Ersteres sich auf die „von einer Person vorgenommenen bestimmten, performativen Akte der experimentellen Selbstwahrnehmung und Filiation“ bezieht.xxxi Wenn die Erzählfigur in Im Grenzland zur Identitätsbildung statt der Darstellung von Homosexualität eine queere Praxis vorzieht, dann nicht, wie Skerrett nahelegt, weil sie an die Möglichkeit einer grenzfreien Existenz oder Sexualität außerhalb von Wahrheitsregimen glaubt. Tatsächlich kann die Art, wie sie in diesem Roman eigene Geschlechtlichkeit und Begehren darstellt, kaum als grenzfrei bezeichnet werden, wie weiter unten genauer dargelegt wird. Sie begehrt stets Männer, insoweit das Geschlecht des Objekts der Liebe benannt wird. Es gibt Schweigen in Bezug auf den geschlechtlichen Körper, jedoch auch ein Übermaß an geschlechtsspezifischen und sexuellen Metaphern zur Beschreibung des eigenen Begehrens. Über Letzteres denkt die Erzählfigur häufig im Sinne einer heterosexuellen Beziehung nach und nimmt dabei die weibliche Position ein. Das geschlechtliche Anderssein strukturiert demnach, in welchen Bahnen Begehren und Geschlechtlichkeit bei ihr verlaufen, doch ohne ein konsistentes Verhältnis zwischen Geschlechtlichkeit, Geschlecht und Begehren. Gemäß Sedgwick, die „queer“ definiert als „offenes Geflecht von Möglichkeiten, Lücken, Überlappungen, Dissonanzen und Resonanzen, wegfallenden und übermäßigen Bedeutungen, wenn die konstituierenden Elemente des Geschlechts einer Person, der Geschlechtlichkeit einer Person nicht als monolithische Signifikanten dienen (bzw. nicht dienen können)“xxxii, legt die Erzählfigur genau deshalb ein queeres Bekenntnis ab, um in der Sprache durch Schweigen, Exzesse und ein unkonventionelles Spiel mit Attributen Raum für ihre Sexualität zu schaffen.

Im Kontext der Praxis eines queeren Bekenntnisses kommt der Sehnsucht der Erzählfigur, Gras auf einer Wiese am Meer zu sein als einer Sehnsucht, die dem Menschsein und damit der eindeutigen Geschlechtszuweisung entgegensteht, Bedeutung zu als metaphorische Annäherung an ein zukünftiges Selbst, das diesen Binaritäten entkommt. Ihr ideales Selbst ist es, „ein kurzer salziger Grashalm mit kleinen hellgrünen Rispen, die in aller Unschuld die goldene Fracht ihrer Staubgefäße dem immer kühlen Wind anvertrauen und sich durch denselben Wind von ihresgleichen befruchten lassen und zur Reife gelangen“ zu sein (S. 25-26). Die Metapher der Bestäubung ruft verschiedenste Assoziationen zu Sexualorganen und deren Fortpflanzungsfunktion hervor. Doch da das botanische Konzept der Fremdbestäubung verschiedene Kombinationen erlaubt (zwischen männlichen und weiblichen Blüten derselben oder verschiedener Pflanzen oder zwischen Staubblättern und Stempeln einer Pflanze), verwendet der gelernte Biologe Õnnepalu die Metapher als eine Form der Repräsentation von Begehren und Geschlechtlichkeit der Erzählfigur.

Die bekennende Erzählung in Im Grenzland verortet die Erzählfigur auf der im binären Geschlechtersystem und in der Unterscheidung Hetero- versus Homosexualität gezogenen Grenze und bewirkt dadurch eine Neuanordnung der festen Bezüge zwischen Geschlechtlichkeit, Geschlecht und Begehren, die von innerer Kohärenz und Kontinuität geprägt sind und nach Butler eine normative Heterosexualität stützen.xxxiii Doch bewirkt diese Art von Bekenntnis noch etwas anderes, als lediglich das binäre Geschlechtersystem und verordnete Heterosexualität zu untergraben: Sie ist der gelungene Versuch, das Begehren der Erzählerin/des Erzählers im Sinne eines Queerseins darzustellen, das konventionellen Kategorien der Repräsentation von Identität entrinnt und auf der Textebene dennoch existiert.

III. Identitätskategorien: Nationalität

Parallel zur queeren Geschlechterperformanz der Erzählfigur bietet Im Grenzland auch eine „queere“ Lesart postsowjetischer estnischer Identität an. Erzielt wird dies durch die Performanz des kulturellen Gedächtnisses, das sich als Alternative sowohl zu zeitgenössischen Diskursen nationaler Identität in Estland als auch zum Identitäts-Label „Osteuropäer/Osteuropäerin“ präsentiert, das der Erzählfigur in Paris aufgedrückt wird. In beiden Fällen unterbindet der Text klar umrissene Identitätskategorien – fordert sie damit also heraus – und lotet die Möglichkeiten und Grenzen einer grenzfreien Existenz in einer Erzählung des Werdens aus.

Die Migration der Erzählfigur nach Paris ist im Kontext der Rhetorik von der „Rückkehr nach Europa“ zu sehen, wie sie zu Beginn der 1990er Jahre in vielen osteuropäischen Ländern weit verbreitet war.xxxiv Im Rahmen dieser diskursiven Strategie wurden von den politischen Eliten die mit Westeuropa geteilten historischen und kulturellen Traditionen betont, um die neue politische Ordnung und die mit ihr verfolgten politischen Ziele zu legitimieren. Ebenso möchte auch die Erzählfigur in Im Grenzland, deren kulturelles Gedächtnis neben estnischer Folklore und Dichtung aus französischer Literatur und Kunst besteht, der Armut ihres postsowjetischen Heimatlands entfliehen und wieder europäisch werden. Sie beschreibt ihre Sehnsucht nach Europa als eine Sehnsucht nach dem Sonnenschein, der für Wohlstand und Anerkennung steht. Als sie jedoch in Paris ankommt, erkennt Europa sie nicht als jemanden an, die zurückkehrt. Die Identität, mit der sie in Paris empfangen wird, ist die des Osteuropäers/der Osteuropäerin. Diese Identität beschreibt sie in einer Ansprache an Angelo wie folgt:

Denn auch ich bin um deinetwillen erschienen, egal woher, ob vom Grund des Meeres, aus den Tiefen der Erde, aus Bosnien-Herzegowina, aus einer Wohnung in einer kleinen Stadt am Fluß, wo der Gestank des Aborts einem den Atem benimmt; aus Osteuropa; hinter einem Holzstoß hervor. (S. 8)

Bosnien-Herzegowina ist nicht ihr/sein Herkunftsland, sondern es dient der Assoziation der osteuropäischen Herkunft mit Armut, Krieg und ethnischen Konflikten. Sie/er sagt außerdem, sie/er stamme aus dem 19. Jahrhundert, und verweist damit auf die getrennten Zeitlichkeiten, die ihr/sein Land und Paris jeweils kennzeichnen. Die der Erzählfigur in Paris auferlegte osteuropäische Identität versetzt sie in die Position eines/einer armen, demütigen Anderen in Europa. Um dieser Zuschreibung zu entkommen, gibt sie sich äußerlich einen Stil, der sie nicht als armen Osteuropäer/ arme Osteuropäerin oder einen Emporkömmling von dort zu erkennen gibt, und stellt sich als Schwede beziehungsweise Schwedin vor.

Die intrinsischen Machtverhältnisse zwischen West- und Osteuropa, die die Erzählfigur in die von ihr nicht akzeptierte Position zwingen, wirken sich auf ihre Beziehung zu ihrem Geliebten Franz aus. Dieses narzisstische Verhältnis basiert auf dem Begehren der Erzählfigur, europäisch zu werden, an Franz‘ und Frankreichs Reichtum und glanzvollem Lebensstil teilzuhaben. Franz wiederum liebt ihn/sie dafür, dass er/sie „osteuropäisch“ ist, was jedoch auf der Trope des edlen Wilden beruht. Franz‘ Verhältnis zum Erzähler/zur Erzählerin ähnelt bei Milan Kundera der Liebe des Franz zu der tschechischen Geflüchteten Sabina. Kunderas Franz liebt Sabina, weil sie aus einem Land „von Risiko, Mut und Todesgefahr [kommt]. Sabina gab ihm den Glauben an die Größe des menschlichen [Tuns] wieder.“xxxv Der Linksintellektuelle Franz in Im Grenzland, der Foucault und Derrida bewundert, doch zugleich Aktien eines Kampfflugzeug-Unternehmens besitzt, findet die Erzählfigur edel, denn „wer sonst hätte sich noch seine aufrührerischen Reden [so ehrfürchtig] anhören mögen?“ (S. 41); weil sie aus dem Land kommt, in dem „Tag für Tag Geschichte gemacht werde“ (S. 133). Als die Erzählfigur ihm von ihrer Kindheit ohne Wasserklosett erzählt, ist Franz angewidert, aber auch wachgerüttelt, denn die Erzählfigur wird für ihn zum/zur „stinkenden Wilden, den [die] er im Dschungel eingefangen und gezähmt hatte“ (S. 127).xxxvi Franz‘ desillusionierter, konsumorientierter Lebensstil und seine Unfähigkeit, außerhalb des osteuropäischen Bezugssystems in Beziehung zur Erzählfigur zu treten, führen dazu, dass sie sich mit der Idee (dem Ideal) von Europa, die (das) bei der Flucht aus dem eigenen Land ihre Vorstellung bestimmt hatte, de-identifiziert.

Ein weiterer Grund für die sich nicht erfüllende Sehnsucht der Erzählfigur nach Europa im Laufe ihres Bekenntnisses sind Erinnerungen an ihre Kindheit, die sie bei dem Versuch, europäisch zu werden, zu verfolgen beginnen. Nicht das Bekenntnis erzeugt diese Erinnerungen, sondern sie überfallen die Erzählfigur in medias res und werden entsprechend im Text beschrieben. Sie stehen beispielhaft für die mémoire involontaire [unwillkürliche Erinnerung], die sich Aleida Assmann zufolge nicht im Kopf abspielt, sondern sich über den ganzen Körper verteilt und daher nicht kontrollierbar ist.xxxvii Den unfreiwilligen Erinnerungsakten der Erzählfigur gehen sensorische Impulse wie Geschmack, Gerüche und visuelle Eindrücke voraus.

Beim Gang durch die Pariser Tuilerien nimmt die Erzählfigur den herben Duft der Blumen wahr, was die Erinnerung an die Gärten in dem Land, aus dem sie geflohen ist, heraufbeschwört, „daß man sich umschauen möchte, ob nicht Hühner in den Garten gekommen sind, die man dann mit gutem Recht ein bißchen scheuchen dürfte“ (S. 78). Der Blumenduft ruft bei ihr eine unwillkürliche Reaktion hervor: Sie möchte die Hühner aus dem Garten scheuchen, um dessen Zerstörung zu verhindern. Woran die Erzählfigur bei diesen unwillkürlichen Akten der Erinnerung denkt, sind nicht primär persönliche Erlebnisse, sondern vielmehr übernimmt das prozedurale oder „verkörperte“ Gedächtnis, das in Form von habitualisierten Handlungen und von durch kulturelle Praktiken in bestimmten sozialen Kontexten erlernten Reaktionen, die unabhängig vom Bewusstsein vollzogen werden, in den Körper eingelassen ist.xxxviii In Paris versetzen diese Erinnerungen die Erzählfigur in disjunktive Zeitlichkeiten und kulturelle Kontexte.

Ein andermal ruft ihr der moderige Geschmack der an einem Pariser Straßenstand gekauften Äpfel den Geschmack „polnischer Äpfel“ und „ungarischer Äpfel“ ins Gedächtnis, des kostbaren Importguts aus Sowjetzeiten, das ihre Großmutter als Ausdruck von größtem Luxus nur zu Weihnachten kaufte. Die Erzählfigur beschreibt das damalige Ritual beim Verzehren dieser Äpfel: einen Apfel täglich, den man am besten so langsam wie möglich zu genießen versucht. Der verdorbene Geschmack Pariser Äpfel lässt sie an die Armut ihrer Kindheit in der Sowjetunion denken.

Die Äpfel erinnern sie auch daran, wie sie in den Weihnachtsferien den Erzählungen der Großmutter über ihre Deportationserfahrungen in Sibirien zuhörte. Sie sagt über diese Geschichten: „Es waren immer dieselben, etwa fünf an der Zahl, und sie wurden ihr nie langweilig“ (S. 97). Die Erzählfigur allerdings langweilen die immergleichen Geschichten zu jener Zeit, doch sie versucht, beim Zuhören interessiert auszusehen, während sie sich in eigenen Gedanken verliert. Als die Großmutter sie dabei erwischt, dass sie nicht zuhört, soll sie wiederholen, was sie erzählt hat. Der Erzähler/die Erzählerin wiederholt also: „Und wenn ich antwortete: davon, Oma, wie ein Mann dich umbringen und Seife aus dir kochen wollte, während sie aber in Wirklichkeit erzählt hatte, wie man sie in Schlitten auf dem Eis der Lena entlangfuhr und die Erfrorenen den Wölfen zum Fraß hinwarf – dann gab es Krach“ (S. 97/98). Ist er/sie nicht in der Lage, die Geschichte richtig wiederzugeben, bezieht die Erzählfigur Prügel mit dem Riemen der Nähmaschine.

Diese Szene ist für das Verständnis der in Paris reaktivierten Erinnerungen der Erzählfigur wesentlich. Die Großmutter hat ihre eigenen traumatischen Erlebnisse mit einer Deportation – mit den tragischsten Ereignissen der nationalen Vergangenheit im 20. Jahrhundert, die durch das wiederholte Erzählen der Geschichten auch Teil des Gedächtnisses der Erzählfigur sind. Hört sie nicht zu oder merkt sich das Erzählte nicht und kann es nicht wiedergeben, wird es ihrem Körper im wahrsten Wortsinn eingebläut. Die Prügel erwähnt sie in einem der vorangehenden Abschnitte kurz und fügt hinzu, dass der Treibriemen, der der Bestrafung diente, zu der Singer-Nähmaschine gehörte, „die zusammen mit Oma in Sibirien gewesen war“ (S. 81).

In diesen Szenen greift das kulturelle Gedächtnisxxxix störend in die Prozesse der Idealisierung und der Identifikation der Erzählfigur mit Europa ein und versetzt sie als Migrant/Migrantin in einer europäischen Metropole auf die Grenze zwischen verschiedenen kulturellen und sozialen Welten. Die Erzählfigur drückt die eigenen Gefühle der Nichtzugehörigkeit zu Europa mit folgenden Worten aus: „Was habe ich dort zu suchen? Will ich vielleicht den besseren Herrn markieren und alles von damals vergessen machen, die Prügel mit dem Treibriemen der Nähmaschine, die ‚Volksstimme‘ und die Wanzen, die Nacht für Nacht hinter den abblätternden Tapeten hervorgekrochen kamen, um sich prall zu trinken an meinem Blut?“ (S. 156). Die ihrem Körper durch die Schläge mit dem Riemen und die Stiche der Wanzen eingeschriebene Vergangenheit hindert sie daran, Europäer/Europäerin zu werden.

Die spaltende Rolle, die das kulturelle Gedächtnis bei dem Geständnis spielt, tritt noch deutlicher hervor, wenn man von der individuellen Ebene der Erzählfigur auf die kollektive Ebene schließt. Aus der Perspektive der Erzählfigur präsentiert sich das kulturelle Gedächtnis als eine leibliche Erfahrung, eine, die ihr ohne bewusste Steuerung unwillentlich widerfährt. Das konstruktive Moment ihrer Erinnerungsarbeit tritt hervor, wenn man dies aus der Perspektive estnischer Leser und Leserinnen des Romans heraus betrachtet. Durch die Hervorhebung bestimmter erkennbarer Elemente der gemeinsamen Vergangenheit (Deportation, Schlangen vor Läden, Importwaren) konstruiert das Geständnis diese Erinnerungen im Moment ihres Hervorrufens als kollektive Erinnerungen. Es ist diese kollektive Dimension des Erinnerns und der Reaktivierung von Erinnerungen in Paris, die das intime Bekenntnis eines geschlechtlich und kulturell queeren Subjekts zu einem Text macht, der die kollektive kulturelle und nationale Identität verhandelt und bearbeitet. Wichtig ist dabei jedoch, dass sich das kulturelle Gedächtnis im Bekenntnis nicht vollzieht, um eine nationale Identität zu schaffen, sondern um die gängigen, in sowjetischen Gesellschaften zu Beginn der 1990er Jahre verwendeten Narrative über die Vergangenheit ins Wanken zu bringen. Indem er an faulige Äpfel, verschimmelte Räucherwurst und Schlangestehen erinnert, stellt Õnnepalu die Rhetorik der „Rückkehr nach Europa“ in Frage, innerhalb derer das Vermächtnis der sowjetischen Vergangenheit vollständig zum Schweigen gebracht und nicht als Teil der Identität der neuen Gesellschaft anerkannt wurde.

Diese Dekonstruktion der Sehnsucht nach Europa zeigt sich am deutlichsten in dem (metaphorischen) Mord an Franz. Die Erzählfigur tötet Franz nach einem Gespräch über ihre mögliche Rückkehr in ihr Land. Franz bietet an, sich um ein Stipendium zu kümmern, damit sie in Paris bleiben kann. Als sie zögert, wird Franz wütend und schreit: „Kein normaler Mensch würde so eine Chance ausschlagen, wie ich sie dir biete, und zurückwollen in dieses … dieses … dieses …!“ (S. 162). Die Erzählfigur kommentiert dies: „Das richtige Wort fand er dann doch nicht“ (S. 162). In dem Moment, da Franz es nicht schafft, ihr Land zu benennen und ihre kulturelle Differenz anzuerkennen, beschließt sie, ihn zu töten. Jedoch tötet sie durch den Mord an Franz vornehmlich ihr eigenes Begehren, europäisch zu werden, und das Begehren postsowjetischer Länder, ihre nationale Identität nach dem Zerfall der Sowjetunion als eine problemlose „Rückkehr nach Europa“ neu zu definieren.

Dabei steht das kulturelle Gedächtnis der Erzählfigur, das in ihrem Geständnis als Gegenpol zum westlich geprägten Etikett des Osteuropäers/der Osteuropäerin entworfen wird und dem sich die Erzählfigur verweigert, jedoch nicht für das, was sie „wirklich“ ist, ihre wahre Identität.xl Im Rahmen der linguistischen Performanz des Geständnisses tragen die unwillkürlichen Erinnerungen an eine sowjetische Vergangenheit stattdessen dazu bei, eine Abgrenzung zu schaffen, die die Erzählfigur auf die Grenze zwischen ihrer Sehnsucht nach Europa und der Sehnsucht nach Anerkennung ihrer Vergangenheit versetzt. Die kulturelle Grenzposition der Erzählfigur lässt sich am besten anhand Homi K. Bhabhas Konzept des Third Space erklären, des Raums, der die Geschichtsschreibungen, die ihn konstituieren, verschiebt und neue Autoritätsstrukturen, neue politische Initiativen entwirft, die durch erworbenes Erfahrungswissen nur unzureichend verstanden werden.“xli Die durch das Geständnis inszenierte Positionierung auf der Grenze ermöglicht eine Suche nach neuen Positionen und damit nach einer Überwindung des binären Oppositionspaars West- und Osteuropa und des eigenen Begehrens der Erzählfigur, dieser binären Opposition zu folgen, um Europäer/Europäerin zu werden.

IV Auf der Grenze

Bei der Untersuchung der Darstellung von Geschlechtsidentität und Gedächtnis im Roman Im Grenzland habe ich aufgezeigt, wie die darin inszenierte Praxis des Geständnisses die Erzählfigur sowohl in Bezug auf Geschlecht als auch auf nationale Identität auf der Grenze verortet. Diese experimentelle Selbstdarstellung rückt die begrenzenden Faktoren von Identitätskategorien in den Vordergrund, doch herrscht auch ein Bewusstsein über deren komplexes Verhältnis zu Verständigung und Anerkennung, was sich im Framing der titelgebenden Metapher des Romans durch die Erzählfigur zeigt – dem Grenzland. Am Ende des Geständnisses erklärt sie, dass „Grenzland“ der politische Ausdruck ist, mit dem in den Zeitungen ihr Herkunftsland bezeichnet werde. Sie findet den Begriff treffend, denn ein „Grenzland kann es nicht geben. Es gibt etwas diesseits der Grenze und etwas jenseits davon, aber die Grenze selbst gibt es nicht. […] Die ist nicht zu sehen. Und wenn man auf dieser Grenze steht, ist man selbst auch nicht zu sehen, weder von der einen noch von der anderen Seite“ (S. 171). Einerseits wird durch diese Aussage ihre eigene Position auf der Grenze mit der ihres Landes verknüpft. Andererseits hebt sie hervor, dass die Erzählfigur ihre Position als ein Subjekt, das die eigene Verständlichkeit aufs Spiel setzt, nicht als angenehm empfindet. Meiner These zufolge wird diese Position nur für die Dauer des Geständnisses als tragbar dargestellt. Ihre Funktion ist es, ein „Vorwärtserinnern“ zu ermöglichen, die Position der Erzählfigur dort sichtbar zu machen und sie in die Lage zu versetzen, sich von dieser Schwelle, von der Grenzlinie aus auf neue Positionen zuzubewegen.

Das Transformationspotential der bekennenden Erzählung liegt, wie ich aufgezeigt habe, nicht in der Konstruktion einer positiven persönlichen Identität durch Sprache. Entgegen konventionellen Narrativen des Selbst, die auf Erinnerungen an Vergangenes zurückgreifen, um scheinbar linear die eigene Geschichte zu berichten, widersetzt sich die Erzählfigur hier bestimmten Formen des Sprechens über sich selbst, unter anderem der Konstruktion einer zusammenhängenden Handlung und der Definition der eigenen Person durch die Identitätsmarker Name, Geschlecht und Nationalität. Ihre Erzählung setzt sich nicht aus Ereignissen und Figuren zusammen, sondern liefert einen verräumlichten Selbstbericht: in Landschaften, Ausblicken aus dem Fenster, der Beschreibung von Bildern – leicht wie Luft und Wind, gezeichnet mit nur wenigen Strichen. Jedoch funktioniert die Erzählweise gut als dramatische Inszenierung der geschlechtlichen und kulturellen Grenzsituation eines Subjekts. Sie schafft damit ein Bekenntnis über das eigene Begehren, die eigene Geschlechtlichkeit und das kulturelle Gedächtnis, ohne diese als Bausteine der positiven persönlichen Identität der Erzählfigur festzuschreiben.

Die Transformation des Selbst der Erzählfigur ist nicht mit der Konstruktion einer kohärenten Geschichte in der Sprache oder einer positiven persönlichen Identität verbunden. Der/die Andere entsteht durch den Vorgang des Sprechens selbst und durch die Anwesenheit des/der Anderen. Foucault zufolge vollzieht sich die Subjektbildung des Menschen in konventionell-modernen Bekenntnispraktiken dadurch, dass „das sprechende Subjekt mit dem Objekt der Aussage zusammenfällt“.xlii Nach Butler geschieht diese Transformation, weil beim Erzählen ein narratives „Ich“ begründet werde, das zu dem „Ich“, dessen vergangenes Leben ich erzähle, hinzugefügt werde. Das narrative „Ich“ trete mit jedem Sprechversuch wirkungsvoll zu der Geschichte hinzu.xliii Das Geständnis in Im Grenzland bewirkt genau das Gegenteil: Es vollzieht eine Ablösung und ein Sich-Wegbewegen des sprechenden Subjekts vom Objekt der Aussage, und zwar, indem es selbst spricht.

Weiter oben wurde der Wunsch der Erzählfigur, zu Gras auf einer Wiese am Meer zu werden, besprochen. Gras zu sein wird hier als Gegenbild zum Menschsein im Rahmen eines bestimmten Wahrheitsregimes entworfen. Gegen Ende seines/ihres Geständnisses sagt sie:

Meine Lebensbeichte geht ihrem Ende entgegen. Meine Stimme ist schon so schwach geworden, daß das Mädchen im Bäckerladen nicht mehr hört, was ich sage, und ich mit dem Finger auf das gewünschte Brot zeigen muß. Bald wird sie mich auch nicht mehr sehen können. Ich kann dort nicht sein, in einem Bäckerladen wächst schließlich kein Gras. (S. 139/140)

Mithilfe des Geständnisses schreibt sich die Erzählfigur also aus erkennbaren Formen des Menschseins heraus. Um es mit Foucault und Butler zu sagen: Sie riskiert das eigene Selbst, um das Wahrheitsregime in Frage zu stellen. Doch damit endet das Geständnis noch nicht.

Im letzten Brief erklärt die Erzählfigur, dass es in Wahrheit nicht sie ist, die diese Briefe geschrieben hat, sondern dass sie ihr auf einer Diskette von einer aus dem Wasser der Seine gestreckten Hand übergeben wurden. In dem Moment spaltet sich das „Ich“: Das „Ich“, dessen Geständnis wir bis hierher gelesen haben, wird zu einem „Du“, indem es von dem „Ich“, das die Briefe erhalten hat, angesprochen wird. Soweit sich der Moment der Spaltung und des Werdens eines/einer Anderen – auch wenn es logisch unmöglich ist – in ein und demselben Korpus von Briefen vollzieht, die das eine „Ich“ geschrieben und das andere „Ich“ erhalten hat, sind die beiden „Ichs“ eins und doch nicht eins. Die Erzählfigur beschreibt den Moment der Loslösung und Transformation wie folgt: „… irgend etwas hat sich geändert, ja, im Grunde ist nichts mehr so, wie es war, aber wir können nicht mehr zurückgehen zu jenem Augenblick, und würden wir uns dann selbst noch erkennen?“ (S. 167)

Das Transformationspotential eines „Vorwärtserinnerns“ beruht in hohem Maße auf der Figur des Zuhörers Angelo. Die Begegnung mit Angelo, die nach Aussage der Erzählfigur eines der wenigen Ereignisse in ihrem Leben war, ist Anlass für das Geständnis, indem sie als Scene of Address die Ansprache ermöglicht. Als sie einmal telefonieren, sagt Angelo: „Je suis nul“ (S. 56). Für die Erzählfigur ist er damit nach den gängigen Identitätskategorien ein Niemand und demnach ein Zuhörer, der nicht vorverurteilt. Sie verehrt dieses Nichts, das es ihr erlaubt, ihr Geständnis in die Tat umzusetzen. Angelos Funktion als Objekt der Begierde wird in der Metapher von Fotos im Entwicklerbad deutlich, die mit dem Pfarrer assoziiert sind, den die Erzählfigur in dem Land, aus dem sie floh, geliebt hat. Wie der Pfarrer, von dem sie sagt, dass sie ihn wegen seiner Hände geliebt habe, „die aus giftigem Entwicklerbad und weißem Papier die Umrisse von Körpern und Gegenständen herbeizauberten“ (S. 69), taucht Angelo aus dem Sonnenlicht auf wie „aus diesem Entwicklerbad, verschwommen noch, aber schon faszinierend“ (S. 11). Sein Erscheinen aus dem Licht hin zu Substanz eröffnet der Erzählfigur die Möglichkeit, die Grenzen des eigenen Selbst neu zu konfigurieren.

Der Roman endet mit dem allerletzten Brief, der sich durch Kursivsetzung grafisch von allen übrigen absetzt. Das sprechende „Ich“ des kursiv gesetzten Briefes erzählt von seinem Gefühl, „krank gewesen und dann gesund geworden“ zu sein (S. 171). Das Ich beschreibt seinen Zustand der Befreiung, den es durch das Geständnis erlangt hat, da es nun zu allem bereit sei: sich auf einen neuen Weg zu machen, sich eine neue Last auf den Rücken zu binden und das Gewicht nicht zu spüren. Mehr ist über das neue „Ich“ nicht bekannt, denn die Zukunft kann neu verhandelt werden. Das Selbst, das im Geständnis selbst gesprochen hat, konstruiert sich hier nicht, sondern lässt sich selbst durch das Sprechen hinter sich. Sofern dies ein Opfer darstellt, wird hier nicht das Selbst geopfert, sondern lediglich eine bestimmte Form von Subjektivität. Wenn es mit einer solchen Art des Bekenntnisses gelingt, das Wahrheitsregime zu verändern, dann nicht durch Befreiung hinein in eine grenzenlose Existenz jenseits von Identitätskategorien, sondern durch die Öffnung, die das Stehen auf der Grenze bewirkt, das auf eine Rekonfiguration der Grenzen und auf neue Formen von Subjektivität und Relationalität hindeutet.

 

Die diesem Artikel zugrundeliegende Forschung wurde durch das Forschungsstipendium Nr. 1766 der Estnischen Forschungsstiftung unterstützt.

Anmerkungen
i Leigh Gilmore: The Limits of Autobiography. Trauma and Testimony. Ithaca, London 2001, S. 11
ii Der Roman erschien ursprünglich unter dem Pseudonym Emil Tode: Tode, Emil: Piiririik, Tallinn 1993.
iii Michel Foucault: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit. Bd. 1. Aus dem Französischen von Ulrich Raulff u. Walter Seitter. Frankfurt 2019 (22. Auflage), S. 62. (A.d.Ü.: eckige Klammern im Original)
iv Judith Butler: Kritik der ethischen Gewalt. Aus dem Amerikanischen von Reiner Ansén u. Michael Adrian, Frankfurt 2007, S. 150; s. auch Judith Butler: Körperliche Geständnisse. In: Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen. Aus dem Amerikanischen von Karin Wördemann u. Martin Stempfhuber. Frankfurt am Main 2017, S. 261-280
v Michel Foucault: Technologien des Selbst. In: H. Martin Luther, Huck Gutman, Patrick H. Hutton (Hg.): Technologien des Selbst, Frankfurt 1993, S. 26
vi Butler 2007, S. 151
vii Butler 2007, S. 152
viii Zu der intersubjektiven Erzeugung von Subjektivität, mit der Butler ihre Theorie der Subjektbildung weiterentwickelt, s. Kathy Dow Magnus: The Unaccountable Subject. Judith Butler and the Social Condition for Intersubjective Agency. In: Hypatia, Bd. 21, 2006, Nr. 2, S. 81-103
ix Butler 2017, S. 279-280
xButler 2007, S. 177-178
xi Butler 2007, S. 35-36
xii Butler 2007, S. 34
xiii Foucault 1993, S. 25-26
xiv Michel Foucault: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits Band III 1976-1979. Daniel Defert u. François Ewald (Hg.) Aus dem Französischen von Michael Bischoff, Hans-Dieter Gondek, Hermann Kocyba u. Jürgen Schröder, S. 992
xv Butler 2007, S. 162
xvi Butler 2007, S. 37
xvii Linda Nicholson: Introduction. In: Seyla Benhabib u.a.: Feminist Contentions. A Philosophical Exchange. New York, London 1995, S. 1-16; hier S. 11
xviii Tõnu Õnnepalu [Emil Tode]: Im Grenzland. Aus dem Estnischen von Horst Bernhardt, Wien 1997, S. 9. Die englische Übersetzung der zitierten Textstellen habe ich hier und an anderer Stelle leicht modifiziert, um näher am Original zu bleiben. Bei weiteren Zitaten aus dem Roman erfolgt die Seitenangabe in Klammern im Text. (A.d.Ü.: Zitat aus der deutschen Übersetzung hier leicht angepasst an die englische Übersetzung)
xix Ricœur erläutert dies: „Die Erzählung konstruiert die Identität der Figur, die man deren narrative Identität nennen darf, indem sie die Identität der erzählten Geschichte konstruiert. Es ist die Identität der Geschichte, die die Identität der Figur bewirkt.“ (Paul Ricœur: Das Selbst als ein Anderer. Übersetzt von Jean Greisch in Zusammenarbeit mit Thomas Bedorf u. Birgit Schaaff. München 1996, S. 182
xx Õnnepalus gespaltenes Verhältnis zur Namensnennung spiegelt sich in seinen zahlreichen Pseudonymen wider. Bücher hat er unter drei verschiedenen Namen veröffentlicht und sie je nach Bedarf ausgetauscht. Auf Estnisch und in allen anderen Sprachen außer Englisch erschien Im Grenzland unter dem Pseudonym Emil Tode.
xxi Õnnepalu ist Lyrikübersetzer und hat in Paris gelebt.
xxii Vgl. Janika Kronberg: Südametilgad eurooplasele. In: Postimees, 04.01.1994, S. 12; Murutar, Kati: Pakendite täiuslikkus, maitsete küllus – et külmkapis ei haiseks surnupea! In: Hommikuleht, 19.01.1994, S. 19; Raud, Rein: Sootu ja piiritu Euroopa poole. In: Hommikuleht, 16.02.1994; S. 19. Alle diese Rezensionen feierten den Roman als erstes homosexuelles Werk der estnischen Literatur.
xxiii Hier beziehe ich mich auf persönliche Aussagen vieler Leser:innen.
xxiv Diese Textambiguität ergibt sich aus dem Fehlen eines grammatikalischen Geschlechts im Estnischen. Wichtig für den Roman sind geschlechtsneutrale Personalpronomen, die es ermöglichen, über Dritte zu sprechen, ohne ihr Geschlecht anzuzeigen. Dies macht das binäre Geschlechtersystem an sich nicht weniger gültig, doch es ermöglicht das Experiment mit der Darstellung von Geschlechtlichkeit und Begehren, ohne dies in Bezug auf ein bestimmtes Geschlecht tun zu müssen. Welchen Unterschied geschlechtsneutrale Personalpronomen bei der Herstellung von Ambiguität machen, lässt sich anhand eines Vergleichs des Originaltexts mit der englischen Übersetzung Border State (oder der deutschen Übersetzung Im Grenzland, A.d.Ü.) erkennen. Die im Original enthaltene Ambiguität wird teils durch unglückliche Entscheidungen beim Übersetzen, teils aufgrund der englischen (oder deutschen, A.d.Ü.) Grammatik systematisch auf einen eindeutig gegenderten Text reduziert. Vgl. Riita-Ilona Märka: Sooaspekt ja selle keeleline ülekanne. Emil Tode, Piiririik. In: Ariadne Lõng, 2003, Nr. 1/2, S. 148-156; hier S. 155. Das Englische (oder Deutsche, A.d.Ü.), so könnte man sagen, nimmt dem Roman etwas von seiner Queerness und macht aus dem/der Erzähler:in deutlicher einen männlichen Homosexuellen.
xxxv Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter. Aus dem Amerikanischen von Kathrina Menke, Frankfurt 1991, S. 47
xxxvi Im Estnischen bedeuten die Wörter mees und naine für „Mann“ und „Frau“ auch „Ehefrau“ und „Ehemann“.
xxxvii Butler 1991, S. 60
xxviii Butler 1991, S. 24
xxxix Delaney Michael Skerrett: Narratives, Confessions, Identities: Tõnu Õnnepalus Border State. Vortrag bei der 20th Conference on Baltic Studies Re-Imagining The Baltic Region. Perspectives on Past, Present and Future an der George Washington University, Washington, D. C., 15.-17. Juni 2006, S. 7; erschienen in estnischer Sprache als: Delaney Michael Skerrett: Narratiiv, ülestunnistus, identiteet. Emil Tode Piiririik. In: Kell ja Kirjandus, 2006, Nr. 9, S. 728-735, hier S. 729
xxx Eve Kosofsky Sedgwick: Queer and Now. In: Tendencies. Durham 1993, S. 1-20; hier S. 11. Zitat übersetzt von A. H. Czinczoll
xxxi Sedgwick 1993, S. 9. Zitat übersetzt von A. H. Czinczoll
xxxii Sedgwick 1993, S. 8. Zitat übersetzt von A. H. Czinczoll
xxxiii Butler 1991, S. 45
xxxiv Mikko Lagerspetz: The Cross of Virgin Mary’s Land. A Study in the Construction of Estonia’s „Return to Europe“. In: Idäntutkimus. The Finnish Review of Eastern European Studies, Bd. 6, 1999, Nr. 3-4, S. 16-28; hier S. 20; s. auch Mikko Legerspetz: Postsocialism as a Return. Notes on Discursive Strategy. In: East European Politics and Societies, Bd. 13, 1999, Nr. 2, S. 377-390
xxxv Milan Kundera: Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins. Aus dem Tschechischen von Susanna Roth. Frankfurt 1987, S. 100
xxxvi Katja Silvermann erläutert, dass die „Verachtung“, die das normative Subjekt gegenüber körperlichen Faktoren, die sich von den eigenen unterscheiden, empfindet, nicht im Widerspruch zum sexuellen Begehren steht, sondern es eher hervorruft.
xxxvii Assmann verwendet den Begriff passives „Mich-Gedächtnis“ oder „Mich-Erinnerungen“ und stellt ihn dem „Ich-Gedächtnis“ oder den „Ich-Erinnerungen“ als bewusste und intentionale Rekonstruktion der Vergangenheit gegenüber. Aleida Assmann: Einführung in die Kulturwissenschaft. Grundbegriffe, Themen, Fragestellungen. Berlin 2016 (Grundlagen der Anglistik und Amerikanistik; Bd. 27, 4. Auflage), S. 183-184. Bei Proust, dessen Auf der Suche nach der verlorenen Zeit zum Modell für die mémoire involontaire wurde, beziehen sich diese Erinnerungen auf eigene Erfahrungen, während sie in Im Grenzland, wie ich zeigen werden, eine kulturelle Dimension haben.
xxxviii Assmann 2016, S. 186-187
xxxix Ich verwende den Begriff kulturelles Gedächtnis in Anlehnung an Marianne Hirsch, die herausstellt, dass das Gedächtnis kulturell sei, wenn „die Darstellung der Kindheit eines einzelnen Mädchens aus der eigenen Erfahrung heraus die Geschichte, in die es hineingeboren wurde, die Figuren, die sein öffentliches Leben bevölkern, und vielleicht auch das Leben in seiner Fantasie umfasst.“ (Marianne Hirsch: Projected Memory. Holocaust Photographs in Personal and Public Fantasy. In: Mieke Bal, Jonathan Crewe, Leo Spitzer (Hg.): Acts of Memory. Cultural Recall in the Present. Hanover, London 1999, S. 3-25, hier S. 7). Zitat übersetzt von A. H. Czinczoll
xl An diesem Punkt weicht meine Auslegung von der wegweisenden Interpretation der Darstellung estnischer Identität in Im Grenzland durch Maire Jaanus ab. Für Jaanus gehört das Heraufbeschwören estnischer Geografie, Sprache und des estnischen kulturellen Gedächtnisses der monumentalen, nicht der geschichtlichen Zeit an. Jaanus, Maire: Estonia’s Time and Monumental Time. In: Violeta Kelertas (Hg.): Baltic Postcolonialism. Amsterdam, New York 2006, S. 203-232, hier S. 215
xli Homi K. Bhabha: The Third Space. Interview mit Homi K. Bhabha. In: Jonathan Rutherford (Hg.): Identity, Community, Culture, Difference. London 1991, S. 207-221, hier S. 211
xlii Foucault 2019, S. 65
xliii Butler 2007, S. 56/57